Leben am Grund einer Hölle. Jeder Augenblick in ihr ein Wunder

Der Verleger Thomas Knoefel über den rumänisch-französischen Philosophen Emil Cioran (1911-1995) und dessen lebenslange Anstrengung, zu scheitern

In diesem Jahr wäre der Philosoph Emil Cioran 90 Jahre alt geworden; er starb 1995 in Paris. Eine ungewöhnliche Philosophie-CD ist diesem Aphoristiker und Essayisten, einem Suhrkamp-Autor, gewidmet: Originaltonaufnahmen von Cioran, von 1974-1990. ND sprach mit Herausgeber Thomas Knoefel, Augsburg. Knoefel, Jg. 1958, studierte Medizin; Arbeit als Arzt, freier Autor und Verleger.

ND: 1911 in Siebenbürgen als Sohn eines griechisch-orthodoxen Priesters geboren, lebte Emil Cioran ab 1937 bewusst einsam in Paris. Jenseits aller intellektuellen und weltanschaulichen Lager hat er in seinen bitter-spöttischen Aphorismen die Position eines radikalen Skeptikers bezogen. Wer ist das für Sie - dieser Mann des unerbittlichen Dagegenseins, vor allem dort, wo der so genannte gesunde Menschenverstand und die Vernunft ihre geistige Allmacht versuchen?

Ja ... wie stellt man jemanden vor, der sich selbst einen "Affen" vom Balkan nannte, einen modernen Bogumilen und Nachfahren der Katharer, einer, der ganz im schwarz-gnostischen Sinne gegen alles steht, was man »Welt« nennt. Einer der - wenn er nur glauben könnte! - glaubt, dass der Schöpfer sich mit dem Produkt seiner Schöpfung auf ewig diskreditiert hat. Dass nicht "Gott", vielmehr die Machenschaften eines Demiurgen, einer Karikatur Gottes, für diese Blamage verantwortlich sind. Peter Sloterdijk schreibt, Cioran sei »ein Theologe der reaktiven Wut, der dem Schöpfergott sein Scheitern und der geschaffenen Welt ihre Unfähigkeit, ihn zu fesseln, vorrechnet.«

ND: Wieso ist für ihn Bewusstsein, wie er schreibt, eine Strafe?

Eine in der Jugend beginnende Schlaflosigkeit treibt Cioran durch die nächtlichen Straßen von Sibiu (Hermannstadt) und später Nacht für Nacht durch Paris. Diese, seine Insomnie, wird von ihm als Stigmatisierung, aber zugleich höchste Auszeichnung erlebt: Wenn die Welt aufhört, abends unterzugehen und man der Helle eines immer währenden Tages ausgesetzt bleibt, einem »unausgesetzten endlosen Wachen« - ab dieser Tatsache wird man nicht mehr hinter die Erkenntnis zurücktreten können, dass Bewusstsein eine Strafe, also verhängnisvoll sei. »Bewusstsein«, das meint vor allem das Bewusstsein davon, sterben zu müssen!

ND: Er ist leidenschaftlich Lebender - und richtet all seine Gedanken gegen das Leben. Er hat von Anbeginn die Langeweile gespürt, eine Leere - und kann sich von diesem Gefühl nicht befreien ...

»Das Leben«, sagt er in seinem letzten auf rumänisch geführten Gespräch, »ist nur durch Vergessen möglich. Allabendlich Vergessen! Das macht die Illusion möglich ... Wer nach einer durchschlafenen Nacht aufwacht, hat die Illusion, etwas Neues zu beginnen ...«

ND: Illusionen als Elixier des Lebens?

Ja. Wenn dem aber so ist, dann ist deren Mangel ein langsam lähmendes Gift. Und wenn an einem Punkt des Lebens der Verlust aller Hoffnungen und Illusionen schließlich als das Letzte bleibt - was dann? Dann sollte man einfach nur reif genug sein fürs Unglück, dann sollte man so leben können, dass man dem Unglück das Gewicht nimmt, seine Wirklichkeit.

