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Der Westen tut NICHTS
Berlin-Krise, Mauerbau und die Westmächte
Am Abend des 11. August 1961, Freitag, fanden sich hochrangige Stasi-Offiziere bei ihrem Chef Erich Mielke zum Befehlsempfang ein. Hauptaufgabe sei, so Mielke, »größte Wachsamkeit üben, höchste Einsatzbereitschaft herstellen und alle negativen Erscheinungen verhindern... Alle vorbereitenden Arbeiten sind unter Wahrung der Konspiration und unter strengster Geheimhaltung durchzuführen. Die gesamte Aktion erhält die Bezeichnung "Rose"«. In der darauffolgenden Nacht riegelten SED-»Kampfgruppen der Arbeiterklasse«, Volkspolizei und Einheiten der Nationalen Volksarmee die Sektorengrenze zwischen Ost- und Westberlin ab.
Begonnen hatte alles am 10. November 1958, als Chrustschow in einer Rede im Moskauer Sportpalast die Aufkündigung des Potsdamer Abkommens ankündigte. Er empfahl den Westmächten, ihre Beziehungen zur DDR selbst zu regeln und mit ihr ein Übereinkommen zu treffen, falls sie an irgendwelchen Berlin betreffenden Fragen interessiert seien. Die neue Berlin-Krise war da, auch wenn Adenauer meinte, Chrustschow sei wohl »etwas betrunken« gewesen. Er war es nicht. Aus Moskau warnte US-Botschafter Thompson: »Chrustschow hat es eilig und glaubt, dass die Zeit gegen ihn arbeitet, insbesondere was die atomare Bewaffnung der Bundesrepublik betrifft. Ich glaube daher, dass sich die Westmächte auf eine entscheidende Auseinandersetzung ("major showdown") in den kommenden Monaten vorbereiten sollten.«
Neue Dokumente zeigen, dass vieles anders war, als wir bisher angenommen haben. So bekamen damals die Briten als erste weiche Knie, und das blieb so bis zum Ende der Krise 1963. Außenminister Selwyn Lloyd hielt Verhandlungen mit den DDR-Behörden auf Basis einer de facto-Anerkennung für eine »vernünftige Sache«, wobei er noch hinzufügte: »Ich hätte nicht viel dagegen, wenn am Ende dieser Verhandlungen die Anerkennung der DDR-Regierung stünde.« Bundeskanzler Adenauer dürfe allerdings nicht den Verdacht haben, dass »wir dabei sind, ihn zu verraten«. Durch eine ungeschickte Regie wurde das Dokument in Bonn bekannt. Bei einer Routinebesprechung des Außenministers Brentano mit den drei westlichen Botschaftern übergab der britische Botschafter eine Kopie. Brentano war »sichtlich angewidert« und informierte sofort Adenauer, der noch am selben Tag Briefe an US-Außenminister Dulles, Premier Macmillan und Frankreichs Regierungschef de Gaulle schrieb, worin er die Einheit und Stärke der freien Welt beschwor.
Inzwischen hatte die sowjetische Regierung den drei Westmächten am 27. November 1958 eine gleich lautende Note überreicht. Darin wurde die Umwandlung West-Berlins in eine »selbständige politische Einheit« - gefordert, und das innerhalb der nächsten sechs Monate. Ansonsten würde die Sowjetunion einseitig handeln und alle Kompetenzen der DDR übertragen. Außenminister Dulles und Präsident Eisenhower waren nicht bereit, der Erpressung nachzugeben. Unterstützt wurden sie dabei von ihren Militärs. Sollte die Zufahrt nach Berlin gesperrt werden, könne man sie nicht mit konventionellen Kräften freikämpfen. Es gehe nur noch darum zu entscheiden, so Eisenhower, »ob wir Moskau bombardieren«. Nach Meinung der Stabschefs müsste man entschlossen und bereit sein, »falls alles andere scheitert, einen Atomkrieg gegen die Sowjetunion zu führen«.
