Der Zweck und die Mittel

Die Bewertung des Mauerbaus vor 40 Jahren bewegt viele Gemüter. Ich kenne niemanden, der ihn begrüßt, nicht sein Bedauern über Tote, Verletzte an der Grenze zum Ausdruck bringt. Aber ich kenne nicht wenige, die meinen, es hätte keine andere Alternative gegeben. Richtig ist, der Mauerbau stellte Resultat und Höhepunkt der Spaltung Deutschlands, Europas und der Welt im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges und der anschließenden globalen Blockkonfrontation dar. Tatsache ist, dass die Sowjetunion ihre Einflusssphäre auch nicht um die DDR verringert sehen wollte. Vor allem hätte sie befürchten müssen, dass auch die übrigen osteuropäischen Länder ins Wanken geraten wären. Die historische Rekonstruktion der Weltmachtlogik tendiert aber immer zur Relativierung, zur Verharmlosung der monströsen Wirklichkeit der Teilung der Stadt. Mauertote waren doch kein abstraktes Ergebnis des kalten Krieges allein. Die Opfer solcher Machtpolitik sind immer die so genannten kleinen Leute. Denken wir daran, die Abschottung war nicht nur auf das Reisen bezogen: Selbst einfachste Dinge, berufliche und verwandtschaftliche Kontakte oder der freie Austausch von Informationen standen unter Kontrolle und unter ständigem Generalverdacht. Wie viel Engagement wurde gehemmt durch die Mauer im Kopf, durch mal notwendige, mitunter völlig unnötige Anpassung. Abschottung - das gilt auch heute - verleiht nur scheinbare Sicherheit, hemmt aber immer die Entwicklung. Angeführt wird, dass die Massenflucht aus der DDR zum Mauerbau zwang. Es wird auch darauf hingewiesen, dass die Bundesrepublik Deutschland Fachkräfte abwarb und ökonomisch und propagandistisch intensiv gegen die DDR arbeitete. Die ökonomische Unterlegenheit der DDR wird mit ihren Reparationsleistungen, dem Marshall-Plan für die BRD und damit begründet, dass das Territorium der DDR ohnehin ökonomisch schwächer war. Spätestens hier beginnt eine Illusion. Man darf sich nichts vormachen, auch wenn es einen Marshall-Plan zu Gunsten der DDR gegeben und die BRD die Reparationen gezahlt hätte, auch wenn die DDR den ökonomisch stärkeren Teil nach 1945 geerbt hätte, sie wäre der Bundesrepublik Deutschland dennoch ökonomisch unterlegen gewesen. Denn eine ökonomische Überlegenheit wollte sich ja auch dann nicht herstellen, als keine Reparationsleistungen mehr zu erbringen waren, als keine Fachkräfte abgeworben werden konnten etc.. Im Gegenteil, der ökonomische Abstand wuchs zu Gunsten der BRD. Einmal angenommen, der Sozialismus in der DDR wäre so attraktiv gewesen, dass die im Westen ausgebildeten Fachkräfte massenhaft in die DDR geströmt wären, hätte das die DDR nicht ihrerseits propagandistisch und ökonomisch genutzt? Und wäre dann von denen, die so argumentieren, dem Westen wirklich zugebilligt worden, eine Mauer zu bauen und damit Grund- und Menschenrechte ihrer Bürgerinnen und Bürger zu verletzen? Wer sich diese Frage ehrlich stellt, kann sie nur mit Nein beantworten. Also bleibt für mich die Feststellung, so durfte die DDR nicht gerettet werden. Der Zweck heiligt eben die Mittel nicht. Auch eine sozialistische Gesellschaftsstruktur ist nur dann legitimiert, wenn sie von der Mehrheit gewollt wird. Sie zu ihr zu zwingen, nur weil eine sich selbst als Avantgarde bezeichnende Führung meint, es sei das Beste für diese, ist eben für demokratische Sozialistinnen und Sozialisten nicht akzeptabel. Es wird auch damit argumentiert, dass es auch an anderen Grenzen Tote gab und gibt, z. B. zwischen den USA und Mexiko. Abgesehen davon, dass bei solchen Rechtfertigungsversuchen nicht einmal der Anspruch erhoben wird, besser als kapitalistische Staaten zu sein, sondern höchstens genauso schlecht, gibt es einen Unterschied. Es macht immer noch einen Unterschied, ob ich Leute nicht in meine Wohnung hinein lasse, oder ob ich Leute daran hindere, die Wohnung zu verlassen. Letzteres ist Freiheitsberaubung, Ersteres nicht. Dennoch muss auch Ersteres politisch und moralisch verurteilt werden, aber gleichzusetzen ist es eben nicht. Man kann also den Mauerbau weltpolitisch erklären, als demokratische Sozialistin bzw. demokratischer Sozialist aber nicht rechtfertigen. Vor allem gilt dies dafür, dass die SED-Führung nach dem 13. August zu keiner Zeit ein Konzept zum Abbau der Mauer entwickelte. Sie hat sie ja nicht als »notwendiges Übel« behandelt, sondern auch noch gefeiert. Es war Friedrich, der erklärte: »...der Arbeiterpartei wird nichts anderes übrigbleiben, als die von den Bürgern verratene Agitation für bürgerliche Freiheit, Passfreiheit, Versammlungs- und Vereinsrecht trotz der Bürger fortzuführen. Ohne die Freiheiten kann sie selbst sich nicht frei bewegen; sie kämpft in diesem Kampf für ihr eigenes Lebensel...

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