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Einige von Ciorans Antworten auf den Proustschen Fragebogen, 1984:

Was ist für Sie das größte Unglück?
Der Besuch eines langweiligen Philosophen.

Ihre Lieblingstugend?

Illusionslosigkeit.

Wer oder was hätten Sie sein mögen?

Luzifers Adjutant.

Ihr Hauptcharakterzug?
Schwankung.

Was wäre für Sie das größte Unglück?
Das Weltende zu verpassen.

Ihre Lieblingsblume?
Eine fröhliche Brennessel.

Was verabscheuen Sie am meisten?
Optimisten und Pessimisten.

Welche geschichtlichen Gestalten verachten Sie?

Fanatiker.

Welche militärischen Leistungen bewundern Sie?
Die Rückzüge.

Ihre gegenwärtige Geistesverfassung?
Nicht unbedingt mürrisch.

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ND: »Der Mensch«, sagt er in seiner gnadenlosen Ironie, »hätte Tier bleiben müssen mit einem gewissen Zuschlag vielleicht: ein nachdenkliches Tier. Aber wir sind zu weit gegangen, und das kann nur schlecht enden.«

Der Mensch als Irrtum. Dessen Amoklauf durch die Zeit datiert Cioran - das ist sicher so originell nicht - zurück auf den Sündenfall. Jemand wie er will freilich keinen anderen Menschen, keine andere Welt; er will die Welt ganz weg haben - weil jede andere Lösung noch viel zu viel übrig ließe von dem, was in seinen Augen das erste Verbrechen und Übel ist: die Tatsache nämlich, dass nicht Nichts ist, sondern eben Welt, Schöpfung. Er meint, schon das Paradies habe so paradiesisch nicht sein können, »sonst hätte sich der erste Mensch damit abgefunden«.

ND: Die Radikalität solchen Denkens hat natürlich auch seine abstoßende Seite.

Aber ist es nicht einfach nur sehr konsequenter Ausdruck dessen, was doch viele Menschen denken und nicht auszusprechen wagen?! Sich nicht in die Geschäfte der Welt verwickeln lassen! Allzu gerne würde Cioran die Welt aus buddhistischer Perspektive sehen - als ein Spiel, ein substanzloses, und also Fiktion.

ND: Freiwillig verließ er diese Welt nicht!

Bis zuletzt blieb er von Welt besessen, sie ließ ihn nicht los, bis er - dessen Werk wie kaum ein anderes im vergangenen Jahrhundert Fluch und Grabrede in einem ist - im hohen Alter, zum geriatrischen Fall geworden, noch über Jahre vegetierte.

ND: Das Alter als Strafe, weil man vorher keine Konsequenz zog?

Ja. Wenn es eine Strafe gibt, die das Leben verhängt, so Cioran, dann die des Alters, des langsamen »Abdankens« der Organe. Das Alt-Werden gehört für ihn zum Scheitern. Und wie kaum einer vor ihm macht er aus dem Scheitern einen Wettbewerb, eine philosophische Disziplin. Von Cioran lernen wir, dass es zum erfolgreichen Scheitern einer lebenslangen Anstrengung, der Askese bedarf ...

ND: Der Anstrengung, ein Werk zu hinterlassen?

Dass Cioran ein Werk hinterlässt, »am Rand der Literatur«, dass er die Liebe zur Sprache nicht überwindet - ja, das rechnet er ebenso seinem Scheitern zu. Er hat nicht die nötige Gelassenheit gegenüber der Welt gefunden, sondern hat sich mit ihr auseinander gesetzt. So wie er andererseits den raté, den »Unerfüllten«, als den vollendeten Menschen feiert: Einer, der sein Talent ruhen lässt, der seinen Begabungen erfolgreich widersteht, der alles bei sich behält, in der ungebrochenen, unkorrigierbaren Überzeugung, dass die Vergeblichkeit von allem über alles andere triumphiert.

