Manfred Bofinger - Geschichten mit Kindern

Ein Zeichner, der inzwischen auch Schriftsteller ist: Manfred Bofinger, geboren 1941, hat nicht nur zahlreiche Bücher illustriert, er hat auch eigene geschrieben. Erinnerungen an seine Kindheit in der Nachkriegszeit hat er in seinem Band »Der krumme Löffel« gesammelt (jetzt wieder erhältlich im Aufbau Taschenbuch Verlag). Und Ende März ist bei Aufbau ein neues Buch von Manfred Bofinger zu erwarten: »Ein dicker Hund. Geschichten mit Kindern«. In heiteren Miniaturen erzählt er von Begegnungen in Schulen, Kinderbibliotheken oder -krankenhäusern. Dazu gibt es 100 Vignetten aus der Feder des Autors und zehn Bofinger-Porträts von Kindern gemalt.

Schall und Rauch
In einer dritten Klasse in Berlin-Prenzlauer Berg habe ich die blödsinnige Idee, meinen Vor- und Zunamen an die Tafel zu schreiben. Das mache ich sonst nie. Wir zeichnen zusammen, und mir fällt nach einer Weile ein Junge auf, der nicht mitmacht.
Ich gehe zu ihm und frage:
»Warum machst'n nicht mit?«
»Ach«, sagt er, »ick zeichne nich ferne, aba lass'n sich nich stör'n durch mich, ick langweil' mich nich, ick kuck einfach nur zu.«
Na gut, denke ich und mach weiter.
Die Stunde ist zu Ende.
Da kommt der kleine Zeichenmuffel zu mir und sagt:
»Also, det war wirklich urst schau. Sie müssten öfters zu uns kommen. Na, uff jeden Fall, den Namen ...«, er guckt auf die Tafel, »Günter Bumfinger sollte man sich merken.«

Grenzen
Mein kleiner Freund Rainer ist ein eifriger Maler, ein künftiger Kollege vielleicht. Am Rande des gemeinsamen Wochenendgrundstücks, mitten auf dem Feld, fühlt er sich eines Tages von einem Milan bedroht, und er erzählt dies anschließend höchst aufgeregt.
Abends, wie so oft, soll ich ihm vorschlagen, was er malen könnte.
Ich sage: »Mal doch, wie der Milan dicht über deinem Kopf fliegt!«, und er antwortet nach kurzem Überlegen ziemlich enttäuscht:
»Ich bin doch nicht Albrecht Dürer.«

Ein dicker Hund
An einem glühend heißen Kindertag bin ich im Kindergarten um die Ecke eingeladen, gleich nach dem Essen. Die Kleinsten haben zwar noch den Mund voll mit Kuchen und Brause, aber ich beginne schon, an die Tafel den dicken Hund Arko aus Uwe Kants »Der kleine Zauberer und die große 5« zu zeichnen. Ich zeichne ihn in rasantem Lauf, über dem Boden schwebend, mit wehenden Ohren, und ich bin stolz darauf, dass er mir so wunderbar gelingt. Ein prima Hund, ein trefflicher Köter, wie er im Buche steht.
Ich spüre im Rücken die bewundernden Blicke aller Kinder, die dicht gedrängt hinter mir stehen, auf die Zeichnung starren und den Maleronkel mit seinem Hund in ihr Herz schließen.
Und da passiert das Furchtbare: »Ein Vogel!«, ruft ein Kind.
»Eine Taube!«, ruft ein zweites.
Und plötzlich singen alle das Lied von der kleinen weißen Friedenstaube, während ich völlig demoralisiert auf meinen Arko starre. Mein künftiger beruflicher Lebensweg erscheint mir zweifelhaft und fragwürdig.
Nur nicht aufgeben, denke ich, beiß dich durch gegen diese kleinen Ignoranten, und ich male verbissen Löwen, Katzen, Giraffen, Krokodile, Kamele und Kängurus. Und alle werden, oh Wunder, auch prompt erkannt.
So kommt es, dass ich heute noch meinen Beruf ausübe.

