Der erste Tote
Am 24. August 1961 wurde Günter Litfin an Berlins Grenze erschossen
Keine Ferien an der Ostsee. Papa studiert in Leningrad, und mein Bruder, gerade ein Jahr, hat Ernährungsstörungen - mit Mama auf der Jagd nach Möhren. Die alte Frau Meier hat wieder mal ein Pfund für uns aufgetrieben, seltsame Stimmung in ihrem Laden: Einige Kundinnen wechseln Blicke, Beunruhigung, Nervosität - diffuse Angst, die sich mir mitteilt. Sie löst sich erst wieder zu Haus, nachdem Mama Radio gehört hat und mir nicht ohne Stolz erklärt: Unser Staat ist bedroht gewesen. Er hat in allerletzter Minute einen antifaschistischen Schutzwall errichtet und einen neuen Krieg verhindert.
Günter Litfin war an diesem 13. August vierundzwanzig Jahre alt. Elf Tag später starb er. Die Kugeln der DDR-Grenzer töteten ihn, als er im Berliner Humboldthafen, gleich hinter der Charité, versuchte, in den Westen zu schwimmen.
Er war ein ausgezeichneter Schwimmer. Dennoch hatte er nicht geplant, den Weg durch das Hafenbecken zu nehmen. Vieles deutet darauf hin, dass er überhaupt keinen Plan besaß, sondern in Panik handelte: Er wollte raus, nach Westberlin, wo er eine kleine Wohnung besaß, und fürchtete, wenn er noch wartete, nie wieder dort hinzukönnen. Indiz seiner Kopflosigkeit - die Uhrzeit: 16.15 Uhr, helllichter Tag, das Gelände gut einzusehen. Wahrscheinlich war er schon seit dem Morgen verschiedene Punkte abgelaufen, um einen günstigen zu finden. Dann muss er sich entschlossen haben, das menschenleere Bahngelände zwischen Bahnhof Friedrichstraße und Lehrter Bahnhof zu überqueren. Mit den zwei Transportpolizisten, die aus einer Luke stiegen, hatte Litfin nicht gerechnet. Ihrem Anruf, stehen zu bleiben, kam er laut Protokoll nicht nach; als sie einen Warnschuss abgaben, sprang er kopfüber in die Spree, um zum Franz-Liszt-Ufer zu schwimmen. Salven peitschten durch das Wasser, verletzten ihn an Hals und Lippe, er gab auf, hob die Hände - worauf der Gefreite P. ihn mit einem Schuss im Genick traf. Nach 19 Uhr zog die Feuerwehr den Leichnam aus dem Becken.
Günter Litfin war der erste von 239 Menschen, die am »Ring um Berlin« erschossen wurden. Nachts zuvor waren die Grenzer zum ersten Mal vergattert worden, »zu verhindern oder zu vernichten«. »Er wusste das nicht«, sagt sein Bruder Jürgen, »sonst hätte er nicht gewagt zu fliehen. So viel Mut besaß er nicht, dazu war er zu sensibel.«
Ein neues Kleid für mich, blau mit Flügelärmeln. Zu Hause wird viel darüber geredet, dass uns jetzt keiner mehr ausbluten kann, dass wir der Wirtschaftssabotage endlich einen Riegel vorlegten, alle jetzt ehrlich arbeiten müssen und wir gar nicht in den Westen möchten, weil dort noch immer die Kriegstreiber sitzen. So steht es in unserer Zeitung. Von Günter Litfin schreibt sie nichts. Erst über eine Woche später, Reaktion auf die Westberichte, ist über jenen »Vorfall« zu lesen. Ich selbst lese noch keine Zeitung, abends im Bett verschlinge ich »Das eiserne Büffelchen«.
Ein Bild von Günter Litfin, als er noch lebte: ovales, intelligentes Gesicht, blauschwarze Locken, gut geschnitten, dunkelbraune Augen, geschwungener Mund, ein Seidenschal im Hemdkragen, wie ihn auch O.W. Fischer trug - er sah gut aus, ein Frauentyp, gepflegt bis in die Zehenspitzen. »Er hatte Geschmack«, sagt sein Bruder Jürgen, »den Chic, mich zu kleiden, hab ich von ihm. Einmal hat er sich einen Anzug genäht, hellblau, darin hat er immer wie Graf Yoster ausgesehen. Und er hat es fertiggebracht, auf dem Kudamm Wildlederschuhe im haargenau selben Farbton zu finden.« Ein Beau? »Ein Künstler«, glaubt sein Bruder, der sich für Günter prügelte, wenn die Jungs aus dem Weißenseer Kiez ihn wegen seines Aussehens mit dem Spitznamen »Puppe« hänselten: »Er war nicht der robuste Typ. Er brauchte mehr Streicheleinheiten als ich, war fantasievoll und empfindsam: Er las gern russische Literatur - Tschechow, Gorki, Makarenko. Und mich nahm er mit in die Waldbühne, dort hörten wir Lionel Hampton.«
Günter Litfin hatte in Weißensee den Beruf eines Herren- und Damenmaßschneiders erlernt. Da er dort, nach seinem guten Abschluss, pro Stunde nur knapp zwei Mark Ost verdiente, hatte er sich 55 »drüben« eine Arbeit gesucht, im Modeatelier Crokul am Zoo, zu dessen prominenten Kunden Grete Weiser und O.E. Hasse gehörten. Sie mochten den talentierten Jungen, pflegten ihn auch anzufordern, wenn sie zu Hause anprobierten, und gaben ihm gute Trinkgelder. Außerdem verdiente er zwei Mark fünfzig West bei Crokul, Geld, das er u.a. brauchte, um seine Eltern zu unterstützen. Die Mutter war Hausfrau, der Vater schwerkrank. Er hatte sich als Fleischer im Viehhof, später in der Weißenseer Fleisch & Wurstfabrik Josef Winter die Knochen kaputt gearbeitet. Von drei Söhnen war Günter der älteste. Ein vierter Sohn, sein Zwillingsbruder, war 1937 als Sechsjähriger nach einem Sturz ins Krankenhaus Schönstraße eingeliefert und dort vom Nazi-Chefarzt ermordet worden - das schwarze Haar, die dunklen Augen hatten den Mann glauben lassen, Alois sei ein Judenkind, weshalb er ihm bei der Narkose eine Überdosis verabreichte. Ein fünfter Sohn war 53 zwei Monate nach der Geburt gestorben - Schicksalsschläge für die Familie, die sie eng zusammenschweißte.