ND: Die Welt wäre dröge und arm, wenn jeder sein Talent brach liegen lassen und das Schöne, das möglicherweise auch anderen Freude bereitet, ungetan ließe.

Hans-Jürgen Heinrichs schreibt im Begleitbuch unserer CD, Ciorans Diktum, dass alles maßlos scheitere, habe für sein Leben inzwischen keine Relevanz mehr, aber was bleibt, »ist ein großes Gefühl intellektueller Bedeutsamkeit, und dass da jemand eine andere Denk- und Lebensform von Grund auf erfahren, gedacht und durchdrungen hat«, und er ist »überwältigt von der Schönheit und Poesie, die auf dem Boden der (inszenierten?) Verzweiflung entstehen«.

ND: Cioran und die Paradoxien: Er weiß nur ein einziges Mittel zum Leben, zum Über-Leben: Das ist der tägliche Aufschub des Selbstmordes.

Und zu diesem Aufschub gehört auch das Schreiben. Die Idee des Selbstmordes ist die einzige, die ihm erlaubt zu leben. Denn wer die Idee des Selbstmordes kultiviert, muss sich nicht töten, weil er immer um einen Ausweg weiß, eine Öffnung: die zum Tode hin. Er weiß um die Möglichkeit der größten Befreiung. Aber auch dann, wenn mans täte: Man tötet sich immer zu spät. Cioran formuliert - ähnlich wie Fernando Pessoa - nicht einfach nur den Wunsch, nicht mehr zu sein, als vielmehr den Wunsch, niemals gewesen zu sein.

ND: Gelinde gesagt: etwas zu spät für jemanden, der lebt!

Nun, wenn das Leben nicht lohnt und nichts wert ist, dann ist der Tod ebenso wenig der Mühe wert, sich umzubringen. Die Kunst für Cioran besteht eben darin, den Ekel vor dem Tod und den Ekel vor dem Leben im Gleichgewicht zu halten. »...die Obsession des Selbstmordes ist charakteristisch für den, der weder leben noch sterben kann und dessen Aufmerksamkeit sich niemals von dieser doppelten Unmöglichkeit entfernt«.

ND: Ciorans Freund Beckett hat die Welt noch betrauert, Cioran verachtet sie nur noch. Aber beide sind keine Zyniker, sondern, so paradox es wieder klingen mag, Philosophen der Heiterkeit, der Bejahung: Denn wer sich die Mühe macht, über die verhasste Welt auch nur ein Wort zu verlieren, überwindet mit diesem Akt schon alle Gleichgültigkeit. Die Verachtung entlässt eine Sehnsucht, während der Zynismus jede Sehnsucht begräbt. »s Schlimmste ist noch nicht/ Erreicht, so lange man sagen kann: /Das ist das Schlimmste« - der verstoßene Edgar im »König Lear»«. Anders gesagt: Ein absoluter Satz über die absolute Verzweiflung wird in dem Augenblick unwahr, in dem er ausgesprochen wird. Wahre Verzweiflung, so Paul Eluard, hat »keine Flügel« und keinen Ausdruck, sondern nur ihre Stummheit.

Was bei Cioran wie ein durch und durch morbider Abgesang auf das Leben klingen mag, inklusive der Verweigerung aller Tröstungen, das ist nicht ohne spezifische Heiterkeit: Er will sich nicht herablassen, die Welt der Erscheinungen allzu ernst zu nehmen - und wenn etwas über Leben und Tod zu triumphieren vermag, dann ist es allein das Lachen - ein Lachen, das über die Gräber geht! Cioran lehrt uns, neben dem Lachen, die Lektion aller Lektionen: Man soll seine Lage nicht verbessern wollen - soll sich mit dem begnügen, was ist, ohne auf das zu hoffen, was möglich wäre. Oder um mit Kierkegaard zu sprechen: Man bleibe bei seiner eigenen Banalität, seiner Kontingenz und Vergänglichkeit!