Gefälle
Da hebe ich ganz schön verdutzt den Blick vom gezeichneten Meerschweinchen, das ich gerade signieren will, auf das kleine sommersprossige Mädchen, das da soeben gefragt hat: »Herr Bofinger, sind Sie eigentlich berühmt oder nur bekannt?«

Unbezahlbar
In den letzten Jahren war ich mehrfach Gast in Uchtspringe, der Landesnervenklinik von Sachsen-Anhalt. Dort mache ich mit kleinen Gruppen behinderter Kinder und Jugendlicher meine »Elementarspiele«, wie ich sie nenne.
Unter der Aufsicht und zur Ansicht der dortigen Therapeuten entstehen mit großem Vergnügen für jeden von uns interessante und erstaunliche Arbeiten, die hilfreich bei Diagnose und Behandlung sein können. Am letzten Tag kommen alle noch einmal zusammen. Jede Gruppe überreicht mir stets etwas »Selbstgemachtes«, was mich sehr berührt. Das Beeindruckendste jedoch, was ich beim letzten Besuch bekomme, ist ein rundes blaues Plastestück mit Loch, das ein kleiner Patient nach der Verabschiedung heimlich und verschämt aus seiner Hosentasche holt, mir in die Hand drückt und flüstert: »Komm doch mal wieder!«

Inkognito
Im Berliner Kinderliteraturhaus »LesArt« baue ich mit einer dritten Klasse Bilder nach meinem konstruktivistischen Buch »Graf Tüpo«. Die Fantasie der Kinder ist nahezu grenzenlos, und sie konstruieren zwei Stunden lang immer wieder Neues und Verrücktes. Viele Wochen später stehe ich missmutig im Regen an einer Straßenkreuzung und warte darauf, dass die Ampel endlich Grün zeigt.
Zwei Jungen hampeln neben mir.
Beide kommen mir irgendwie bekannt vor.
»Sind Sie nicht der Herr Tüpo?«, fragt der eine.
»Mensch, der heißt doch Buchfinger!«, verbessert ihn der zweite.
Im Nu habe ich gute Laune.

Erkenntnis
In der Strasburger Grundschule habe ich eine Ausstellung, »Bilder für Kinder«. Ich werde umringt von Schülern und Lehrern, bekomme einen riesigen Sommerblumenstrauß überreicht und als besondere Überraschung eine Mappe mit vielen farbenfrohen und verblüffend ähnlichen Porträts, die die Schulkinder von mir gemalt haben.
Ich bin begeistert.
Wenige Staatsoberhäupter können sich mit mir messen!
Aber wer von denen möchte auch aussehen wie Räuber Hotzenplotz oder Riese Timpetu, wie Rübezahl oder Athlete Graulich, wie Klaus Störtebeker oder Ritter Tunichtgut, wie Rumpelstilzchen oder Doktor Eisenbart, wie Barbarossa oder Robin Hood, wie der Nikolaus oder Old Shatterhand, wie der Holländermichel oder John Silver?
Plötzlich spüre ich, wie alle in mir stecken.
Kinder sind großartige Psychologen.

Namensgebung
Durch die vielen Buchbasare, auf denen ich nicht nur Exemplare signieren, sondern auch widmen musste, weiß ich seit langem, welche wundersamen Vornamen Kinder haben können. Ich kenne Namensgebungstrends und wundere mich nicht mehr über unterschiedlichste Schreibweisen:
Maik, Meik oder Mike.
Philip oder Philipp.
Anette, Annette oder Annett.
Stefan oder Stephan.
Katrin, Kathrin oder Catherine.
Eileen, Ayleen oder Aileen.
Auch die verschiedenen Schreibweisen der phonetischen Schmidt-, Schulz- oder Katschubowski-Familien sind mir vertraut.
Gewundert habe ich mich nur über den Namen, den mir der Mann an der Hotelrezeption in Karachi gibt, im Anmeldeformular der pakistanischen Hafenstadt. Ein Blick auf die falsche Passseite ist schuld.
Von nun an heiße ich dort Mister Groß Graugrün.