Als am 27. Mai das sowjetische Ultimatum ablief, kam es nicht zum Showdown. In Genf lief die Außenministerkonferenz zwar erfolglos, aber immerhin erreichte Chrustschow eine Einladung in die USA. Man einigte sich auf eine Gipfelkonferenz im Mai 1960 in Paris, die Chrustschow dann scheitern ließ. Anlass war der Abschuss eines amerikanischen U2-Spionageflugzeuges. Der Grund aber war offensichtlich die Erkenntnis der Sowjets, dass sie in der Berlinfrage angesichts der entschlossenen Haltung vor allem der USA, aber auch Frankreichs, nicht das erreichen würden, was sie sich wohl erhofft hatten. Chrustschow setzte jetzt auf Eisenhowers Nachfolger.
Mit John F. Kennedy wurde - fast - alles anders. Ihm ging es nicht mehr um Deutschland oder Berlin insgesamt, sondern nur noch um den Westteil der Stadt. Er war schon bald ganz auf der Linie der Briten, suchte Kompromisse und war bereit, bisherige Grundsatzpositionen aufzugeben. Dies wurde auch in öffentlichen Kommuniqués erkennbar. Interessant und vielsagend war die Formulierung im Schlusskommuniqué des Adenauer-Besuches in Washington im April 1961. Demnach war das Versprechen erneuert worden, »die Freiheit der Bevölkerung von West-Berlin zu erhalten, bis Deutschland in Frieden und Freiheit wieder vereinigt« sei. Von Bonner Seite kein Protest.
Der neue US-Außenminister Dean Rusk meinte im April 1961 gegenüber seinem britischen Kollegen Lord Home, er habe »bis heute nicht verstanden, warum man sich über einen separaten Friedensvertrag (mit der DDR) so aufregt«. Für Kennedy wurde das Treffen mit Chrustschow in Wien am 3. und 4. Juni zu einem Schlüsselerlebnis. Chrustschow gab sich brutal. Im Urteil seiner Berater wurden Kennedys Hoffnungen »zerstört«, er war »sprachlos«, »verunsichert«. Kennedy verfluchte den Sowjetführer: »Er hat mich wie einen kleinen Jungen behandelt.«
Die Briten wollten verhandeln. Premier Macmillan erwartete vom US-Präsidenten wenig, vor allem nicht die Initiative zu Verhandlungen, um die Krise zu entschärfen. Am 24. Juni schrieb er an seinen Außenminister, der zu Gesprächen in Washington war: »Es kann gut sein, dass etwa im September, wenn die Vorstellung vom starken Mann im Weißen Haus endgültig geplatzt ist und die Welt auf den Krieg zusteuert, Sie und ich die Initiative übernehmen können.« Und seinem Tagebuch vertraute er an: »Ich habe das bestimmte Gefühl, dass Präsident Kennedy keine wirklichen Führungsqualitäten besitzt. Die amerikanische Presse und Öffentlichkeit sehen das allmählich auch so. In ein paar Wochen werden sie sich an uns wenden. Wir müssen darauf vorbereitet sein. Andernfalls kann Berlin zu einem Desaster werden - zu einer furchtbaren diplomatischen Niederlage oder (aus reiner Inkompetenz) zum Atomkrieg.«
Frustriert war Dean Acheson, ehemals Außenminister unter Präsident Truman. Kennedy hatte ihn als eine Art Sonderberater »reaktiviert«. Der Elder Statesman galt nach wie vor als Hardliner des Kalten Krieges. Am 28. Juni legte er einen Berlin-Bericht vor, der an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Acheson, für den Chrustschow ein »falscher Hund und ein Kriegstreiber« war, ging von der Prämisse aus, dass es nicht nur um Berlin ging, sondern um die entscheidende Machtprobe zwischen den USA und der UdSSR, von deren Ausgang das weltweite Vertrauen in die USA als Weltmacht abhing. Auf 35 Seiten listete er auf, was militärisch, wirtschaftlich und politisch zu tun sei, u.a. Vorbereitung der See-, Luft- und Landstreitkräfte auf einen Einsatz in Europa und Vorbereitung auf einen Atomkrieg. Erst wenn Chrustschow von der Entschlossenheit des Westens überzeugt wäre, seien Verhandlungen sinnvoll.