ND: Eine sehr anzweifelbare Position für Menschen, die Weltveränderung für möglich und für nötig halten. Andererseits stimmt es schon: Gerade diese Hoffnung der Weltveränderung ist bislang immer auch nahe an jenem Schrecken gewesen, der die Geschichte durchzieht. Unser Leben besteht eben hauptsächlich aus Banalem, Unveränderlichem - in dem wir oft nicht die Chance erkennen, Begrenztheit als speziellen, anmaßungsfreien Spielraum zu begreifen.

Ja: Man verzichte auf die Hoffnung eines besseren oder gesteigerten Lebens, auf das »ganz andere« - und wird eben dadurch zum Souverän seines Lebens.

ND: Was also nicht Selbstaufgabe bedeutet, Fügung in die Sklaverei, Willfährigkeit - es ist bewusster Kampf gegen das, was man oft nicht akzeptieren will und daher verdrängt.

Ciorans Schriften sind Reiseführer durch ausweglose Lagen, Landkarten für chronisch Desillusionierte, die in der Welt sich nicht länger zu Hause wissen. Seine vom Blick des untröstlichen Menschen aus gezündeten Aphorismen sind kleine Feuerwerke der Selbstaufhellung und Klarsicht. Sie leuchten uns, die wir immer ohne Wahl bleiben: zu schlafen - oder unterzugehen, wach und mit offenen Augen ... Im letzten Aphorismus seines Buches »Die verfehlte Schöpfung« schreibt Cioran: »Wir sind am Grund einer Hölle, von der jeder Augenblick ein Wunder ist.«

Gespräch: Hans-Dieter Schütt

CD E.M. Cioran. »Cafard«, Originaltonaufnahmen 1974-1990, hrsg. von Thomas Knoefel und Klaus Sander, mit einem Booklet-Nachwort von Peter Sloterdijk. CD und Begleitbuch im Schuber. Dieses 94-seitige Begleitbuch enthält außerdem Texte von Cioran sowie ein Porträt und ein Interview von Hans-Jürgen Heinrichs. Ersch. bei supposé Köln, ISBN 3-932513-00-2, Tel. 0221-660 79 06. 68 DM.

ND: 1911 in Siebenbürgen als Sohn eines griechisch-orthodoxen Priesters geboren, lebte Emil Cioran ab 1937 bewusst einsam in Paris. Jenseits aller intellektuellen und weltanschaulichen Lager hat er in seinen bitter-spöttischen Aphorismen die Position eines radikalen Skeptikers bezogen. Wer ist das für Sie - dieser Mann des unerbittlichen Dagegenseins, vor allem dort, wo der so genannte gesunde Menschenverstand und die Vernunft ihre geistige Allmacht versuchen?

Ja ... wie stellt man jemanden vor, der sich selbst einen "Affen" vom Balkan nannte, einen modernen Bogumilen und Nachfahren der Katharer, einer, der ganz im schwarz-gnostischen Sinne gegen alles steht, was man »Welt« nennt. Einer der - wenn er nur glauben könnte! - glaubt, dass der Schöpfer sich mit dem Produkt seiner Schöpfung auf ewig diskreditiert hat. Dass nicht "Gott", vielmehr die Machenschaften eines Demiurgen, einer Karikatur Gottes, für diese Blamage verantwortlich sind. Peter Sloterdijk schreibt, Cioran sei »ein Theologe der reaktiven Wut, der dem Schöpfergott sein Scheitern und der geschaffenen Welt ihre Unfähigkeit, ihn zu fesseln, vorrechnet.«

ND: Wieso ist für ihn Bewusstsein, wie er schreibt, eine Strafe?