Günter »benähte« auch die Mutter, suchte ihr schöne Stoffe im Westen. Im Mai 1961 starb der Vater an einem Krebsleiden. Günter hatte zu diesem Zeitpunkt für sich und Freundin Monika schon eine eineinhalb Zimmerwohnung in Charlottenburg eingerichtet. Nichts Großartiges, nichts Aufregendes: Tisch und Sessel, Bett und Gardinen hatten ihm Kollegen geschenkt; die persönlichen Dinge, die er besaß, hatte er mit Bruder Jürgen in der S-Bahn rübergekarrt, als letztes seine Veritas. Im Westen war er auch krankenversichert, nur polizeilich gemeldet war er noch nicht. »Weil er noch bei Muttern schlief, um die er sich kümmerte, und fürchtete, mit einem Westausweis möglicherweise verhaftet zu werden: Das wurde ihm dann zum Verhängnis.«
»Zunächst schor man ihnen die Schädel kahl, schabte sorgsam jedes Härchen bis zur Wurzel ab. Wenn das Kopfscheren sich dem Ende näherte, töteten erfahrene Schlächter der Juan-juan in der Nähe ein ausgewachsenes Kamel ... Sie schnitten die Halshaut in Stücke und stülpten diese noch feuchtwarm über den geschorenen Schädel des Gefangenen, wo sie im Nu festklebten wie Pflaster, etwa so wie moderne Badekappen. Das hieß: einen Schiri anlegen. Wer nach solch einer Prozedur nicht unter Folterqualen starb, verlor für allezeit seine Gedächtnis...«*
Man muss wissen, wann man verloren hat. Erst recht muss es wissen, wer sich anmaßt, die Lebenswege von etlichen Millionen Menschen regeln zu wollen, denn so jemand trägt Verantwortung. Die historische Tragik ist: Schon am 13. August 1961 wäre die DDR am Ende gewesen; ihre Bürger liefen ihr weg. Neuer Anfang, neue Chance? Aktion Ochsenkopf, 11. Plenum - wir wurden ein glückliches Volk. Das seine Antifaschisten ehrte, als habe es nach 33 nur versehentlich nicht selbst im KZ oder Zuchthaus gesessen. Das den Sozialismus aufbaute, jene bessere Gesellschaft, die den Menschen wertschätzte. Das seine Kinder auf Schulen und Unis schickte, zumindest diejenigen, die nicht gegen die »Giftschränke« aufbegehrten.
Wahr ist auch: Günter Litfin wäre niemals in die Wische gezogen, nie hätte er mit den starken, stolzen, blauhemdsärmeligen Arbeitersöhnen Schwarze Pumpe aufgebaut - er hatte mit dem Arbeiter- und Bauernstaat nichts am Hut. Daran trug er weder Schuld noch Verdienst: Sein Vater, ein Katholik, hatte die Söhne katholisch erzogen. Und 1945 gehörte er zu den Begründern der illegalen CDU Weißensees, die zunächst geduldet wurde, jedoch nicht auf SED-Kurs einschwenkte; zu seinen Freunden gehörte Ernst Lemmer. Die Versammlungen fanden im Westen statt, dort, in einer Kneipe am Südstern, waren auch Günter und Jürgen Litfin in die CDU eingetreten. Mit ihren Fahrrädern schmuggelten sie die Parteizeitung in den Osten, stets mit einem Bein im Gefängnis. Und immer von Leuten umgeben, die mit dem neuen Staat kollidierten. Jürgen Litfin: »Nach einem durchzechten Abend hatte sich einer von Vaters Kollegen aus der Fleisch & Wurstfabrik an einer Litfass-Säule entleert, an der zufällig Stalin klebte. Er überlebte Brandenburg nicht - auch das hat unser Weltbild geprägt.«
Wer damals mit brennendem Herzen einer Utopie folgte, der schönsten aller Utopien, konnte Leute wie Litfins nicht mögen. Trotzdem oder gerade deshalb hätten wir mit ihnen leben müssen - auch um unserer selbst Willen. Das sagt sich leicht, vierzig Jahre danach? Die so fragen, wissen es besser: Nein, es sagt sich unheimlich schwer.
Es ist hart auf der Pressebank. Grenz- und Politbüroprozesse. Seitens der Verteidigung scheint wiederholt die Frage auf: Ja, was waren denn das für Menschen, die gegen das Grenzregime verstießen, wohl wissend, dass sie den Tod riskierten? Abenteurer, Hasardeure, Arbeitsscheue, Kriminelle, Menschen, die dem Mammon nachliefen! Juden - uneingeschränktes Verdienst - fehlen in der Aufzählung. Ich frage mich etwas anderes: Was waren das für Menschen, die blieben?
Es war nicht schade um Günter Litfin. Jedenfalls implizieren das die Kommentare von 61, die ich aus dem ND-Archiv fische. Dort erscheint er als Ungelernter, der keiner geregelten Arbeit nachging, als Homosexueller, als Stricher, als übler Zuhälter wie Horst Wessel. »Puppe«, der Name sei eindeutig. Am 24. August sei er beim (erfolglosen!) Versuch, unweit des Bahnhofs Friedrichstraße »verbrecherische Handlungen« zu begehen, von der Volkspolizei gestellt worden. Mit seinem Sprung in die Spree habe er sich der Verhaftung entziehen wollen, wobei er - lapidar - »den Tod fand«. »Günter war nicht schwul«, sagt sein Bruder. Selbst wenn? Es zieht sich durch die Geschichte: Indem man die Opfer herabsetzt, wird Töten gerechtfertigt. Man weint ihnen keine Träne nach, sie sterben ein zweites Mal.
Zu Günter Litfins Beerdigung kamen lediglich 80 Menschen, glaubt man dem Stasi-Protokoll. 800 bis 1000 Menschen, glaubt man dem Gedächtnis Jürgen Litfins. Von da an wurde die Familie allerdings zunehmend isoliert, »es war gefährlich, mit uns im Kontakt zu stehen«. Auch die Spur von Günters Freundin Monika verlor sich schnell. In Westberlin ließ Willy Brandt dem Toten einen Gedenkstein setzen. 1996, als die Mauer kein Thema mehr war, verschwand der Stein vom Franz-Liszt-Ufer, an dem Baumaßnahmen begannen. Viereinhalb Jahre blieb er verschollen, ohne dass es jemandem auffiel. Erst im letzten Dezember erfuhr Jürgen Litfin, ein Bauarbeiter habe den Stein im Haus am Checkpoint Charlie abgegeben. Da der Senat als Eigentümer sich nicht mehr interessiert zeigte, ließ Jürgen Litfin ihn mit Hilfe eines Sponsors restaurieren und kürzlich an der Sandkrugbrücke in Berlin wieder aufstellen.
In Weißensee wurde letztes Jahr eine Straße nach seinem Bruder benannt, eine Straße mit Einfamilienhäusern. Die Anwohner wehrten sich, einen »Wirtschaftsverbrecher« zu ehren. Wäre aus ihm, es ist ja denkbar, ein Karl Lagerfeld geworden, hätten sie sich wahrscheinlich beschwert, dass sie sich als arme Ossis Haute Couture nicht leisten können.
Günter Litfin, der erste Mauertote. Unzählige folgten, die noch leben. Tatsächlich starb Günter Litfin damals wegen zwei Mark fünfzig West. Kaum anderthalb Jahrzehnte später wollten die besten der Genossen nichts lieber als »Reisekader« werden, und einer meiner Kommilitonen, Sohn eines Politbüromitglieds, protzte mit einem Blauen vor uns - über zwei Mark fünfzig West hätte er nur matt gelächelt. Heute hört man: Der Westen ist auch nicht besser. Alles dreht sich nur ums Geld, und, wie Genua wieder beweist, zählen Menschenleben erst recht nicht...