Farbenlehre
Im Frühjahr 1975 sitze ich in Frankfurt/ Oder in einem Kolloquium, das ich genau genommen verursacht habe. Ich sitze sogar im Präsidium, zusammen mit Kollegen wie Werner Klemke, Ingrid Schuppan und Gertrud Zucker. Mein blauer Hund Arko aus dem Bilderbuch »Der kleine Zauberer und die große 5« führt zur scharf gestellten Frage, die über dem Kolloquium wie ein Damoklesschwert schwebt:
Darf der Hund blau sein?
Kaum einer im Saal hat offenbar Lust auf diese zoologisch-ästhetisch-pädagogische Auseinandersetzung. Jeder will lieber ein Glas Wein trinken oder ein Bierchen zischen, wovon ein so großer dicker Hund wie Arko möglicherweise blau werden könnte, wie ich gleich zu Beginn etwas hilflos anmerke.
Irgendjemand verweist ebenso hilflos auf Franz Marcs »Turm der blauen Pferde«. Dann herrscht Schweigen.
Bis sich plötzlich Uwe Kant, der Autor des Bilderbuchs, meldet und meint, er hätte zwar keine Ahnung von Bildender Kunst, aber er glaubt, wenn ein Hund reden könne, dürfe er auch blau sein.
Riesenbeifall.
Das Kolloquium wird beendet.

Enttäuschung
»Wo hast du denn so gut zeichnen gelernt?«, werde ich oft von Kindern gefragt.
Ich sage ihnen dann, nachdem ich mich für das Lob bedankt habe:
»Zuhause, ich hab mir das selber beigebracht.«
Die beste Antwort, die ich bisher darauf bekam, war:
»Schade, wir ham für alles Lehrer.«

Begrüßung
Als ich mich von den Grundschülern in Döbeln verabschiede, bittet mich ein Junge um meine Adresse.
Am übernächsten Tag komme ich zurück nach Berlin und habe bereits Post von ihm. Gespannt öffne ich den Umschlag.
Auf einem gefalteten großen Blatt ist eine kleine zarte Bleistiftzeichnung, eine dünne Wurst mit einem Punkt.
Darunter steht nur eine einzige Zeile:
»Ein Regenwurm für Manfred.«

Dichtung und Wahrheit
Es gibt Augenblicke im Leben, wo ich nicht sicher bin, ob ich einem Kind die Wahrheit sagen oder es belügen soll, zur Zufriedenheit beider.
Oder ist es etwa leicht, einem Kind zu antworten, das gerade voller Begeisterung über unser Zusammentreffen mit leuchtenden Augen die Frage stellt:
»Haben Sie eigentlich auch "Das kalte Herz" geschrieben?«

Dank
Gar nicht selten habe ich das Vergnügen am Ende einer turbulenten Zeichenstunde, wenn mein Zeichenstift glüht, weil jedes Kind sein versprochenes Bild von mir bekommen hat, wenn ich erschöpft aber entspannt meine Tasche packe, dass genau in diesem Moment ein Kind sehr laut sagt:
»Aber meine Mutter kann richtig malen!«

Die Dritte Dimension
Ich besitze eine einzigartige Sammlung.
Die wichtigsten Figuren aus Kinder- und Bilderbüchern, die ich gezeichnet habe, wurden mir im Laufe vieler Jahre von Kindern zugesandt oder überreicht, als kleine Plastiken aus Brennknete.
Sie sind aus der Zweidimensionalität einer Buchseite von kleinen »Bildhauern« in die dritte Dimension erhoben worden. Ich kann meine Kreaturen plötzlich von allen Seiten betrachten, die Katze Lisbeth und den Hund Arko, den Drachen Ticki Mumm und den Räuber Kassa Rabiatas, den Hasen Schnellläufer und den Vogel Albert.
Kindern, die sich gerade ein Selbstporträt von mir gewünscht haben, erzähle ich von meiner Sammlung und frage sie, ob sie mich denn vielleicht nicht auch aus Suralin formen könnten, sozusagen als tolle Ergänzung zu meinen Phantasiegestalten.
»Nein«, sagt ein Junge bedauernd, »soviel Knete hat kein Kind.«