Eine in der Jugend beginnende Schlaflosigkeit treibt Cioran durch die nächtlichen Straßen von Sibiu (Hermannstadt) und später Nacht für Nacht durch Paris. Diese, seine Insomnie, wird von ihm als Stigmatisierung, aber zugleich höchste Auszeichnung erlebt: Wenn die Welt aufhört, abends unterzugehen und man der Helle eines immer währenden Tages ausgesetzt bleibt, einem »unausgesetzten endlosen Wachen« - ab dieser Tatsache wird man nicht mehr hinter die Erkenntnis zurücktreten können, dass Bewusstsein eine Strafe, also verhängnisvoll sei. »Bewusstsein«, das meint vor allem das Bewusstsein davon, sterben zu müssen!

ND: Er ist leidenschaftlich Lebender - und richtet all seine Gedanken gegen das Leben. Er hat von Anbeginn die Langeweile gespürt, eine Leere - und kann sich von diesem Gefühl nicht befreien ...

»Das Leben«, sagt er in seinem letzten auf rumänisch geführten Gespräch, »ist nur durch Vergessen möglich. Allabendlich Vergessen! Das macht die Illusion möglich ... Wer nach einer durchschlafenen Nacht aufwacht, hat die Illusion, etwas Neues zu beginnen ...«

ND: Illusionen als Elixier des Lebens?

Ja. Wenn dem aber so ist, dann ist deren Mangel ein langsam lähmendes Gift. Und wenn an einem Punkt des Lebens der Verlust aller Hoffnungen und Illusionen schließlich als das Letzte bleibt - was dann? Dann sollte man einfach nur reif genug sein fürs Unglück, dann sollte man so leben können, dass man dem Unglück das Gewicht nimmt, seine Wirklichkeit.

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Einige von Ciorans Antworten auf den Proustschen Fragebogen, 1984:

Was ist für Sie das größte Unglück?
Der Besuch eines langweiligen Philosophen.

Ihre Lieblingstugend?

Illusionslosigkeit.

Wer oder was hätten Sie sein mögen?

Luzifers Adjutant.

Ihr Hauptcharakterzug?
Schwankung.

Was wäre für Sie das größte Unglück?
Das Weltende zu verpassen.

Ihre Lieblingsblume?
Eine fröhliche Brennessel.

Was verabscheuen Sie am meisten?
Optimisten und Pessimisten.

Welche geschichtlichen Gestalten verachten Sie?

Fanatiker.

Welche militärischen Leistungen bewundern Sie?
Die Rückzüge.

Ihre gegenwärtige Geistesverfassung?
Nicht unbedingt mürrisch.

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ND: »Der Mensch«, sagt er in seiner gnadenlosen Ironie, »hätte Tier bleiben müssen mit einem gewissen Zuschlag vielleicht: ein nachdenkliches Tier. Aber wir sind zu weit gegangen, und das kann nur schlecht enden.«

Der Mensch als Irrtum. Dessen Amoklauf durch die Zeit datiert Cioran - das ist sicher so originell nicht - zurück auf den Sündenfall. Jemand wie er will freilich keinen anderen Menschen, keine andere Welt; er will die Welt ganz weg haben - weil jede andere Lösung noch viel zu viel übrig ließe von dem, was in seinen Augen das erste Verbrechen und Übel ist: die Tatsache nämlich, dass nicht Nichts ist, sondern eben Welt, Schöpfung. Er meint, schon das Paradies habe so paradiesisch nicht sein können, »sonst hätte sich der erste Mensch damit abgefunden«.

ND: Die Radikalität solchen Denkens hat natürlich auch seine abstoßende Seite.

Aber ist es nicht einfach nur sehr konsequenter Ausdruck dessen, was doch viele Menschen denken und nicht auszusprechen wagen?! Sich nicht in die Geschäfte der Welt verwickeln lassen! Allzu gerne würde Cioran die Welt aus buddhistischer Perspektive sehen - als ein Spiel, ein substanzloses, und also Fiktion.