Stimmt. Aber an manchen Tagen, an manchen Tagen wenigstens, sollte man über sich selbst nachdenken.
* Tschingis Aitmatow: »Der Tag zieht den Jahrhundertweg«Keine Ferien an der Ostsee. Papa studiert in Leningrad, und mein Bruder, gerade ein Jahr, hat Ernährungsstörungen - mit Mama auf der Jagd nach Möhren. Die alte Frau Meier hat wieder mal ein Pfund für uns aufgetrieben, seltsame Stimmung in ihrem Laden: Einige Kundinnen wechseln Blicke, Beunruhigung, Nervosität - diffuse Angst, die sich mir mitteilt. Sie löst sich erst wieder zu Haus, nachdem Mama Radio gehört hat und mir nicht ohne Stolz erklärt: Unser Staat ist bedroht gewesen. Er hat in allerletzter Minute einen antifaschistischen Schutzwall errichtet und einen neuen Krieg verhindert.
Günter Litfin war an diesem 13. August vierundzwanzig Jahre alt. Elf Tag später starb er. Die Kugeln der DDR-Grenzer töteten ihn, als er im Berliner Humboldthafen, gleich hinter der Charité, versuchte, in den Westen zu schwimmen.
Er war ein ausgezeichneter Schwimmer. Dennoch hatte er nicht geplant, den Weg durch das Hafenbecken zu nehmen. Vieles deutet darauf hin, dass er überhaupt keinen Plan besaß, sondern in Panik handelte: Er wollte raus, nach Westberlin, wo er eine kleine Wohnung besaß, und fürchtete, wenn er noch wartete, nie wieder dort hinzukönnen. Indiz seiner Kopflosigkeit - die Uhrzeit: 16.15 Uhr, helllichter Tag, das Gelände gut einzusehen. Wahrscheinlich war er schon seit dem Morgen verschiedene Punkte abgelaufen, um einen günstigen zu finden. Dann muss er sich entschlossen haben, das menschenleere Bahngelände zwischen Bahnhof Friedrichstraße und Lehrter Bahnhof zu überqueren. Mit den zwei Transportpolizisten, die aus einer Luke stiegen, hatte Litfin nicht gerechnet. Ihrem Anruf, stehen zu bleiben, kam er laut Protokoll nicht nach; als sie einen Warnschuss abgaben, sprang er kopfüber in die Spree, um zum Franz-Liszt-Ufer zu schwimmen. Salven peitschten durch das Wasser, verletzten ihn an Hals und Lippe, er gab auf, hob die Hände - worauf der Gefreite P. ihn mit einem Schuss im Genick traf. Nach 19 Uhr zog die Feuerwehr den Leichnam aus dem Becken.
Günter Litfin war der erste von 239 Menschen, die am »Ring um Berlin« erschossen wurden. Nachts zuvor waren die Grenzer zum ersten Mal vergattert worden, »zu verhindern oder zu vernichten«. »Er wusste das nicht«, sagt sein Bruder Jürgen, »sonst hätte er nicht gewagt zu fliehen. So viel Mut besaß er nicht, dazu war er zu sensibel.«
Ein neues Kleid für mich, blau mit Flügelärmeln. Zu Hause wird viel darüber geredet, dass uns jetzt keiner mehr ausbluten kann, dass wir der Wirtschaftssabotage endlich einen Riegel vorlegten, alle jetzt ehrlich arbeiten müssen und wir gar nicht in den Westen möchten, weil dort noch immer die Kriegstreiber sitzen. So steht es in unserer Zeitung. Von Günter Litfin schreibt sie nichts. Erst über eine Woche später, Reaktion auf die Westberichte, ist über jenen »Vorfall« zu lesen. Ich selbst lese noch keine Zeitung, abends im Bett verschlinge ich »Das eiserne Büffelchen«.
Ein Bild von Günter Litfin, als er noch lebte: ovales, intelligentes Gesicht, blauschwarze Locken, gut geschnitten, dunkelbraune Augen, geschwungener Mund, ein Seidenschal im Hemdkragen, wie ihn auch O.W. Fischer trug - er sah gut aus, ein Frauentyp, gepflegt bis in die Zehenspitzen. »Er hatte Geschmack«, sagt sein Bruder Jürgen, »den Chic, mich zu kleiden, hab ich von ihm. Einmal hat er sich einen Anzug genäht, hellblau, darin hat er immer wie Graf Yoster ausgesehen. Und er hat es fertiggebracht, auf dem Kudamm Wildlederschuhe im haargenau selben Farbton zu finden.« Ein Beau? »Ein Künstler«, glaubt sein Bruder, der sich für Günter prügelte, wenn die Jungs aus dem Weißenseer Kiez ihn wegen seines Aussehens mit dem Spitznamen »Puppe« hänselten: »Er war nicht der robuste Typ. Er brauchte mehr Streicheleinheiten als ich, war fantasievoll und empfindsam: Er las gern russische Literatur - Tschechow, Gorki, Makarenko. Und mich nahm er mit in die Waldbühne, dort hörten wir Lionel Hampton.«
Günter Litfin hatte in Weißensee den Beruf eines Herren- und Damenmaßschneiders erlernt. Da er dort, nach seinem guten Abschluss, pro Stunde nur knapp zwei Mark Ost verdiente, hatte er sich 55 »drüben« eine Arbeit gesucht, im Modeatelier Crokul am Zoo, zu dessen prominenten Kunden Grete Weiser und O.E. Hasse gehörten. Sie mochten den talentierten Jungen, pflegten ihn auch anzufordern, wenn sie zu Hause anprobierten, und gaben ihm gute Trinkgelder. Außerdem verdiente er zwei Mark fünfzig West bei Crokul, Geld, das er u.a. brauchte, um seine Eltern zu unterstützen. Die Mutter war Hausfrau, der Vater schwerkrank. Er hatte sich als Fleischer im Viehhof, später in der Weißenseer Fleisch & Wurstfabrik Josef Winter die Knochen kaputt gearbeitet. Von drei Söhnen war Günter der älteste. Ein vierter Sohn, sein Zwillingsbruder, war 1937 als Sechsjähriger nach einem Sturz ins Krankenhaus Schönstraße eingeliefert und dort vom Nazi-Chefarzt ermordet worden - das schwarze Haar, die dunklen Augen hatten den Mann glauben lassen, Alois sei ein Judenkind, weshalb er ihm bei der Narkose eine Überdosis verabreichte. Ein fünfter Sohn war 53 zwei Monate nach der Geburt gestorben - Schicksalsschläge für die Familie, die sie eng zusammenschweißte.