Wäre es am 13. August anders gekommen, als es dann kam, wäre es möglicherweise zum (Atom)Krieg gekommen und die Deutschen mittendrin. Jedenfalls forderten die Amerikaner Verteidigungsminister Franz Josef Strauß bei dessen Besuch im Pentagon am 14. Juli auf, schon mal einen sowjetischen Truppenübungsplatz in der DDR zu nennen, der als Zielpunkt für einen Atombombenabwurf geeignet wäre. Auf Basis des Acheson-Memorandums wurde in Washington jener Kompromiss ausgearbeitet, den Kennedy in seiner Fernsehansprache an die amerikanische Nation am 25. Juli verkündete. Da war auch die Rede von den drei »essentials« für West-Berlin: Recht auf Präsenz der Westmächte, Recht auf Zugang, Sicherung der Freiheit der Bewohner. Fünf Tage später meinte Senator William Fulbright, Vorsitzender des Außenpolitischen Ausschusses des US-Senats: »Ich verstehe nicht, warum die Ostdeutschen nicht ihre Grenze schließen, denn ich glaube, dass sie ein Recht haben, sie zu schließen.« Sie taten es am 13. August.
Hat Kennedy etwas vom Mauerbau gewußt? Eine alte Frage, die immer noch nicht klar beantwortet werden kann - und dies trotz einer ungeheuren Fülle von inzwischen freigegebenen Akten. In keinem der offiziellen westlichen Dokumente, die ich gesehen habe, kommt das Wort »Mauer« vor, wohl aber »Absperrung der Sektorengrenze«. Davon hatte die CIA bereits am 1. November 1957 gesprochen, der US-Botschafter in Moskau im März 1961, das State Department expressis verbis am 22. Juli 1961 und der britische Botschafter in Bonn, Steel, Anfang August. Von Überraschung konnte keine Rede sein. Ein Blick in die Akten zeigt auch, wie wenig realistisch westdeutsche Hoffnungen auf eine scharfe amerikanische Reaktion waren. Da wollte niemand die Stacheldrahtverhaue niederreißen. Washington wollte jetzt mit den Sowjets verhandeln.
Der Kontakt sollte von Botschafter George F. Kennan in Belgrad geknüpft werden. Bereits am 14. August erteilte Rusk in einem top secret-Telegramm dem Ambassador die entsprechenden Instruktionen. Kennan sollte vor allen Dingen darauf achten, dass die Alliierten, »insbesondere die Deutschen«, von diesen Gesprächen nichts erfahren würden. Für Rusk war durch den Mauerbau eine Lösung der Berlin-Krise »eher leichter« geworden; Kennedys Sicherheitsberater sprach gar von einer »Episode«. Auch die Briten waren nicht überrascht. Man wunderte sich eigentlich nur darüber, dass die DDR nicht schon viel früher die Sektorengrenzen abgeriegelt hatte. Als es geschah, wies der britische Botschafter in Moskau, Frank Roberts, gegenüber dem Foreign Office auf die Tatsache hin, dass »die Russen bei ihren Maßnahmen, den Flüchtlingsstrom zu stoppen, vorsichtig gewesen sind; sie haben diese Maßnahmen auf ihrer Seite des Eisernen Vorhanges durchgeführt und bis jetzt nichts getan, was die Freiheit West-Berlins und die Rechte der Alliierten dort beeinträchtigt«.