Freiheit
Ich sitze am Lehrertisch, vor mir das Blatt mit dem gerade gezeichneten Hahn und koloriere ihn mit meinen dicken Buntstiften.
Die Erstklässler staunen.
Sie sind geradezu fassungslos:
»Du darfst ja rübermalen!«

Erwischt
In einer Schule der Oberlausitz überkommt mich der absurde und gottlob bisher einmalige Drang, den Kindern einer dritten Klasse meinen Beruf erklären zu wollen.
Ich zeichne nichts an die Tafel, sondern erzähle ihnen, vermutlich sehr umständlich und langatmig, was ich so mache, womit ich mich demnächst befassen werde, welche Farben ich benutze und wie viele Bücher ich schon illustriert habe.
Über zwanzig Minuten rede ich auf die sehr ernsten Kinder ein.
Ich fühle mich großartig.
Nun müssten sie alles verstanden haben und mich beneiden um meine interessante und spannende Tätigkeit als Zeichner.
Die Kinder sitzen mucksmäuschenstill vor mir mit kreisrunden Augen.
Sie sind, das fühle ich, zutiefst beeindruckt von meinen Worten, einfach sprachlos.
Und ich frage selbstbewusst und zufrieden:
»Nun, habt ihr vielleicht noch eine Frage an mich?«
Ein Mädchen meldet sich unsicher:
»Herr Bofinger, was sind Sie von Beruf?«

Vorwurf
Am Ende eines gemeinsamen Zeichenspiels dürfen sich die Kinder stets von mir ihr Lieblingstier wünschen. Alle stehen dann um meinen Tisch herum und schauen mir beim Zeichnen zu. Erstaunt, möglicherweise sogar enttäuscht, sehen die Kinder, dass meine Tierwelt nicht so ganz ihren Erfahrungen entspricht.
Pferde, sehr sportlich gekleidet, machen Jogging.
Schnecken rasen auf Skateboards durchs Bild.
Kängurus transportieren Kleinkinder im Beutel.
Eisbären lutschen Eis.
Und dann passierts fast immer:
Ein Kind lacht schallend los.
Und ein anderes sagt sehr streng und vorwurfsvoll:
»Lach nich, du kannst dis ja selba nich bessa!«Schall und Rauch
In einer dritten Klasse in Berlin-Prenzlauer Berg habe ich die blödsinnige Idee, meinen Vor- und Zunamen an die Tafel zu schreiben. Das mache ich sonst nie. Wir zeichnen zusammen, und mir fällt nach einer Weile ein Junge auf, der nicht mitmacht.
Ich gehe zu ihm und frage:
»Warum machst'n nicht mit?«
»Ach«, sagt er, »ick zeichne nich ferne, aba lass'n sich nich stör'n durch mich, ick langweil' mich nich, ick kuck einfach nur zu.«
Na gut, denke ich und mach weiter.
Die Stunde ist zu Ende.
Da kommt der kleine Zeichenmuffel zu mir und sagt:
»Also, det war wirklich urst schau. Sie müssten öfters zu uns kommen. Na, uff jeden Fall, den Namen ...«, er guckt auf die Tafel, »Günter Bumfinger sollte man sich merken.«

Grenzen
Mein kleiner Freund Rainer ist ein eifriger Maler, ein künftiger Kollege vielleicht. Am Rande des gemeinsamen Wochenendgrundstücks, mitten auf dem Feld, fühlt er sich eines Tages von einem Milan bedroht, und er erzählt dies anschließend höchst aufgeregt.
Abends, wie so oft, soll ich ihm vorschlagen, was er malen könnte.
Ich sage: »Mal doch, wie der Milan dicht über deinem Kopf fliegt!«, und er antwortet nach kurzem Überlegen ziemlich enttäuscht:
»Ich bin doch nicht Albrecht Dürer.«