Günter »benähte« auch die Mutter, suchte ihr schöne Stoffe im Westen. Im Mai 1961 starb der Vater an einem Krebsleiden. Günter hatte zu diesem Zeitpunkt für sich und Freundin Monika schon eine eineinhalb Zimmerwohnung in Charlottenburg eingerichtet. Nichts Großartiges, nichts Aufregendes: Tisch und Sessel, Bett und Gardinen hatten ihm Kollegen geschenkt; die persönlichen Dinge, die er besaß, hatte er mit Bruder Jürgen in der S-Bahn rübergekarrt, als letztes seine Veritas. Im Westen war er auch krankenversichert, nur polizeilich gemeldet war er noch nicht. »Weil er noch bei Muttern schlief, um die er sich kümmerte, und fürchtete, mit einem Westausweis möglicherweise verhaftet zu werden: Das wurde ihm dann zum Verhängnis.«
»Zunächst schor man ihnen die Schädel kahl, schabte sorgsam jedes Härchen bis zur Wurzel ab. Wenn das Kopfscheren sich dem Ende näherte, töteten erfahrene Schlächter der Juan-juan in der Nähe ein ausgewachsenes Kamel ... Sie schnitten die Halshaut in Stücke und stülpten diese noch feuchtwarm über den geschorenen Schädel des Gefangenen, wo sie im Nu festklebten wie Pflaster, etwa so wie moderne Badekappen. Das hieß: einen Schiri anlegen. Wer nach solch einer Prozedur nicht unter Folterqualen starb, verlor für allezeit seine Gedächtnis...«*
Man muss wissen, wann man verloren hat. Erst recht muss es wissen, wer sich anmaßt, die Lebenswege von etlichen Millionen Menschen regeln zu wollen, denn so jemand trägt Verantwortung. Die historische Tragik ist: Schon am 13. August 1961 wäre die DDR am Ende gewesen; ihre Bürger liefen ihr weg. Neuer Anfang, neue Chance? Aktion Ochsenkopf, 11. Plenum - wir wurden ein glückliches Volk. Das seine Antifaschisten ehrte, als habe es nach 33 nur versehentlich nicht selbst im KZ oder Zuchthaus gesessen. Das den Sozialismus aufbaute, jene bessere Gesellschaft, die den Menschen wertschätzte. Das seine Kinder auf Schulen und Unis schickte, zumindest diejenigen, die nicht gegen die »Giftschränke« aufbegehrten.
Wahr ist auch: Günter Litfin wäre niemals in die Wische gezogen, nie hätte er mit den starken, stolzen, blauhemdsärmeligen Arbeitersöhnen Schwarze Pumpe aufgebaut - er hatte mit dem Arbeiter- und Bauernstaat nichts am Hut. Daran trug er weder Schuld noch Verdienst: Sein Vater, ein Katholik, hatte die Söhne katholisch erzogen. Und 1945 gehörte er zu den Begründern der illegalen CDU Weißensees, die zunächst geduldet wurde, jedoch nicht auf SED-Kurs einschwenkte; zu seinen Freunden gehörte Ernst Lemmer. Die Versammlungen fanden im Westen statt, dort, in einer Kneipe am Südstern, waren auch Günter und Jürgen Litfin in die CDU eingetreten. Mit ihren Fahrrädern schmuggelten sie die Parteizeitung in den Osten, stets mit einem Bein im Gefängnis. Und immer von Leuten umgeben, die mit dem neuen Staat kollidierten. Jürgen Litfin: »Nach einem durchzechten Abend hatte sich einer von Vaters Kollegen aus der Fleisch & Wurstfabrik an einer Litfass-Säule entleert, an der zufällig Stalin klebte. Er überlebte Brandenburg nicht - auch das hat unser Weltbild geprägt.«
Wer damals mit brennendem Herzen einer Utopie folgte, der schönsten aller Utopien, konnte Leute wie Litfins nicht mögen. Trotzdem oder gerade deshalb hätten wir mit ihnen leben müssen - auch um unserer selbst Willen. Das sagt sich leicht, vierzig Jahre danach? Die so fragen, wissen es besser: Nein, es sagt sich unheimlich schwer.
Es ist hart auf der Pressebank. Grenz- und Politbüroprozesse. Seitens der Verteidigung scheint wiederholt die Frage auf: Ja, was waren denn das für Menschen, die gegen das Grenzregime verstießen, wohl wissend, dass sie den Tod riskierten? Abenteurer, Hasardeure, Arbeitsscheue, Kriminelle, Menschen, die dem Mammon nachliefen! Juden - uneingeschränktes Verdienst - fehlen in der Aufzählung. Ich frage mich etwas anderes: Was waren das für Menschen, die blieben?
Es war nicht schade um Günter Litfin. Jedenfalls implizieren das die Kommentare von 61, die ich aus dem ND-Archiv fische. Dort erscheint er als Ungelernter, der keiner geregelten Arbeit nachging, als Homosexueller, als Stricher, als übler Zuhälter wie Horst Wessel. »Puppe«, der Name sei eindeutig. Am 24. August sei er beim (erfolglosen!) Versuch, unweit des Bahnhofs Friedrichstraße »verbrecherische Handlungen« zu begehen, von der Volkspolizei gestellt worden. Mit seinem Sprung in die Spree habe er sich der Verhaftung entziehen wollen, wobei er - lapidar - »den Tod fand«. »Günter war nicht schwul«, sagt sein Bruder. Selbst wenn? Es zieht sich durch die Geschichte: Indem man die Opfer herabsetzt, wird Töten gerechtfertigt. Man weint ihnen keine Träne nach, sie sterben ein zweites Mal.
Zu Günter Litfins Beerdigung kamen lediglich 80 Menschen, glaubt man dem Stasi-Protokoll. 800 bis 1000 Menschen, glaubt man dem Gedächtnis Jürgen Litfins. Von da an wurde die Familie allerdings zunehmend isoliert, »es war gefährlich, mit uns im Kontakt zu stehen«. Auch die Spur von Günters Freundin Monika verlor sich schnell. In Westberlin ließ Willy Brandt dem Toten einen Gedenkstein setzen. 1996, als die Mauer kein Thema mehr war, verschwand der Stein vom Franz-Liszt-Ufer, an dem Baumaßnahmen begannen. Viereinhalb Jahre blieb er verschollen, ohne dass es jemandem auffiel. Erst im letzten Dezember erfuhr Jürgen Litfin, ein Bauarbeiter habe den Stein im Haus am Checkpoint Charlie abgegeben. Da der Senat als Eigentümer sich nicht mehr interessiert zeigte, ließ Jürgen Litfin ihn mit Hilfe eines Sponsors restaurieren und kürzlich an der Sandkrugbrücke in Berlin wieder aufstellen.
In Weißensee wurde letztes Jahr eine Straße nach seinem Bruder benannt, eine Straße mit Einfamilienhäusern. Die Anwohner wehrten sich, einen »Wirtschaftsverbrecher« zu ehren. Wäre aus ihm, es ist ja denkbar, ein Karl Lagerfeld geworden, hätten sie sich wahrscheinlich beschwert, dass sie sich als arme Ossis Haute Couture nicht leisten können.
Günter Litfin, der erste Mauertote. Unzählige folgten, die noch leben. Tatsächlich starb Günter Litfin damals wegen zwei Mark fünfzig West. Kaum anderthalb Jahrzehnte später wollten die besten der Genossen nichts lieber als »Reisekader« werden, und einer meiner Kommilitonen, Sohn eines Politbüromitglieds, protzte mit einem Blauen vor uns - über zwei Mark fünfzig West hätte er nur matt gelächelt. Heute hört man: Der Westen ist auch nicht besser. Alles dreht sich nur ums Geld, und, wie Genua wieder beweist, zählen Menschenleben erst recht nicht...