In West-Berlin und in der Bundesrepublik kam es allerdings angesichts der Untätigkeit des Westens zu einer Vertrauenskrise. Die »Bild«-Zeitung brachte es am 16. August mit einer stacheldrahtumrankten Titelseite in dicken Lettern auf den Punkt: »Der Westen tut NICHTS!« Die Warnungen der Amerikaner in Berlin und Bonn vor weiterer Untätigkeit führten dann zu einer graduellen Änderung der amerikanischen Politik - wenn auch nur im Atmosphärischen. Dazu gehörte die Entscheidung Kennedys, die US-Garnison in Berlin um eine Kampftruppe von 1500-1800 Mann zu verstärken sowie Vizepräsident Lyndon B. Johnson auf Kurzbesuch, und den »Helden« der Luftbrücke von 1948/49, General Lucius D. Clay, nach Berlin zu schicken. Macmillan hatte seinen Urlaub ungerührt fortgesetzt. Was er von der Absperrung hielt, wurde deutlich, als er beim Golfspielen in Gleneagles am 18. Loch die Beherrschung verlor und meinte, die ganze Krise sei von der Presse hochgespielt worden. Die amerikanischen Aktivitäten betrachtete er mit größter Skepsis - vor allem die Entsendung der Kampftruppe. Für ihn war das »militärischer Nonsens«. Er lehnte auch die Bitte Kennedys nach Verlegung britischer Soldaten nach Berlin ab und gab den Rat, der Westen solle vorsichtig reagieren, denn »wir wollen doch nicht die Schuld von den Russen und Ostdeutschen weg auf uns verlagern mit der Begründung, dass wir uns bei der Lösung des Problems vollkommen negativ verhalten«.
Die Westdeutschen, so Dean Rusk noch vor dem Mauerbau zu seinem britischen Kollegen, »werden viele Dinge schlucken müssen, die sie bis jetzt für unmöglich gehalten haben«; die Amerikaner würden die Deutschen härter anfassen, als die Briten bislang geglaubt hätten. »Im Interesse des Ost-West-Friedens« sollte die Bundesregierung im November Angebote machen; es ging »um die Oder-Neiße-Linie als Grenze, um die Anerkennung Pankows, um West-Berlin als freie Stadt«.
Nur einer wollte damals die Mauer niederreißen: General Lucius D. Clay. Aus Washington kam allerdings ein klares Nein, und Macmillan machte deutlich, was er von Clay hielt. Auf einem Telegramm von Steel notierte er, Clay sei immer schon ein »Scheißkerl« gewesen, jetzt sei er »ein verbitterter Scheißkerl« und »eine Gefahr für die Allgemeinheit«.
Bei Adenauer kamen Starrsinn - und die Unterstützung de Gaulles - zusammen, um das, was die Anglo-Amerikaner wollten, zu verhindern bzw. zu verzögern. Das führte wieder bei jenen zur Frustration. George F. Kennan hielt es für keine gute Sache, von Verbündeten abhängig zu sein, deren Erlaubnis einzuholen, um über Dinge zu sprechen, die für den Weltfrieden von größter Bedeutung seien. Um die sich abzeichnende Entwicklung zu stoppen, provozierte Adenauer im Frühjahr 1962 die schwerste Krise in den deutsch-amerikanischen Beziehungen, die es vor und nach dem Mauerbau gegeben hat. Über geheime amerikanische Überlegungen konnte man plötzlich etwas in deutschen Zeitungen lesen.
Im Herbst 1962 wurden in London und Washington weitere Überlegungen für eine Lösung der Berlinfrage angestellt. Der britische Staatsminister im Foreign Office, Godber, entwickelte den Plan, West-Berlin aufzugeben und die Bevölkerung einfach auszutauschen. Ähnlich auch der stellvertretende US-Verteidigungsminister Paul Nitze. Er legte Kennedy Anfang November ein Papier vor, in dem er Gedanken entwickelte, die »in der Vergangenheit undenkbar« gewesen seien. »Berlin im Lichte von Kuba« war sein Memorandum überschrieben. Auch er schlug die Aufgabe West-Berlins vor; dafür sollte ein erheblicher Teil des DDR-Territoriums in den Besitz der BRD übergehen.
