Die unheimliche Entdeckung in einem alten Lexikon
Ein altes Lexikon wirft Fragen auf, anstatt Antworten zu geben. Wenn es zutrifft, was darin eingezeichnet ist, dann offenbart es einen vor über 50 Jahren geplanten Landraub mitten in Deutschland. Der Spreewald südöstlich von Berlin, das Land der Sorben, einer slawischen Minderheitsvolksgruppe, sollte unter einem Stausee verschwinden. Eine Bestätigung für die Lexikon-Einzeichnung ist bislang nirgendwo zu bekommen, allenfalls Hinweise auf bevorstehende oder geplante Veränderungen in der Landschaft in schriftlichen Hinterlassenschaften jener Zeit.
Das Lexikon stammt aus dem Jahre 1886. Es gehörte vor reichlich einem halben Jahrhundert einem Berliner Bauingenieur, der das faschistische Deutschland dann verließ. Die 15 Bände von Meyers Konversationslexikon hatte er für wenige Mark den Nachmietern seiner Wohnung verkauft - mitsamt der Einzeichnung, die in Band 3 (Blattkäfer bis Chimbote) in der alten Karte der Provinz Brandenburg zu finden ist. Vielleicht wollte er eine Warnung vor etwas hinterlassen, was er erfahren hatte: Ein
„Adolf-Hitler-Stausee“ sollte das Land der Sorben überfluten.
Jahrzehntelang blieb seine Karteneinzeichnung unentdeckt. Erst als ein Westdeutscher im vergangenen Jahr den Wohnort seines verschollenen geglaubten Freundes in der Mark Brandenburg suchte, fand er auf der Karte, was anscheinend geplant, aber vom Krieg verhindert wurde. Der Plan - das besagen die Einzeichnungen des geflüchteten Bauingenieurs - sah einen Staudamm bei Lübben im Spreewald vor. Die aufgestaute Spree sollte dann das Land bis Mehlen im heutigen Polen und Sakro, nördlich von Forst an der Nei-ße, in einen See verwandeln. Forst wäre dann eine Uferstadt geworden, Cottbus hätte auf einer Halbinsel gelegen.
Mit einer Gesamtlänge von nahezu 7O Kilometer wäre der Stausee länger als der Bodensee geworden, der zwischen Bregenz und dem Einfluß der Stockach 62 Kilometer mißt. Er wäre auch breiter geworden, denn erst die Höhenzüge der Lausitz mit dem Marienberg und dem Spitzberg sollten den See im Norden begrenzen, während er der Einzeichnung zufolge im Süden
von Lübbenau und Vetschau bis Forst das Gebiet unter Wasser gesetzt hätte. Die heutige Transit-Autobahn E 36 von Berlin nach Wroclaw würde dann entlang seinem Ufer verlaufen.
Die Sorben, die seit dem sechsten Jahrhundert im Spreewald ansässig sind und sich über die Zeiten hinweg ihre Eigenständigkeit bewahrt haben, zählten 1936 etwa 60 000 Menschen im Spreewald und in der sächsischen Lausitz. Ein Spreewald-Stausee hätte malerische Städte wie Lübbenau, Fehrow, Burg, Alt und Straupitz verschluckt. Die Kanäle des Spreewaldes wären nur noch Rillen auf dem Grund des Sees. Ob die Spree allein es geschafft hätte, die gewaltigen Wassermassen heranzuführen, scheint auch dem Bauingenieur unwahrscheinlich. Er zeichnete nämlich die Neiße noch als östlichen Zufluß ein, und von Süden her sollten auch die Muze, die Szrake und die Berste den Stausee auffüllen - kleine Flüsse, die das Gebiet in nördlicher Richtung durchziehen.
Wie der Ingenieur an die Pläne gekommen ist, ob er selbst an Pla-
nungen oder Vorbereitungen beteiligt war oder ob er nur davon erfahren hatte, daß ein Stausee mit dem gemeint war, was 1939 in einem Schreiben der „Reichsstelle für Raumordnung“ als „allgemein bekannt“ über die „vorausschauende Planung im Wassereinzugsgebiet der Spree“ bezeichnet wird, bleibt offen. Ungeklärt ist auch die Frage, ob es detaillierte Pläne für den Stausee gab.
Im Bundesarchiv in Koblenz, wo selbst Entwürfe zu Gesprächsprotokollen aus jener Zeit aufbewahrt werden, blieben erste Recherchen ergebnislos. Die hier vorhandenen Unterlagen beziehen sich auf Maßnahmen zu Hochwasserregulierungen der Spree. Einige Stellen aus einem „Vermerk“ der „Reichsstelle für Raumordnung“ vom 12. Mai 1939 über eine Besprechung im Reichsernährungsministerium über die „Bildung eines Wassserverbandes Spree“ könnten jedoch als Hinweise auf den eventuell vorgesehenen Stausee gedeutet wer-, den. Daß der geplante Wasserverband im Zusammenhang mit dem ebenfalls geplanten Ausbau Berlins zur Nazi-Superstadt „Germania“
stand, läßt sich aus diesem Vermerk, der auch dem „Beauftragten für den Vierjahresplan, Generalfeldmarschall Hermann Göring“ sowie dem Reichswirtschaftsminister, dem Finanzminister und dem Innenminister zugehen sollte, ebenfalls vermuten. Unter Punkt eins wird von einem „im Zuge der Neugestaltung von Berlin“ anzulegenden Staubecken gesprochen. Und Punkt drei sagt: „Auch die landwirtschaftlichen Verhältnisse im Spreewald machen eine großzügige Bereinigung notwendig.“ All das könnte, muß aber keineswegs, mit einem Stausee im Spreewald im Zusammenhang stehen. Vielleicht ist ein solches Projekt auch nie über das Stadium der Überlegungen hinausgekommen. Vier Monate nach dem Vermerk der Reichsraumordner über den Wasserverband Spree begann der auch diesen Raum „neu ordnende“ und alles verändernde Krieg. Geblieben sind aber die Eintragungen, die der geflüchtete Bauingenieur gewiß nicht ohne Grund in seinem Lexikon hinterließ. HERBERT SCHULZE-ANDREE
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