Ein dicker Hund
An einem glühend heißen Kindertag bin ich im Kindergarten um die Ecke eingeladen, gleich nach dem Essen. Die Kleinsten haben zwar noch den Mund voll mit Kuchen und Brause, aber ich beginne schon, an die Tafel den dicken Hund Arko aus Uwe Kants »Der kleine Zauberer und die große 5« zu zeichnen. Ich zeichne ihn in rasantem Lauf, über dem Boden schwebend, mit wehenden Ohren, und ich bin stolz darauf, dass er mir so wunderbar gelingt. Ein prima Hund, ein trefflicher Köter, wie er im Buche steht.
Ich spüre im Rücken die bewundernden Blicke aller Kinder, die dicht gedrängt hinter mir stehen, auf die Zeichnung starren und den Maleronkel mit seinem Hund in ihr Herz schließen.
Und da passiert das Furchtbare: »Ein Vogel!«, ruft ein Kind.
»Eine Taube!«, ruft ein zweites.
Und plötzlich singen alle das Lied von der kleinen weißen Friedenstaube, während ich völlig demoralisiert auf meinen Arko starre. Mein künftiger beruflicher Lebensweg erscheint mir zweifelhaft und fragwürdig.
Nur nicht aufgeben, denke ich, beiß dich durch gegen diese kleinen Ignoranten, und ich male verbissen Löwen, Katzen, Giraffen, Krokodile, Kamele und Kängurus. Und alle werden, oh Wunder, auch prompt erkannt.
So kommt es, dass ich heute noch meinen Beruf ausübe.

Gefälle
Da hebe ich ganz schön verdutzt den Blick vom gezeichneten Meerschweinchen, das ich gerade signieren will, auf das kleine sommersprossige Mädchen, das da soeben gefragt hat: »Herr Bofinger, sind Sie eigentlich berühmt oder nur bekannt?«

Unbezahlbar
In den letzten Jahren war ich mehrfach Gast in Uchtspringe, der Landesnervenklinik von Sachsen-Anhalt. Dort mache ich mit kleinen Gruppen behinderter Kinder und Jugendlicher meine »Elementarspiele«, wie ich sie nenne.
Unter der Aufsicht und zur Ansicht der dortigen Therapeuten entstehen mit großem Vergnügen für jeden von uns interessante und erstaunliche Arbeiten, die hilfreich bei Diagnose und Behandlung sein können. Am letzten Tag kommen alle noch einmal zusammen. Jede Gruppe überreicht mir stets etwas »Selbstgemachtes«, was mich sehr berührt. Das Beeindruckendste jedoch, was ich beim letzten Besuch bekomme, ist ein rundes blaues Plastestück mit Loch, das ein kleiner Patient nach der Verabschiedung heimlich und verschämt aus seiner Hosentasche holt, mir in die Hand drückt und flüstert: »Komm doch mal wieder!«

Inkognito
Im Berliner Kinderliteraturhaus »LesArt« baue ich mit einer dritten Klasse Bilder nach meinem konstruktivistischen Buch »Graf Tüpo«. Die Fantasie der Kinder ist nahezu grenzenlos, und sie konstruieren zwei Stunden lang immer wieder Neues und Verrücktes. Viele Wochen später stehe ich missmutig im Regen an einer Straßenkreuzung und warte darauf, dass die Ampel endlich Grün zeigt.
Zwei Jungen hampeln neben mir.
Beide kommen mir irgendwie bekannt vor.
»Sind Sie nicht der Herr Tüpo?«, fragt der eine.
»Mensch, der heißt doch Buchfinger!«, verbessert ihn der zweite.
Im Nu habe ich gute Laune.