Allmählich wurde erkennbar, dass der Mauerbau Höhepunkt und Ende der eigentlichen Berlin-Krise war. Chrustschow und Kennedy waren für »ihre« Deutschen so weit wie möglich gegangen. Wären sie weiter gegangen, hätte das möglicherweise die Zerstörung der eigenen Städte bedeutet - und das wegen jener Stadt, gegen die man über ein Jahrzehnt zuvor gemeinsam gekämpft hatte. Das war absurd. Kennedy empfand das jedenfalls so und äußerte kurz nach seinem Treffen mit Chrustschow: »Es wirkt doch einfach idiotisch, dass wir wegen eines Vertrages, der Berlin als zukünftige Hauptstadt eines wiedervereinten Deutschland vorsieht, mit der Gefahr eines Atomkrieges konfrontiert sind - wo wir doch alle wissen, dass Deutschland wahrscheinlich nie mehr wiedervereinigt wird!«
Begonnen hatte alles am 10. November 1958, als Chrustschow in einer Rede im Moskauer Sportpalast die Aufkündigung des Potsdamer Abkommens ankündigte. Er empfahl den Westmächten, ihre Beziehungen zur DDR selbst zu regeln und mit ihr ein Übereinkommen zu treffen, falls sie an irgendwelchen Berlin betreffenden Fragen interessiert seien. Die neue Berlin-Krise war da, auch wenn Adenauer meinte, Chrustschow sei wohl »etwas betrunken« gewesen. Er war es nicht. Aus Moskau warnte US-Botschafter Thompson: »Chrustschow hat es eilig und glaubt, dass die Zeit gegen ihn arbeitet, insbesondere was die atomare Bewaffnung der Bundesrepublik betrifft. Ich glaube daher, dass sich die Westmächte auf eine entscheidende Auseinandersetzung ("major showdown") in den kommenden Monaten vorbereiten sollten.«
Neue Dokumente zeigen, dass vieles anders war, als wir bisher angenommen haben. So bekamen damals die Briten als erste weiche Knie, und das blieb so bis zum Ende der Krise 1963. Außenminister Selwyn Lloyd hielt Verhandlungen mit den DDR-Behörden auf Basis einer de facto-Anerkennung für eine »vernünftige Sache«, wobei er noch hinzufügte: »Ich hätte nicht viel dagegen, wenn am Ende dieser Verhandlungen die Anerkennung der DDR-Regierung stünde.« Bundeskanzler Adenauer dürfe allerdings nicht den Verdacht haben, dass »wir dabei sind, ihn zu verraten«. Durch eine ungeschickte Regie wurde das Dokument in Bonn bekannt. Bei einer Routinebesprechung des Außenministers Brentano mit den drei westlichen Botschaftern übergab der britische Botschafter eine Kopie. Brentano war »sichtlich angewidert« und informierte sofort Adenauer, der noch am selben Tag Briefe an US-Außenminister Dulles, Premier Macmillan und Frankreichs Regierungschef de Gaulle schrieb, worin er die Einheit und Stärke der freien Welt beschwor.
Inzwischen hatte die sowjetische Regierung den drei Westmächten am 27. November 1958 eine gleich lautende Note überreicht. Darin wurde die Umwandlung West-Berlins in eine »selbständige politische Einheit« - gefordert, und das innerhalb der nächsten sechs Monate. Ansonsten würde die Sowjetunion einseitig handeln und alle Kompetenzen der DDR übertragen. Außenminister Dulles und Präsident Eisenhower waren nicht bereit, der Erpressung nachzugeben. Unterstützt wurden sie dabei von ihren Militärs. Sollte die Zufahrt nach Berlin gesperrt werden, könne man sie nicht mit konventionellen Kräften freikämpfen. Es gehe nur noch darum zu entscheiden, so Eisenhower, »ob wir Moskau bombardieren«. Nach Meinung der Stabschefs müsste man entschlossen und bereit sein, »falls alles andere scheitert, einen Atomkrieg gegen die Sowjetunion zu führen«.
Als am 27. Mai das sowjetische Ultimatum ablief, kam es nicht zum Showdown. In Genf lief die Außenministerkonferenz zwar erfolglos, aber immerhin erreichte Chrustschow eine Einladung in die USA. Man einigte sich auf eine Gipfelkonferenz im Mai 1960 in Paris, die Chrustschow dann scheitern ließ. Anlass war der Abschuss eines amerikanischen U2-Spionageflugzeuges. Der Grund aber war offensichtlich die Erkenntnis der Sowjets, dass sie in der Berlinfrage angesichts der entschlossenen Haltung vor allem der USA, aber auch Frankreichs, nicht das erreichen würden, was sie sich wohl erhofft hatten. Chrustschow setzte jetzt auf Eisenhowers Nachfolger.