Stimmt. Aber an manchen Tagen, an manchen Tagen wenigstens, sollte man über sich selbst nachdenken.
* Tschingis Aitmatow: »Der Tag zieht den Jahrhundertweg«
Günter Litfin war an diesem 13. August vierundzwanzig Jahre alt. Elf Tag später starb er. Die Kugeln der DDR-Grenzer töteten ihn, als er im Berliner Humboldthafen, gleich hinter der Charité, versuchte, in den Westen zu schwimmen.
Er war ein ausgezeichneter Schwimmer. Dennoch hatte er nicht geplant, den Weg durch das Hafenbecken zu nehmen. Vieles deutet darauf hin, dass er überhaupt keinen Plan besaß, sondern in Panik handelte: Er wollte raus, nach Westberlin, wo er eine kleine Wohnung besaß, und fürchtete, wenn er noch wartete, nie wieder dort hinzukönnen. Indiz seiner Kopflosigkeit - die Uhrzeit: 16.15 Uhr, helllichter Tag, das Gelände gut einzusehen. Wahrscheinlich war er schon seit dem Morgen verschiedene Punkte abgelaufen, um einen günstigen zu finden. Dann muss er sich entschlossen haben, das menschenleere Bahngelände zwischen Bahnhof Friedrichstraße und Lehrter Bahnhof zu überqueren. Mit den zwei Transportpolizisten, die aus einer Luke stiegen, hatte Litfin nicht gerechnet. Ihrem Anruf, stehen zu bleiben, kam er laut Protokoll nicht nach; als sie einen Warnschuss abgaben, sprang er kopfüber in die Spree, um zum Franz-Liszt-Ufer zu schwimmen. Salven peitschten durch das Wasser, verletzten ihn an Hals und Lippe, er gab auf, hob die Hände - worauf der Gefreite P. ihn mit einem Schuss im Genick traf. Nach 19 Uhr zog die Feuerwehr den Leichnam aus dem Becken.
Günter Litfin war der erste von 239 Menschen, die am »Ring um Berlin« erschossen wurden. Nachts zuvor waren die Grenzer zum ersten Mal vergattert worden, »zu verhindern oder zu vernichten«. »Er wusste das nicht«, sagt sein Bruder Jürgen, »sonst hätte er nicht gewagt zu fliehen. So viel Mut besaß er nicht, dazu war er zu sensibel.«
Ein neues Kleid für mich, blau mit Flügelärmeln. Zu Hause wird viel darüber geredet, dass uns jetzt keiner mehr ausbluten kann, dass wir der Wirtschaftssabotage endlich einen Riegel vorlegten, alle jetzt ehrlich arbeiten müssen und wir gar nicht in den Westen möchten, weil dort noch immer die Kriegstreiber sitzen. So steht es in unserer Zeitung. Von Günter Litfin schreibt sie nichts. Erst über eine Woche später, Reaktion auf die Westberichte, ist über jenen »Vorfall« zu lesen. Ich selbst lese noch keine Zeitung, abends im Bett verschlinge ich »Das eiserne Büffelchen«.
Ein Bild von Günter Litfin, als er noch lebte: ovales, intelligentes Gesicht, blauschwarze Locken, gut geschnitten, dunkelbraune Augen, geschwungener Mund, ein Seidenschal im Hemdkragen, wie ihn auch O.W. Fischer trug - er sah gut aus, ein Frauentyp, gepflegt bis in die Zehenspitzen. »Er hatte Geschmack«, sagt sein Bruder Jürgen, »den Chic, mich zu kleiden, hab ich von ihm. Einmal hat er sich einen Anzug genäht, hellblau, darin hat er immer wie Graf Yoster ausgesehen. Und er hat es fertiggebracht, auf dem Kudamm Wildlederschuhe im haargenau selben Farbton zu finden.« Ein Beau? »Ein Künstler«, glaubt sein Bruder, der sich für Günter prügelte, wenn die Jungs aus dem Weißenseer Kiez ihn wegen seines Aussehens mit dem Spitznamen »Puppe« hänselten: »Er war nicht der robuste Typ. Er brauchte mehr Streicheleinheiten als ich, war fantasievoll und empfindsam: Er las gern russische Literatur - Tschechow, Gorki, Makarenko. Und mich nahm er mit in die Waldbühne, dort hörten wir Lionel Hampton.«
Günter Litfin hatte in Weißensee den Beruf eines Herren- und Damenmaßschneiders erlernt. Da er dort, nach seinem guten Abschluss, pro Stunde nur knapp zwei Mark Ost verdiente, hatte er sich 55 »drüben« eine Arbeit gesucht, im Modeatelier Crokul am Zoo, zu dessen prominenten Kunden Grete Weiser und O.E. Hasse gehörten. Sie mochten den talentierten Jungen, pflegten ihn auch anzufordern, wenn sie zu Hause anprobierten, und gaben ihm gute Trinkgelder. Außerdem verdiente er zwei Mark fünfzig West bei Crokul, Geld, das er u.a. brauchte, um seine Eltern zu unterstützen. Die Mutter war Hausfrau, der Vater schwerkrank. Er hatte sich als Fleischer im Viehhof, später in der Weißenseer Fleisch & Wurstfabrik Josef Winter die Knochen kaputt gearbeitet. Von drei Söhnen war Günter der älteste. Ein vierter Sohn, sein Zwillingsbruder, war 1937 als Sechsjähriger nach einem Sturz ins Krankenhaus Schönstraße eingeliefert und dort vom Nazi-Chefarzt ermordet worden - das schwarze Haar, die dunklen Augen hatten den Mann glauben lassen, Alois sei ein Judenkind, weshalb er ihm bei der Narkose eine Überdosis verabreichte. Ein fünfter Sohn war 53 zwei Monate nach der Geburt gestorben - Schicksalsschläge für die Familie, die sie eng zusammenschweißte.