Erkenntnis
In der Strasburger Grundschule habe ich eine Ausstellung, »Bilder für Kinder«. Ich werde umringt von Schülern und Lehrern, bekomme einen riesigen Sommerblumenstrauß überreicht und als besondere Überraschung eine Mappe mit vielen farbenfrohen und verblüffend ähnlichen Porträts, die die Schulkinder von mir gemalt haben.
Ich bin begeistert.
Wenige Staatsoberhäupter können sich mit mir messen!
Aber wer von denen möchte auch aussehen wie Räuber Hotzenplotz oder Riese Timpetu, wie Rübezahl oder Athlete Graulich, wie Klaus Störtebeker oder Ritter Tunichtgut, wie Rumpelstilzchen oder Doktor Eisenbart, wie Barbarossa oder Robin Hood, wie der Nikolaus oder Old Shatterhand, wie der Holländermichel oder John Silver?
Plötzlich spüre ich, wie alle in mir stecken.
Kinder sind großartige Psychologen.

Namensgebung
Durch die vielen Buchbasare, auf denen ich nicht nur Exemplare signieren, sondern auch widmen musste, weiß ich seit langem, welche wundersamen Vornamen Kinder haben können. Ich kenne Namensgebungstrends und wundere mich nicht mehr über unterschiedlichste Schreibweisen:
Maik, Meik oder Mike.
Philip oder Philipp.
Anette, Annette oder Annett.
Stefan oder Stephan.
Katrin, Kathrin oder Catherine.
Eileen, Ayleen oder Aileen.
Auch die verschiedenen Schreibweisen der phonetischen Schmidt-, Schulz- oder Katschubowski-Familien sind mir vertraut.
Gewundert habe ich mich nur über den Namen, den mir der Mann an der Hotelrezeption in Karachi gibt, im Anmeldeformular der pakistanischen Hafenstadt. Ein Blick auf die falsche Passseite ist schuld.
Von nun an heiße ich dort Mister Groß Graugrün.

Farbenlehre
Im Frühjahr 1975 sitze ich in Frankfurt/ Oder in einem Kolloquium, das ich genau genommen verursacht habe. Ich sitze sogar im Präsidium, zusammen mit Kollegen wie Werner Klemke, Ingrid Schuppan und Gertrud Zucker. Mein blauer Hund Arko aus dem Bilderbuch »Der kleine Zauberer und die große 5« führt zur scharf gestellten Frage, die über dem Kolloquium wie ein Damoklesschwert schwebt:
Darf der Hund blau sein?
Kaum einer im Saal hat offenbar Lust auf diese zoologisch-ästhetisch-pädagogische Auseinandersetzung. Jeder will lieber ein Glas Wein trinken oder ein Bierchen zischen, wovon ein so großer dicker Hund wie Arko möglicherweise blau werden könnte, wie ich gleich zu Beginn etwas hilflos anmerke.
Irgendjemand verweist ebenso hilflos auf Franz Marcs »Turm der blauen Pferde«. Dann herrscht Schweigen.
Bis sich plötzlich Uwe Kant, der Autor des Bilderbuchs, meldet und meint, er hätte zwar keine Ahnung von Bildender Kunst, aber er glaubt, wenn ein Hund reden könne, dürfe er auch blau sein.
Riesenbeifall.
Das Kolloquium wird beendet.

Enttäuschung
»Wo hast du denn so gut zeichnen gelernt?«, werde ich oft von Kindern gefragt.
Ich sage ihnen dann, nachdem ich mich für das Lob bedankt habe:
»Zuhause, ich hab mir das selber beigebracht.«
Die beste Antwort, die ich bisher darauf bekam, war:
»Schade, wir ham für alles Lehrer.«

Begrüßung
Als ich mich von den Grundschülern in Döbeln verabschiede, bittet mich ein Junge um meine Adresse.
Am übernächsten Tag komme ich zurück nach Berlin und habe bereits Post von ihm. Gespannt öffne ich den Umschlag.
Auf einem gefalteten großen Blatt ist eine kleine zarte Bleistiftzeichnung, eine dünne Wurst mit einem Punkt.
Darunter steht nur eine einzige Zeile:
»Ein Regenwurm für Manfred.«