Mit John F. Kennedy wurde - fast - alles anders. Ihm ging es nicht mehr um Deutschland oder Berlin insgesamt, sondern nur noch um den Westteil der Stadt. Er war schon bald ganz auf der Linie der Briten, suchte Kompromisse und war bereit, bisherige Grundsatzpositionen aufzugeben. Dies wurde auch in öffentlichen Kommuniqués erkennbar. Interessant und vielsagend war die Formulierung im Schlusskommuniqué des Adenauer-Besuches in Washington im April 1961. Demnach war das Versprechen erneuert worden, »die Freiheit der Bevölkerung von West-Berlin zu erhalten, bis Deutschland in Frieden und Freiheit wieder vereinigt« sei. Von Bonner Seite kein Protest.
Der neue US-Außenminister Dean Rusk meinte im April 1961 gegenüber seinem britischen Kollegen Lord Home, er habe »bis heute nicht verstanden, warum man sich über einen separaten Friedensvertrag (mit der DDR) so aufregt«. Für Kennedy wurde das Treffen mit Chrustschow in Wien am 3. und 4. Juni zu einem Schlüsselerlebnis. Chrustschow gab sich brutal. Im Urteil seiner Berater wurden Kennedys Hoffnungen »zerstört«, er war »sprachlos«, »verunsichert«. Kennedy verfluchte den Sowjetführer: »Er hat mich wie einen kleinen Jungen behandelt.«
Die Briten wollten verhandeln. Premier Macmillan erwartete vom US-Präsidenten wenig, vor allem nicht die Initiative zu Verhandlungen, um die Krise zu entschärfen. Am 24. Juni schrieb er an seinen Außenminister, der zu Gesprächen in Washington war: »Es kann gut sein, dass etwa im September, wenn die Vorstellung vom starken Mann im Weißen Haus endgültig geplatzt ist und die Welt auf den Krieg zusteuert, Sie und ich die Initiative übernehmen können.« Und seinem Tagebuch vertraute er an: »Ich habe das bestimmte Gefühl, dass Präsident Kennedy keine wirklichen Führungsqualitäten besitzt. Die amerikanische Presse und Öffentlichkeit sehen das allmählich auch so. In ein paar Wochen werden sie sich an uns wenden. Wir müssen darauf vorbereitet sein. Andernfalls kann Berlin zu einem Desaster werden - zu einer furchtbaren diplomatischen Niederlage oder (aus reiner Inkompetenz) zum Atomkrieg.«
Frustriert war Dean Acheson, ehemals Außenminister unter Präsident Truman. Kennedy hatte ihn als eine Art Sonderberater »reaktiviert«. Der Elder Statesman galt nach wie vor als Hardliner des Kalten Krieges. Am 28. Juni legte er einen Berlin-Bericht vor, der an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Acheson, für den Chrustschow ein »falscher Hund und ein Kriegstreiber« war, ging von der Prämisse aus, dass es nicht nur um Berlin ging, sondern um die entscheidende Machtprobe zwischen den USA und der UdSSR, von deren Ausgang das weltweite Vertrauen in die USA als Weltmacht abhing. Auf 35 Seiten listete er auf, was militärisch, wirtschaftlich und politisch zu tun sei, u.a. Vorbereitung der See-, Luft- und Landstreitkräfte auf einen Einsatz in Europa und Vorbereitung auf einen Atomkrieg. Erst wenn Chrustschow von der Entschlossenheit des Westens überzeugt wäre, seien Verhandlungen sinnvoll.
Wäre es am 13. August anders gekommen, als es dann kam, wäre es möglicherweise zum (Atom)Krieg gekommen und die Deutschen mittendrin. Jedenfalls forderten die Amerikaner Verteidigungsminister Franz Josef Strauß bei dessen Besuch im Pentagon am 14. Juli auf, schon mal einen sowjetischen Truppenübungsplatz in der DDR zu nennen, der als Zielpunkt für einen Atombombenabwurf geeignet wäre. Auf Basis des Acheson-Memorandums wurde in Washington jener Kompromiss ausgearbeitet, den Kennedy in seiner Fernsehansprache an die amerikanische Nation am 25. Juli verkündete. Da war auch die Rede von den drei »essentials« für West-Berlin: Recht auf Präsenz der Westmächte, Recht auf Zugang, Sicherung der Freiheit der Bewohner. Fünf Tage später meinte Senator William Fulbright, Vorsitzender des Außenpolitischen Ausschusses des US-Senats: »Ich verstehe nicht, warum die Ostdeutschen nicht ihre Grenze schließen, denn ich glaube, dass sie ein Recht haben, sie zu schließen.« Sie taten es am 13. August.