Günter »benähte« auch die Mutter, suchte ihr schöne Stoffe im Westen. Im Mai 1961 starb der Vater an einem Krebsleiden. Günter hatte zu diesem Zeitpunkt für sich und Freundin Monika schon eine eineinhalb Zimmerwohnung in Charlottenburg eingerichtet. Nichts Großartiges, nichts Aufregendes: Tisch und Sessel, Bett und Gardinen hatten ihm Kollegen geschenkt; die persönlichen Dinge, die er besaß, hatte er mit Bruder Jürgen in der S-Bahn rübergekarrt, als letztes seine Veritas. Im Westen war er auch krankenversichert, nur polizeilich gemeldet war er noch nicht. »Weil er noch bei Muttern schlief, um die er sich kümmerte, und fürchtete, mit einem Westausweis möglicherweise verhaftet zu werden: Das wurde ihm dann zum Verhängnis.«
»Zunächst schor man ihnen die Schädel kahl, schabte sorgsam jedes Härchen bis zur Wurzel ab. Wenn das Kopfscheren sich dem Ende näherte, töteten erfahrene Schlächter der Juan-juan in der Nähe ein ausgewachsenes Kamel ... Sie schnitten die Halshaut in Stücke und stülpten diese noch feuchtwarm über den geschorenen Schädel des Gefangenen, wo sie im Nu festklebten wie Pflaster, etwa so wie moderne Badekappen. Das hieß: einen Schiri anlegen. Wer nach solch einer Prozedur nicht unter Folterqualen starb, verlor für allezeit seine Gedächtnis...«*
Man muss wissen, wann man verloren hat. Erst recht muss es wissen, wer sich anmaßt, die Lebenswege von etlichen Millionen Menschen regeln zu wollen, denn so jemand trägt Verantwortung. Die historische Tragik ist: Schon am 13. August 1961 wäre die DDR am Ende gewesen; ihre Bürger liefen ihr weg. Neuer Anfang, neue Chance? Aktion Ochsenkopf, 11. Plenum - wir wurden ein glückliches Volk. Das seine Antifaschisten ehrte, als habe es nach 33 nur versehentlich nicht selbst im KZ oder Zuchthaus gesessen. Das den Sozialismus aufbaute, jene bessere Gesellschaft, die den Menschen wertschätzte. Das seine Kinder auf Schulen und Unis schickte, zumindest diejenigen, die nicht gegen die »Giftschränke« aufbegehrten.
Wahr ist auch: Günter Litfin wäre niemals in die Wische gezogen, nie hätte er mit den starken, stolzen, blauhemdsärmeligen Arbeitersöhnen Schwarze Pumpe aufgebaut - er hatte mit dem Arbeiter- und Bauernstaat nichts am Hut. Daran trug er weder Schuld noch Verdienst: Sein Vater, ein Katholik, hatte die Söhne katholisch erzogen. Und 1945 gehörte er zu den Begründern der illegalen CDU Weißensees, die zunächst geduldet wurde, jedoch nicht auf SED-Kurs einschwenkte; zu seinen Freunden gehörte Ernst Lemmer. Die Versammlungen fanden im Westen statt, dort, in einer Kneipe am Südstern, waren auch Günter und Jürgen Litfin in die CDU eingetreten. Mit ihren Fahrrädern schmuggelten sie die Parteizeitung in den Osten, stets mit einem Bein im Gefängnis. Und immer von Leuten umgeben, die mit dem neuen Staat kollidierten. Jürgen Litfin: »Nach einem durchzechten Abend hatte sich einer von Vaters Kollegen aus der Fleisch & Wurstfabrik an einer Litfass-Säule entleert, an der zufällig Stalin klebte. Er überlebte Brandenburg nicht - auch das hat unser Weltbild geprägt.«
Wer damals mit brennendem Herzen einer Utopie folgte, der schönsten aller Utopien, konnte Leute wie Litfins nicht mögen. Trotzdem oder gerade deshalb hätten wir mit ihnen leben müssen - auch um unserer selbst Willen. Das sagt sich leicht, vierzig Jahre danach? Die so fragen, wissen es besser: Nein, es sagt sich unheimlich schwer.
Es ist hart auf der Pressebank. Grenz- und Politbüroprozesse. Seitens der Verteidigung scheint wiederholt die Frage auf: Ja, was waren denn das für Menschen, die gegen das Grenzregime verstießen, wohl wissend, dass sie den Tod riskierten? Abenteurer, Hasardeure, Arbeitsscheue, Kriminelle, Menschen, die dem Mammon nachliefen! Juden - uneingeschränktes Verdienst - fehlen in der Aufzählung. Ich frage mich etwas anderes: Was waren das für Menschen, die blieben?
Es war nicht schade um Günter Litfin. Jedenfalls implizieren das die Kommentare von 61, die ich aus dem ND-Archiv fische. Dort erscheint er als Ungelernter, der keiner geregelten Arbeit nachging, als Homosexueller, als Stricher, als übler Zuhälter wie Horst Wessel. »Puppe«, der Name sei eindeutig. Am 24. August sei er beim (erfolglosen!) Versuch, unweit des Bahnhofs Friedrichstraße »verbrecherische Handlungen« zu begehen, von der Volkspolizei gestellt worden. Mit seinem Sprung in die Spree habe er sich der Verhaftung entziehen wollen, wobei er - lapidar - »den Tod fand«. »Günter war nicht schwul«, sagt sein Bruder. Selbst wenn? Es zieht sich durch die Geschichte: Indem man die Opfer herabsetzt, wird Töten gerechtfertigt. Man weint ihnen keine Träne nach, sie sterben ein zweites Mal.
Zu Günter Litfins Beerdigung kamen lediglich 80 Menschen, glaubt man dem Stasi-Protokoll. 800 bis 1000 Menschen, glaubt man dem Gedächtnis Jürgen Litfins. Von da an wurde die Familie allerdings zunehmend isoliert, »es war gefährlich, mit uns im Kontakt zu stehen«. Auch die Spur von Günters Freundin Monika verlor sich schnell. In Westberlin ließ Willy Brandt dem Toten einen Gedenkstein setzen. 1996, als die Mauer kein Thema mehr war, verschwand der Stein vom Franz-Liszt-Ufer, an dem Baumaßnahmen begannen. Viereinhalb Jahre blieb er verschollen, ohne dass es jemandem auffiel. Erst im letzten Dezember erfuhr Jürgen Litfin, ein Bauarbeiter habe den Stein im Haus am Checkpoint Charlie abgegeben. Da der Senat als Eigentümer sich nicht mehr interessiert zeigte, ließ Jürgen Litfin ihn mit Hilfe eines Sponsors restaurieren und kürzlich an der Sandkrugbrücke in Berlin wieder aufstellen.
In Weißensee wurde letztes Jahr eine Straße nach seinem Bruder benannt, eine Straße mit Einfamilienhäusern. Die Anwohner wehrten sich, einen »Wirtschaftsverbrecher« zu ehren. Wäre aus ihm, es ist ja denkbar, ein Karl Lagerfeld geworden, hätten sie sich wahrscheinlich beschwert, dass sie sich als arme Ossis Haute Couture nicht leisten können.
Günter Litfin, der erste Mauertote. Unzählige folgten, die noch leben. Tatsächlich starb Günter Litfin damals wegen zwei Mark fünfzig West. Kaum anderthalb Jahrzehnte später wollten die besten der Genossen nichts lieber als »Reisekader« werden, und einer meiner Kommilitonen, Sohn eines Politbüromitglieds, protzte mit einem Blauen vor uns - über zwei Mark fünfzig West hätte er nur matt gelächelt. Heute hört man: Der Westen ist auch nicht besser. Alles dreht sich nur ums Geld, und, wie Genua wieder beweist, zählen Menschenleben erst recht nicht...
Stimmt. Aber an manchen Tagen, an manchen Tagen wenigstens, sollte man über sich selbst nachdenken.
