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  • Wie sich die Nazis 1933 das Vermögen des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes aneigneten

Die „Untreue“ des Theodor Leipart – ein Schulbeispiel?

  • Lesedauer: 4 Min.

Wie hier in der Berliner Wallstraße am 2. Mai 1933 besetzten die Nazis überall in Deutschland Gewerkschaftshäuser

Foto: Archiv

„Ich kann diese Denkschrift nicht anders schließen als wie beinahe jedes Gespräch, das ich in dieser Sache in meinem Dienstzimmer führe, schließt, nämlich mit der Frage des Besuchers: Weiß das der Führer?“ Solchen süffisanten Seufzer brachte Hans Erbe, Ministerialrat im Reichsministerium des Inneren, am 29. Oktober 1936 in einem Memorandum für seinen Minister Wilhelm Frick (1877 bis 1946) zu Papier. Angesichts von etwa 45 000 Personen, die zu Ansprüchen an 1933 beschlagnahmtes Vermögen berechtigt schienen, mahnte Erbe mit seiner Denkschrift eine gesetzliche Regelung an. Er hatte es satt, beispielsweise ehemalige Gewerkschaftsangestellte zu vertrösten, die durch die Beschlagnahme des Gewerkschafts Vermögens um jene Rente gebracht worden waren, für die sie jahrelang gezahlt hatten.

Die Erbe-Denkschrift, die sich im Bundesarchiv Koblenz befindet und die Dr. Heinz Boberach vor

zwei Jahren in der Zeitschrift „Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“ (IWK) unter dem Titel „Die Regelung von Ansprüchen von Gewerkschaftern auf beschlagnahmtes Vermögen durch die Reichsfeststellungsbehörde 1938 bis 1944“ vorgestellt hat, vermittelt einen Eindruck von dem beträchtlichen Konfliktpotential, das sich die Nazis mit der Enteignung des Vermögens von KPD, SPD, Gewerkschaften und Emigranten „auf den Hals geladen“ hatten. (IWK, Heft 2, Juni 1989) Dabei hatte die Sache 1933 „ganz einfach“ ausgesehen.

Das Vermögen der KPD und ihrer Gliederungen war nach dem Reichstagsbrand am 28. Februar 1933 weitgehend vollständig beschlagnahmt worden. Am 2. Mai 1933 - nach dem heuchlerisch als „Feiertag der nationalen Arbeit“ begangenen 1. Mai - hatten SA-Schlägertrupps landesweit die

noch nicht behelligten Gewerkschaftshäuser und -büros besetzt. Führende Gewerkschaftsfunktionäre, unter ihnen auch der langjährige Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) Theodor Leipart (1867 bis 1947), wurden in „Schutzhaft“ genommen. Um der Besetzung der Gewerkschaftshäuser nachträglich einen Anstrich von Berechtigung zu geben, ließen sich die Führung der Nazi-Ersatzgewerkschaft Deutsche Arbeitsfront (DAF), das Preußische Justizministerium und der Generalstaatsanwalt beim Landgericht I einen besonderen Trick einfallen: ein Ermittlungsverfahren gegen Leipart und Genossen wegen Untreue - zu Unrecht, wie nunmehr bewiesen ist. Ein Prozeß gegen Leipart und Genossen fand übrigens nie statt.

Lange Zeit galten die Akten des Ermittlungsverfahrens als verschollen. Erst Ende der siebziger Jahre wurden die 15 Aktenbände

„in der anhänglichen Strafsache gegen Leipart u. Gen. wegen Untreue“ in Westberlin gefunden. Beate Dapper und Dr. Hans-Peter Rouette sahen den geschichtlich wichtigen Fund durch und berichteten darüber Ende 1984 in der IWK (Heft 4, Dezember 1984). Da seinerzeit in der Goebbels-Presse viel Tendenziöses über „die Korruption der Gewerkschaftbonzen“ geschrieben worden war, ist es geschichtlich aufhellend, den definitiven Untreue-Vorwurf aus der generalstaatsanwaltlichen Verfügung vom 9. Mai 1933 zu zitieren.

Die Verfügung beginnt mit der Feststellung, der (von den Nazis am 2. Mai eingesetzte) „Bankdirektor Müller, der kommissarische Leiter der Arbeiterbank und sämtlicher Wirtschaftsorganisationen des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes“, habe am 8. M^i mitgeteilt, „daß die bisherige Sichtung des bei der Besetzung der Gewerkschaften vorgefundenen Ma-

terials schon deutliche Anzeichen korruptiver Geschäftsführung ergeben“ habe. Der Untreue hätten sich die Leiter des ADGB insbesondere dadurch schuldig gemacht, daß sie entgegen den satzungsmä-ßigen Zwecken große Beträge für politische Zwecke an die sozialdemokratische Partei Deutschlands und an dieser nahestehende Organisationen gegeben hätten. Solche Zuwendungen seien auch noch im Jahre 1933 in Höhe von mehreren hunderttausend Mark erfolgt. Zur Sicherstellung dieser veruntreuten Gelder erschienen Maßnahmen zur Beschlagnahme dringend erforderlich (IWK 4/84, Seite 518). Gestützt darauf verfügt dann der Generalstaatsanwalt nicht nur die Beschlagnahme des (ohnehin bereits übernommenen) Gewerkschaftsvermögens, sondern auch die Beschlagnahme des Vermögens „der sozialdemokratischen Partei Deutschlands, der sozialdemokratischen Zeitungen und des Reichsbanners schwarz-rot-gold“!

Daß diese Verfügung juristisch auf sehr „wackligen Füßen“ stand, haben Dapper/Rouette schon 1984 Punkt für Punkt nachgewiesen. Die Beschlagnahme im Rahmen eines endlosen „Ermittlungsverfahrens“ gestattete der DAF, über das ADGB-Vermögen treuhänderisch zu verfügen, ohne die aus dem Vermögen herrührenden Verpflichtungen erfüllen zu müssen. Die Gläubiger und betrogenen Rentner liefen beim Ministerialrat Erbe jahrelang ins bürokratische Leere.

Wer angesichts der geschichtlichen Informationen aus den “dreißiger Jahren Lust zum Vergleichen zwischen den Schicksalen des ADGB- und des FDGB-Vermögens - oder mit anderen aktuellen Ereignissen - verspürt, sollte voreilige Analogien vermeiden. Nicht auszuschließen ist zwar, daß sich die Generalstaatsanwaltschaft der DDR am 3. Dezember 1989, als sie Harry Tisch „wegen Untreue“ verhaften ließ, vom Ermittlungsverfahren gegen Leipart inspirieren ließ; doch andere Ähnlichkeiten sind eher zufällig. Hegel glaubte erkannt zu haben, daß sich in der Geschichte alles zweimal ereignet; Marx aber ergänzte sarkastisch: einmal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Kann es auch umgekehrt sein, wenn man bedenkt, Was ehemalige DDR-Bürger mit den FDGB-Ferienheimen, den Kinderferienlagern, dem Sozialversicherungsausweis, den kostenlosen Kuren und natürlich dem Recht auf Arbeit verloren haben?

Dr. MATHIAS BRUNHEIMER

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