Hat Kennedy etwas vom Mauerbau gewußt? Eine alte Frage, die immer noch nicht klar beantwortet werden kann - und dies trotz einer ungeheuren Fülle von inzwischen freigegebenen Akten. In keinem der offiziellen westlichen Dokumente, die ich gesehen habe, kommt das Wort »Mauer« vor, wohl aber »Absperrung der Sektorengrenze«. Davon hatte die CIA bereits am 1. November 1957 gesprochen, der US-Botschafter in Moskau im März 1961, das State Department expressis verbis am 22. Juli 1961 und der britische Botschafter in Bonn, Steel, Anfang August. Von Überraschung konnte keine Rede sein. Ein Blick in die Akten zeigt auch, wie wenig realistisch westdeutsche Hoffnungen auf eine scharfe amerikanische Reaktion waren. Da wollte niemand die Stacheldrahtverhaue niederreißen. Washington wollte jetzt mit den Sowjets verhandeln.
Der Kontakt sollte von Botschafter George F. Kennan in Belgrad geknüpft werden. Bereits am 14. August erteilte Rusk in einem top secret-Telegramm dem Ambassador die entsprechenden Instruktionen. Kennan sollte vor allen Dingen darauf achten, dass die Alliierten, »insbesondere die Deutschen«, von diesen Gesprächen nichts erfahren würden. Für Rusk war durch den Mauerbau eine Lösung der Berlin-Krise »eher leichter« geworden; Kennedys Sicherheitsberater sprach gar von einer »Episode«. Auch die Briten waren nicht überrascht. Man wunderte sich eigentlich nur darüber, dass die DDR nicht schon viel früher die Sektorengrenzen abgeriegelt hatte. Als es geschah, wies der britische Botschafter in Moskau, Frank Roberts, gegenüber dem Foreign Office auf die Tatsache hin, dass »die Russen bei ihren Maßnahmen, den Flüchtlingsstrom zu stoppen, vorsichtig gewesen sind; sie haben diese Maßnahmen auf ihrer Seite des Eisernen Vorhanges durchgeführt und bis jetzt nichts getan, was die Freiheit West-Berlins und die Rechte der Alliierten dort beeinträchtigt«.
In West-Berlin und in der Bundesrepublik kam es allerdings angesichts der Untätigkeit des Westens zu einer Vertrauenskrise. Die »Bild«-Zeitung brachte es am 16. August mit einer stacheldrahtumrankten Titelseite in dicken Lettern auf den Punkt: »Der Westen tut NICHTS!« Die Warnungen der Amerikaner in Berlin und Bonn vor weiterer Untätigkeit führten dann zu einer graduellen Änderung der amerikanischen Politik - wenn auch nur im Atmosphärischen. Dazu gehörte die Entscheidung Kennedys, die US-Garnison in Berlin um eine Kampftruppe von 1500-1800 Mann zu verstärken sowie Vizepräsident Lyndon B. Johnson auf Kurzbesuch, und den »Helden« der Luftbrücke von 1948/49, General Lucius D. Clay, nach Berlin zu schicken. Macmillan hatte seinen Urlaub ungerührt fortgesetzt. Was er von der Absperrung hielt, wurde deutlich, als er beim Golfspielen in Gleneagles am 18. Loch die Beherrschung verlor und meinte, die ganze Krise sei von der Presse hochgespielt worden. Die amerikanischen Aktivitäten betrachtete er mit größter Skepsis - vor allem die Entsendung der Kampftruppe. Für ihn war das »militärischer Nonsens«. Er lehnte auch die Bitte Kennedys nach Verlegung britischer Soldaten nach Berlin ab und gab den Rat, der Westen solle vorsichtig reagieren, denn »wir wollen doch nicht die Schuld von den Russen und Ostdeutschen weg auf uns verlagern mit der Begründung, dass wir uns bei der Lösung des Problems vollkommen negativ verhalten«.