* Tschingis Aitmatow: »Der Tag zieht den Jahrhundertweg«Keine Ferien an der Ostsee. Papa studiert in Leningrad, und mein Bruder, gerade ein Jahr, hat Ernährungsstörungen - mit Mama auf der Jagd nach Möhren. Die alte Frau Meier hat wieder mal ein Pfund für uns aufgetrieben, seltsame Stimmung in ihrem Laden: Einige Kundinnen wechseln Blicke, Beunruhigung, Nervosität - diffuse Angst, die sich mir mitteilt. Sie löst sich erst wieder zu Haus, nachdem Mama Radio gehört hat und mir nicht ohne Stolz erklärt: Unser Staat ist bedroht gewesen. Er hat in allerletzter Minute einen antifaschistischen Schutzwall errichtet und einen neuen Krieg verhindert.
Günter Litfin war an diesem 13. August vierundzwanzig Jahre alt. Elf Tag später starb er. Die Kugeln der DDR-Grenzer töteten ihn, als er im Berliner Humboldthafen, gleich hinter der Charité, versuchte, in den Westen zu schwimmen.
Er war ein ausgezeichneter Schwimmer. Dennoch hatte er nicht geplant, den Weg durch das Hafenbecken zu nehmen. Vieles deutet darauf hin, dass er überhaupt keinen Plan besaß, sondern in Panik handelte: Er wollte raus, nach Westberlin, wo er eine kleine Wohnung besaß, und fürchtete, wenn er noch wartete, nie wieder dort hinzukönnen. Indiz seiner Kopflosigkeit - die Uhrzeit: 16.15 Uhr, helllichter Tag, das Gelände gut einzusehen. Wahrscheinlich war er schon seit dem Morgen verschiedene Punkte abgelaufen, um einen günstigen zu finden. Dann muss er sich entschlossen haben, das menschenleere Bahngelände zwischen Bahnhof Friedrichstraße und Lehrter Bahnhof zu überqueren. Mit den zwei Transportpolizisten, die aus einer Luke stiegen, hatte Litfin nicht gerechnet. Ihrem Anruf, stehen zu bleiben, kam er laut Protokoll nicht nach; als sie einen Warnschuss abgaben, sprang er kopfüber in die Spree, um zum Franz-Liszt-Ufer zu schwimmen. Salven peitschten durch das Wasser, verletzten ihn an Hals und Lippe, er gab auf, hob die Hände - worauf der Gefreite P. ihn mit einem Schuss im Genick traf. Nach 19 Uhr zog die Feuerwehr den Leichnam aus dem Becken.
Günter Litfin war der erste von 239 Menschen, die am »Ring um Berlin« erschossen wurden. Nachts zuvor waren die Grenzer zum ersten Mal vergattert worden, »zu verhindern oder zu vernichten«. »Er wusste das nicht«, sagt sein Bruder Jürgen, »sonst hätte er nicht gewagt zu fliehen. So viel Mut besaß er nicht, dazu war er zu sensibel.«
Ein neues Kleid für mich, blau mit Flügelärmeln. Zu Hause wird viel darüber geredet, dass uns jetzt keiner mehr ausbluten kann, dass wir der Wirtschaftssabotage endlich einen Riegel vorlegten, alle jetzt ehrlich arbeiten müssen und wir gar nicht in den Westen möchten, weil dort noch immer die Kriegstreiber sitzen. So steht es in unserer Zeitung. Von Günter Litfin schreibt sie nichts. Erst über eine Woche später, Reaktion auf die Westberichte, ist über jenen »Vorfall« zu lesen. Ich selbst lese noch keine Zeitung, abends im Bett verschlinge ich »Das eiserne Büffelchen«.
Ein Bild von Günter Litfin, als er noch lebte: ovales, intelligentes Gesicht, blauschwarze Locken, gut geschnitten, dunkelbraune Augen, geschwungener Mund, ein Seidenschal im Hemdkragen, wie ihn auch O.W. Fischer trug - er sah gut aus, ein Frauentyp, gepflegt bis in die Zehenspitzen. »Er hatte Geschmack«, sagt sein Bruder Jürgen, »den Chic, mich zu kleiden, hab ich von ihm. Einmal hat er sich einen Anzug genäht, hellblau, darin hat er immer wie Graf Yoster ausgesehen. Und er hat es fertiggebracht, auf dem Kudamm Wildlederschuhe im haargenau selben Farbton zu finden.« Ein Beau? »Ein Künstler«, glaubt sein Bruder, der sich für Günter prügelte, wenn die Jungs aus dem Weißenseer Kiez ihn wegen seines Aussehens mit dem Spitznamen »Puppe« hänselten: »Er war nicht der robuste Typ. Er brauchte mehr Streicheleinheiten als ich, war fantasievoll und empfindsam: Er las gern russische Literatur - Tschechow, Gorki, Makarenko. Und mich nahm er mit in die Waldbühne, dort hörten wir Lionel Hampton.«
Günter Litfin hatte in Weißensee den Beruf eines Herren- und Damenmaßschneiders erlernt. Da er dort, nach seinem guten Abschluss, pro Stunde nur knapp zwei Mark Ost verdiente, hatte er sich 55 »drüben« eine Arbeit gesucht, im Modeatelier Crokul am Zoo, zu dessen prominenten Kunden Grete Weiser und O.E. Hasse gehörten. Sie mochten den talentierten Jungen, pflegten ihn auch anzufordern, wenn sie zu Hause anprobierten, und gaben ihm gute Trinkgelder. Außerdem verdiente er zwei Mark fünfzig West bei Crokul, Geld, das er u.a. brauchte, um seine Eltern zu unterstützen. Die Mutter war Hausfrau, der Vater schwerkrank. Er hatte sich als Fleischer im Viehhof, später in der Weißenseer Fleisch & Wurstfabrik Josef Winter die Knochen kaputt gearbeitet. Von drei Söhnen war Günter der älteste. Ein vierter Sohn, sein Zwillingsbruder, war 1937 als Sechsjähriger nach einem Sturz ins Krankenhaus Schönstraße eingeliefert und dort vom Nazi-Chefarzt ermordet worden - das schwarze Haar, die dunklen Augen hatten den Mann glauben lassen, Alois sei ein Judenkind, weshalb er ihm bei der Narkose eine Überdosis verabreichte. Ein fünfter Sohn war 53 zwei Monate nach der Geburt gestorben - Schicksalsschläge für die Familie, die sie eng zusammenschweißte.