ND: Freiwillig verließ er diese Welt nicht!

Bis zuletzt blieb er von Welt besessen, sie ließ ihn nicht los, bis er - dessen Werk wie kaum ein anderes im vergangenen Jahrhundert Fluch und Grabrede in einem ist - im hohen Alter, zum geriatrischen Fall geworden, noch über Jahre vegetierte.

ND: Das Alter als Strafe, weil man vorher keine Konsequenz zog?

Ja. Wenn es eine Strafe gibt, die das Leben verhängt, so Cioran, dann die des Alters, des langsamen »Abdankens« der Organe. Das Alt-Werden gehört für ihn zum Scheitern. Und wie kaum einer vor ihm macht er aus dem Scheitern einen Wettbewerb, eine philosophische Disziplin. Von Cioran lernen wir, dass es zum erfolgreichen Scheitern einer lebenslangen Anstrengung, der Askese bedarf ...

ND: Der Anstrengung, ein Werk zu hinterlassen?

Dass Cioran ein Werk hinterlässt, »am Rand der Literatur«, dass er die Liebe zur Sprache nicht überwindet - ja, das rechnet er ebenso seinem Scheitern zu. Er hat nicht die nötige Gelassenheit gegenüber der Welt gefunden, sondern hat sich mit ihr auseinander gesetzt. So wie er andererseits den raté, den »Unerfüllten«, als den vollendeten Menschen feiert: Einer, der sein Talent ruhen lässt, der seinen Begabungen erfolgreich widersteht, der alles bei sich behält, in der ungebrochenen, unkorrigierbaren Überzeugung, dass die Vergeblichkeit von allem über alles andere triumphiert.

ND: Die Welt wäre dröge und arm, wenn jeder sein Talent brach liegen lassen und das Schöne, das möglicherweise auch anderen Freude bereitet, ungetan ließe.

Hans-Jürgen Heinrichs schreibt im Begleitbuch unserer CD, Ciorans Diktum, dass alles maßlos scheitere, habe für sein Leben inzwischen keine Relevanz mehr, aber was bleibt, »ist ein großes Gefühl intellektueller Bedeutsamkeit, und dass da jemand eine andere Denk- und Lebensform von Grund auf erfahren, gedacht und durchdrungen hat«, und er ist »überwältigt von der Schönheit und Poesie, die auf dem Boden der (inszenierten?) Verzweiflung entstehen«.

ND: Cioran und die Paradoxien: Er weiß nur ein einziges Mittel zum Leben, zum Über-Leben: Das ist der tägliche Aufschub des Selbstmordes.

Und zu diesem Aufschub gehört auch das Schreiben. Die Idee des Selbstmordes ist die einzige, die ihm erlaubt zu leben. Denn wer die Idee des Selbstmordes kultiviert, muss sich nicht töten, weil er immer um einen Ausweg weiß, eine Öffnung: die zum Tode hin. Er weiß um die Möglichkeit der größten Befreiung. Aber auch dann, wenn mans täte: Man tötet sich immer zu spät. Cioran formuliert - ähnlich wie Fernando Pessoa - nicht einfach nur den Wunsch, nicht mehr zu sein, als vielmehr den Wunsch, niemals gewesen zu sein.

ND: Gelinde gesagt: etwas zu spät für jemanden, der lebt!

Nun, wenn das Leben nicht lohnt und nichts wert ist, dann ist der Tod ebenso wenig der Mühe wert, sich umzubringen. Die Kunst für Cioran besteht eben darin, den Ekel vor dem Tod und den Ekel vor dem Leben im Gleichgewicht zu halten. »...die Obsession des Selbstmordes ist charakteristisch für den, der weder leben noch sterben kann und dessen Aufmerksamkeit sich niemals von dieser doppelten Unmöglichkeit entfernt«.