Die Westdeutschen, so Dean Rusk noch vor dem Mauerbau zu seinem britischen Kollegen, »werden viele Dinge schlucken müssen, die sie bis jetzt für unmöglich gehalten haben«; die Amerikaner würden die Deutschen härter anfassen, als die Briten bislang geglaubt hätten. »Im Interesse des Ost-West-Friedens« sollte die Bundesregierung im November Angebote machen; es ging »um die Oder-Neiße-Linie als Grenze, um die Anerkennung Pankows, um West-Berlin als freie Stadt«.
Nur einer wollte damals die Mauer niederreißen: General Lucius D. Clay. Aus Washington kam allerdings ein klares Nein, und Macmillan machte deutlich, was er von Clay hielt. Auf einem Telegramm von Steel notierte er, Clay sei immer schon ein »Scheißkerl« gewesen, jetzt sei er »ein verbitterter Scheißkerl« und »eine Gefahr für die Allgemeinheit«.
Bei Adenauer kamen Starrsinn - und die Unterstützung de Gaulles - zusammen, um das, was die Anglo-Amerikaner wollten, zu verhindern bzw. zu verzögern. Das führte wieder bei jenen zur Frustration. George F. Kennan hielt es für keine gute Sache, von Verbündeten abhängig zu sein, deren Erlaubnis einzuholen, um über Dinge zu sprechen, die für den Weltfrieden von größter Bedeutung seien. Um die sich abzeichnende Entwicklung zu stoppen, provozierte Adenauer im Frühjahr 1962 die schwerste Krise in den deutsch-amerikanischen Beziehungen, die es vor und nach dem Mauerbau gegeben hat. Über geheime amerikanische Überlegungen konnte man plötzlich etwas in deutschen Zeitungen lesen.
Im Herbst 1962 wurden in London und Washington weitere Überlegungen für eine Lösung der Berlinfrage angestellt. Der britische Staatsminister im Foreign Office, Godber, entwickelte den Plan, West-Berlin aufzugeben und die Bevölkerung einfach auszutauschen. Ähnlich auch der stellvertretende US-Verteidigungsminister Paul Nitze. Er legte Kennedy Anfang November ein Papier vor, in dem er Gedanken entwickelte, die »in der Vergangenheit undenkbar« gewesen seien. »Berlin im Lichte von Kuba« war sein Memorandum überschrieben. Auch er schlug die Aufgabe West-Berlins vor; dafür sollte ein erheblicher Teil des DDR-Territoriums in den Besitz der BRD übergehen.
Allmählich wurde erkennbar, dass der Mauerbau Höhepunkt und Ende der eigentlichen Berlin-Krise war. Chrustschow und Kennedy waren für »ihre« Deutschen so weit wie möglich gegangen. Wären sie weiter gegangen, hätte das möglicherweise die Zerstörung der eigenen Städte bedeutet - und das wegen jener Stadt, gegen die man über ein Jahrzehnt zuvor gemeinsam gekämpft hatte. Das war absurd. Kennedy empfand das jedenfalls so und äußerte kurz nach seinem Treffen mit Chrustschow: »Es wirkt doch einfach idiotisch, dass wir wegen eines Vertrages, der Berlin als zukünftige Hauptstadt eines wiedervereinten Deutschland vorsieht, mit der Gefahr eines Atomkrieges konfrontiert sind - wo wir doch alle wissen, dass Deutschland wahrscheinlich nie mehr wiedervereinigt wird!«
Unser Autor ist ordentlicher Universitätsprofessor an der Universität Innsbruck; unlängst erschien von ihm »Der Mauerbau. Die Westmächte und Adenauer in der Berlinkrise 1958-1963« (Olzog Verlag, 411S., 36DM); infos www.ifz-innsbruck.at.
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