Ach, was waren das für Zeiten

Ton Steine Scherben - Konzertmitschnitt und Hintergründe auf DVD

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: ca. 3.0 Min.
Es begann im Sommer 1970 in einem Kreuzberger Hinterhofstudio. Mit drei Freunden nahm Rio Reiser dort die Songs »Macht kaputt, was euch kaputt macht« und »Wir streiken« auf, die von Berliner Raubdruckern unter die politisch aufgeheizten Leute gebracht wurden. In den folgenden Jahren schrieb die Band, die sich nach einem Zitat des Troja-Entdeckers Heinrich Schliemann benannte (»Alles, was ich fand, waren Ton, Steine, Scherben.«), Rockgeschichte und lieferte die Begleitmusik für Hausbesetzungen und Straßenschlachten. Keine andere Gruppe brachte mit ihrer Musik das Gefühl von Jugendlichen, die sich der Macht des Staates und des Geldes entziehen wollten und auf der Suche nach einem lebenswerten Leben waren, besser auf den Punkt als »Ton Steine Scherben«. Eine Demo, auf der Reisers Stimme nicht »Keine Macht für niemand« aus den Lautsprechern geschmettert hätte - undenkbar. Im Frühjahr 1983 gingen die »Scherben« gemeinsam mit der »Schroeder Roadshow« und dem Gaukler Eisi Gulp auf Tournee, mit der Kamera begleitet von Christian Wagner, Mitbegründer und Regisseur des WDR-Rockpalasts. Jetzt, 20 Jahre später, hat Wagner gemeinsam mit ehemaligen Bandmitgliedern ein Konzert dieser Tournee ungekürzt auf einer DVD verewigt. Am Bildschirm kann man miterleben, wie ein vierstimmiger Streichersatz in die Dunkelheit der Offenbacher Stadthalle schallt, wie sich der schwarze Vorhang langsam öffnet und die Bühne freigibt für über 100 Minuten »Scherben« pur, wie Rio Reiser sich Stück für Stück in Ekstase singt, und diesen Zustand spätestens beim Titelsong der DVD, »Land in Sicht«, erreicht zu haben scheint. Als die Aufnahmen gemacht wurden, hatte »Ton Steine Scherben« das Image der anarchistischen Protestband zwar nicht abgelegt, aber durch gefühlsintensive und philosophische Lieder um einige Facetten erweitert. Besonders die Lieder des Doppelalbums »Ton Steine Scherben IV«, besser bekannt als die »Schwarze«, gehen mit ihren poetischen Texten und eindringlicher Musik in die Tiefe: »Auf den Asphaltfeldern grasen/ Gold'ne Kälberherden Tag und Nacht/ Über ihnen Wolkenkratzer/ Wo die Computer schmatzen - ach/ Wo ist noch Platz für mich/ Oder ein Dach für dich/ Hörst du es flüstern im Land?/ Dracula sucht einen Sarg/ Helmut kauft sich Koks im Park/ Siehst du die Schrift an der Wand?/ Der Turm stürzt ein/ Der Turm stürzt ein/ Halleluja/ Der Turm stürzt ein.« 1985 trennte sich die Band im finanziellen Desaster. Rio Reisers Solokarriere begann. Aus dem Kreuzberger Chaossänger wurde der »König von Deutschland« - ein Schritt, den viele alte Fans als Verrat an den Ideen missverstanden. Stiller mag er geworden sein, sich mehr zum Privaten bekannt haben, dennoch blieb Reiser bis zu seinem frühen Tod im Jahr 1996 ein politischer Mensch, der seine Standpunkte, wenn er sie gefunden hatte, ohne zu zögern vertrat. Mit seinem Beitritt zur PDS machte sich der Musiker, den sein Kollege Herbert Grönemeyer einmal als »einzigen deutschen Sänger« bezeichnete, den er für seinen »leidenschaftlichen Hang zum Aufruhr, zum Diventum, zum Kitsch und zum anarchischen Patriotismus« »je bewundert« hat, nicht nur Freunde. Neben dem Offenbacher Konzert enthält die DVD zwei Lieder von einem Open-Air-Auftritt, auf dem Punks die Bühne stürmen, eine Soloaufnahme des Liedes »Wo sind wir jetzt« mit Rio Reiser am Piano und am Mikrofon, ein Interview mit dem Sänger, eine kurze Szene in Fresenhagen, dem ländlichen Rückzugsgebiet der Band, wichtige biografische Eckdaten und eine Diskografie. Ein filmisches Meisterwerk ist der Silberling nicht, will es vermutlich auch gar nicht sein. Als Erinnerung daran, dass Musik etwas bewegen kann, erfüllt er seinen Zweck. Er ist Dokument einer Zeit, in der es noch nicht verpönt war, Emotionen und politische Wut einfach herauszubrüllen. DVD: »Land in Sicht«. Erschienen bei eye tune products. Laufzeit 149 Minu...

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