Dichtung und Wahrheit
Es gibt Augenblicke im Leben, wo ich nicht sicher bin, ob ich einem Kind die Wahrheit sagen oder es belügen soll, zur Zufriedenheit beider.
Oder ist es etwa leicht, einem Kind zu antworten, das gerade voller Begeisterung über unser Zusammentreffen mit leuchtenden Augen die Frage stellt:
»Haben Sie eigentlich auch "Das kalte Herz" geschrieben?«

Dank
Gar nicht selten habe ich das Vergnügen am Ende einer turbulenten Zeichenstunde, wenn mein Zeichenstift glüht, weil jedes Kind sein versprochenes Bild von mir bekommen hat, wenn ich erschöpft aber entspannt meine Tasche packe, dass genau in diesem Moment ein Kind sehr laut sagt:
»Aber meine Mutter kann richtig malen!«

Die Dritte Dimension
Ich besitze eine einzigartige Sammlung.
Die wichtigsten Figuren aus Kinder- und Bilderbüchern, die ich gezeichnet habe, wurden mir im Laufe vieler Jahre von Kindern zugesandt oder überreicht, als kleine Plastiken aus Brennknete.
Sie sind aus der Zweidimensionalität einer Buchseite von kleinen »Bildhauern« in die dritte Dimension erhoben worden. Ich kann meine Kreaturen plötzlich von allen Seiten betrachten, die Katze Lisbeth und den Hund Arko, den Drachen Ticki Mumm und den Räuber Kassa Rabiatas, den Hasen Schnellläufer und den Vogel Albert.
Kindern, die sich gerade ein Selbstporträt von mir gewünscht haben, erzähle ich von meiner Sammlung und frage sie, ob sie mich denn vielleicht nicht auch aus Suralin formen könnten, sozusagen als tolle Ergänzung zu meinen Phantasiegestalten.
»Nein«, sagt ein Junge bedauernd, »soviel Knete hat kein Kind.«

Freiheit
Ich sitze am Lehrertisch, vor mir das Blatt mit dem gerade gezeichneten Hahn und koloriere ihn mit meinen dicken Buntstiften.
Die Erstklässler staunen.
Sie sind geradezu fassungslos:
»Du darfst ja rübermalen!«

Erwischt
In einer Schule der Oberlausitz überkommt mich der absurde und gottlob bisher einmalige Drang, den Kindern einer dritten Klasse meinen Beruf erklären zu wollen.
Ich zeichne nichts an die Tafel, sondern erzähle ihnen, vermutlich sehr umständlich und langatmig, was ich so mache, womit ich mich demnächst befassen werde, welche Farben ich benutze und wie viele Bücher ich schon illustriert habe.
Über zwanzig Minuten rede ich auf die sehr ernsten Kinder ein.
Ich fühle mich großartig.
Nun müssten sie alles verstanden haben und mich beneiden um meine interessante und spannende Tätigkeit als Zeichner.
Die Kinder sitzen mucksmäuschenstill vor mir mit kreisrunden Augen.
Sie sind, das fühle ich, zutiefst beeindruckt von meinen Worten, einfach sprachlos.
Und ich frage selbstbewusst und zufrieden:
»Nun, habt ihr vielleicht noch eine Frage an mich?«
Ein Mädchen meldet sich unsicher:
»Herr Bofinger, was sind Sie von Beruf?«

Vorwurf
Am Ende eines gemeinsamen Zeichenspiels dürfen sich die Kinder stets von mir ihr Lieblingstier wünschen. Alle stehen dann um meinen Tisch herum und schauen mir beim Zeichnen zu. Erstaunt, möglicherweise sogar enttäuscht, sehen die Kinder, dass meine Tierwelt nicht so ganz ihren Erfahrungen entspricht.
Pferde, sehr sportlich gekleidet, machen Jogging.
Schnecken rasen auf Skateboards durchs Bild.
Kängurus transportieren Kleinkinder im Beutel.
Eisbären lutschen Eis.
Und dann passierts fast immer:
Ein Kind lacht schallend los.
Und ein anderes sagt sehr streng und vorwurfsvoll:
»Lach nich, du kannst dis ja selba nich bessa!«

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