Günter »benähte« auch die Mutter, suchte ihr schöne Stoffe im Westen. Im Mai 1961 starb der Vater an einem Krebsleiden. Günter hatte zu diesem Zeitpunkt für sich und Freundin Monika schon eine eineinhalb Zimmerwohnung in Charlottenburg eingerichtet. Nichts Großartiges, nichts Aufregendes: Tisch und Sessel, Bett und Gardinen hatten ihm Kollegen geschenkt; die persönlichen Dinge, die er besaß, hatte er mit Bruder Jürgen in der S-Bahn rübergekarrt, als letztes seine Veritas. Im Westen war er auch krankenversichert, nur polizeilich gemeldet war er noch nicht. »Weil er noch bei Muttern schlief, um die er sich kümmerte, und fürchtete, mit einem Westausweis möglicherweise verhaftet zu werden: Das wurde ihm dann zum Verhängnis.«
»Zunächst schor man ihnen die Schädel kahl, schabte sorgsam jedes Härchen bis zur Wurzel ab. Wenn das Kopfscheren sich dem Ende näherte, töteten erfahrene Schlächter der Juan-juan in der Nähe ein ausgewachsenes Kamel ... Sie schnitten die Halshaut in Stücke und stülpten diese noch feuchtwarm über den geschorenen Schädel des Gefangenen, wo sie im Nu festklebten wie Pflaster, etwa so wie moderne Badekappen. Das hieß: einen Schiri anlegen. Wer nach solch einer Prozedur nicht unter Folterqualen starb, verlor für allezeit seine Gedächtnis...«*
Man muss wissen, wann man verloren hat. Erst recht muss es wissen, wer sich anmaßt, die Lebenswege von etlichen Millionen Menschen regeln zu wollen, denn so jemand trägt Verantwortung. Die historische Tragik ist: Schon am 13. August 1961 wäre die DDR am Ende gewesen; ihre Bürger liefen ihr weg. Neuer Anfang, neue Chance? Aktion Ochsenkopf, 11. Plenum - wir wurden ein glückliches Volk. Das seine Antifaschisten ehrte, als habe es nach 33 nur versehentlich nicht selbst im KZ oder Zuchthaus gesessen. Das den Sozialismus aufbaute, jene bessere Gesellschaft, die den Menschen wertschätzte. Das seine Kinder auf Schulen und Unis schickte, zumindest diejenigen, die nicht gegen die »Giftschränke« aufbegehrten.
Wahr ist auch: Günter Litfin wäre niemals in die Wische gezogen, nie hätte er mit den starken, stolzen, blauhemdsärmeligen Arbeitersöhnen Schwarze Pumpe aufgebaut - er hatte mit dem Arbeiter- und Bauernstaat nichts am Hut. Daran trug er weder Schuld noch Verdienst: Sein Vater, ein Katholik, hatte die Söhne katholisch erzogen. Und 1945 gehörte er zu den Begründern der illegalen CDU Weißensees, die zunächst geduldet wurde, jedoch nicht auf SED-Kurs einschwenkte; zu seinen Freunden gehörte Ernst Lemmer. Die Versammlungen fanden im Westen statt, dort, in einer Kneipe am Südstern, waren auch Günter und Jürgen Litfin in die CDU eingetreten. Mit ihren Fahrrädern schmuggelten sie die Parteizeitung in den Osten, stets mit einem Bein im Gefängnis. Und immer von Leuten umgeben, die mit dem neuen Staat kollidierten. Jürgen Litfin: »Nach einem durchzechten Abend hatte sich einer von Vaters Kollegen aus der Fleisch & Wurstfabrik an einer Litfass-Säule entleert, an der zufällig Stalin klebte. Er überlebte Brandenburg nicht - auch das hat unser Weltbild geprägt.«
Wer damals mit brennendem Herzen einer Utopie folgte, der schönsten aller Utopien, konnte Leute wie Litfins nicht mögen. Trotzdem oder gerade deshalb hätten wir mit ihnen leben müssen - auch um unserer selbst Willen. Das sagt sich leicht, vierzig Jahre danach? Die so fragen, wissen es besser: Nein, es sagt sich unheimlich schwer.
Es ist hart auf der Pressebank. Grenz- und Politbüroprozesse. Seitens der Verteidigung scheint wiederholt die Frage auf: Ja, was waren denn das für Menschen, die gegen das Grenzregime verstießen, wohl wissend, dass sie den Tod riskierten? Abenteurer, Hasardeure, Arbeitsscheue, Kriminelle, Menschen, die dem Mammon nachliefen! Juden - uneingeschränktes Verdienst - fehlen in der Aufzählung. Ich frage mich etwas anderes: Was waren das für Menschen, die blieben?
Es war nicht schade um Günter Litfin. Jedenfalls implizieren das die Kommentare von 61, die ich aus dem ND-Archiv fische. Dort erscheint er als Ungelernter, der keiner geregelten Arbeit nachging, als Homosexueller, als Stricher, als übler Zuhälter wie Horst Wessel. »Puppe«, der Name sei eindeutig. Am 24. August sei er beim (erfolglosen!) Versuch, unweit des Bahnhofs Friedrichstraße »verbrecherische Handlungen« zu begehen, von der Volkspolizei gestellt worden. Mit seinem Sprung in die Spree habe er sich der Verhaftung entziehen wollen, wobei er - lapidar - »den Tod fand«. »Günter war nicht schwul«, sagt sein Bruder. Selbst wenn? Es zieht sich durch die Geschichte: Indem man die Opfer herabsetzt, wird Töten gerechtfertigt. Man weint ihnen keine Träne nach, sie sterben ein zweites Mal.
Zu Günter Litfins Beerdigung kamen lediglich 80 Menschen, glaubt man dem Stasi-Protokoll. 800 bis 1000 Menschen, glaubt man dem Gedächtnis Jürgen Litfins. Von da an wurde die Familie allerdings zunehmend isoliert, »es war gefährlich, mit uns im Kontakt zu stehen«. Auch die Spur von Günters Freundin Monika verlor sich schnell. In Westberlin ließ Willy Brandt dem Toten einen Gedenkstein setzen. 1996, als die Mauer kein Thema mehr war, verschwand der Stein vom Franz-Liszt-Ufer, an dem Baumaßnahmen begannen. Viereinhalb Jahre blieb er verschollen, ohne dass es jemandem auffiel. Erst im letzten Dezember erfuhr Jürgen Litfin, ein Bauarbeiter habe den Stein im Haus am Checkpoint Charlie abgegeben. Da der Senat als Eigentümer sich nicht mehr interessiert zeigte, ließ Jürgen Litfin ihn mit Hilfe eines Sponsors restaurieren und kürzlich an der Sandkrugbrücke in Berlin wieder aufstellen.
In Weißensee wurde letztes Jahr eine Straße nach seinem Bruder benannt, eine Straße mit Einfamilienhäusern. Die Anwohner wehrten sich, einen »Wirtschaftsverbrecher« zu ehren. Wäre aus ihm, es ist ja denkbar, ein Karl Lagerfeld geworden, hätten sie sich wahrscheinlich beschwert, dass sie sich als arme Ossis Haute Couture nicht leisten können.
Günter Litfin, der erste Mauertote. Unzählige folgten, die noch leben. Tatsächlich starb Günter Litfin damals wegen zwei Mark fünfzig West. Kaum anderthalb Jahrzehnte später wollten die besten der Genossen nichts lieber als »Reisekader« werden, und einer meiner Kommilitonen, Sohn eines Politbüromitglieds, protzte mit einem Blauen vor uns - über zwei Mark fünfzig West hätte er nur matt gelächelt. Heute hört man: Der Westen ist auch nicht besser. Alles dreht sich nur ums Geld, und, wie Genua wieder beweist, zählen Menschenleben erst recht nicht...
Stimmt. Aber an manchen Tagen, an manchen Tagen wenigstens, sollte man über sich selbst nachdenken.
* Tschingis Aitmatow: »Der Tag zieht den Jahrhundertweg«
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