ND: Ciorans Freund Beckett hat die Welt noch betrauert, Cioran verachtet sie nur noch. Aber beide sind keine Zyniker, sondern, so paradox es wieder klingen mag, Philosophen der Heiterkeit, der Bejahung: Denn wer sich die Mühe macht, über die verhasste Welt auch nur ein Wort zu verlieren, überwindet mit diesem Akt schon alle Gleichgültigkeit. Die Verachtung entlässt eine Sehnsucht, während der Zynismus jede Sehnsucht begräbt. »s Schlimmste ist noch nicht/ Erreicht, so lange man sagen kann: /Das ist das Schlimmste« - der verstoßene Edgar im »König Lear»«. Anders gesagt: Ein absoluter Satz über die absolute Verzweiflung wird in dem Augenblick unwahr, in dem er ausgesprochen wird. Wahre Verzweiflung, so Paul Eluard, hat »keine Flügel« und keinen Ausdruck, sondern nur ihre Stummheit.

Was bei Cioran wie ein durch und durch morbider Abgesang auf das Leben klingen mag, inklusive der Verweigerung aller Tröstungen, das ist nicht ohne spezifische Heiterkeit: Er will sich nicht herablassen, die Welt der Erscheinungen allzu ernst zu nehmen - und wenn etwas über Leben und Tod zu triumphieren vermag, dann ist es allein das Lachen - ein Lachen, das über die Gräber geht! Cioran lehrt uns, neben dem Lachen, die Lektion aller Lektionen: Man soll seine Lage nicht verbessern wollen - soll sich mit dem begnügen, was ist, ohne auf das zu hoffen, was möglich wäre. Oder um mit Kierkegaard zu sprechen: Man bleibe bei seiner eigenen Banalität, seiner Kontingenz und Vergänglichkeit!

ND: Eine sehr anzweifelbare Position für Menschen, die Weltveränderung für möglich und für nötig halten. Andererseits stimmt es schon: Gerade diese Hoffnung der Weltveränderung ist bislang immer auch nahe an jenem Schrecken gewesen, der die Geschichte durchzieht. Unser Leben besteht eben hauptsächlich aus Banalem, Unveränderlichem - in dem wir oft nicht die Chance erkennen, Begrenztheit als speziellen, anmaßungsfreien Spielraum zu begreifen.

Ja: Man verzichte auf die Hoffnung eines besseren oder gesteigerten Lebens, auf das »ganz andere« - und wird eben dadurch zum Souverän seines Lebens.

ND: Was also nicht Selbstaufgabe bedeutet, Fügung in die Sklaverei, Willfährigkeit - es ist bewusster Kampf gegen das, was man oft nicht akzeptieren will und daher verdrängt.

Ciorans Schriften sind Reiseführer durch ausweglose Lagen, Landkarten für chronisch Desillusionierte, die in der Welt sich nicht länger zu Hause wissen. Seine vom Blick des untröstlichen Menschen aus gezündeten Aphorismen sind kleine Feuerwerke der Selbstaufhellung und Klarsicht. Sie leuchten uns, die wir immer ohne Wahl bleiben: zu schlafen - oder unterzugehen, wach und mit offenen Augen ... Im letzten Aphorismus seines Buches »Die verfehlte Schöpfung« schreibt Cioran: »Wir sind am Grund einer Hölle, von der jeder Augenblick ein Wunder ist.«

Gespräch: Hans-Dieter Schütt

CD E.M. Cioran. »Cafard«, Originaltonaufnahmen 1974-1990, hrsg. von Thomas Knoefel und Klaus Sander, mit einem Booklet-Nachwort von Peter Sloterdijk. CD und Begleitbuch im Schuber. Dieses 94-seitige Begleitbuch enthält außerdem Texte von Cioran sowie ein Porträt und ein Interview von Hans-Jürgen Heinrichs. Ersch. bei supposé Köln, ISBN 3-932513-00-2, Tel. 0221-660 79 06. 68 DM.


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