Spektakuläre Landung auf Stöllner Acker

Sonnabend Trauerfeier für Navigator Christian Oertel, der den letzten Flug der »Lady Agnes« berechnete

  • Danuta Schmidt
  • Lesedauer: 3 Min.
An Bord der legendären IL 62 »Lady Agnes« in Stölln findet am Sonnabend die Trauerfeier für den Flug-Navigator Christian Oertel statt. Dass die Interflug-Maschine 1989 mit einem riskanten Manöver hier sicher landete, ist auch seinen Berechnungen zu verdanken.
Mit dem Wind im Rücken stieg dort, wo heute die IL62 steht, 1891 Otto Lilienthal mit seinen baumwollbespannten Weidenruten-Flügeln auf. Er schwebte als erster Mensch wie ein Storch über der Erde. Auch bei Interflug-Pilot Heinz-Dieter Kallbach und seiner Crew spielte am 23. Oktober 1989 die Aerodynamik eine wesentliche Rolle. Er brauchte Gegenwind, um das 105 Tonnen schwere Flugzeug auf dem ältesten Flugplatz der Welt, dem Stöllner Gollenberg, sicher zu landen. Nicht der Start, nicht der kurze Flugweg von Berlin-Schönefeld nach Stölln waren eine Meisterleistung, sondern die Landung auf dem nur knapp 800 Meter langen Acker. Doch Kallbach, erfahrener Flugkapitän bei der Interflug, war zuversichtlich. Gemeinsam mit Rolf Wagner, Mitarbeiter des Generaldirektors der DDR-Fluglinie und Navigator Christian Oertel checkte er das Gelände. Die damalige Bürgermeisterin Sybille Heling war zwar begeistert von der Idee, eine ausrangierte IL62 in die Obhut des Flugvereins zu nehmen, ahnte aber nicht, wie gefährlich die Ausführung werden würde. Ein ganzes Jahr haben die von der Idee Besessenen getüftelt. Die Aeronauten ließen den Boden untersuchen, die Landebahn vermessen, die witterungsbedingten Einflüsse vor Ort überprüfen und 40 Meter Wald für den Überflug und die Landung abholzen. Navigator Oertel errechnete Fluggeschwindigkeit, Flughöhe und Landewinkel. Heute wäre so eine Aktion nicht mehr machbar. Keine Flugsicherheitsbehörde würde heute ein solches Manöver riskieren, kein Grünflächenamt für eine einmalige Landung Baumbestand abholzen lassen, keine Fluglinie die Transaktion finanzieren. Der Zeitpunkt sei genau der richtige gewesen, ist sich Hans-Jürgen Radtke, Vorsitzender des Stöllner Otto-Lilienthal-Vereins sicher. »Wir haben damals alles genau kalkuliert, es gab keine Reserven«, erinnert sich Co-Pilot Peter Bley. »Ohne Oertels exakte Berechnungen wären wir nicht geflogen.« Nachdem der erste Start aus meterologischen Gründen und der zweite Versuch aus technischen Gründen scheiterten, startete man beim dritten Versuch am 23. Oktober durch, flog auf 300 Metern Höhe und mit ungefähr 360 Stundenkilometern. Weil der Bordnavigator nach Sicht navigierte, mussten alle möglichen Wetter-Kapriolen ausgeschlossen werden. Bley stehen heute noch die Haare zu Berge, wenn er sich den Film von Anflug des Jets auf den Acker ansieht. Nochmal würde er dieses Abenteuer nicht wagen, ist er sich sicher. So etwas könne nur einmal funktionieren. Zwei Landeversuche hatten die Piloten auf dem kleinen Flugplatz bereits hinter sich. Funker gaben vom Boden den Abstand zwischen den Baumspitzen des Waldes und der Maschine durch. Erster Anflug: zehn Meter, zweiter Anflug: fünf Meter. Normal ist eine Hindernisfreiheit von mindestens 300 Metern. Trotz der niedrigen Höhe flog die Maschine noch immer zu hoch, um sicher landen zu können: »Auch wenn die Nadeln im Fahrwerk gehangen hätten, wir mussten da irgendwie drüber.« In eine dicke Staubwolke gehüllt, kam die IL62, nachdem der Kapitän in der Luft bereits zwei Turbinen ausgeschaltet und dadurch Geschwindigkeit weggenommen hatte, etwas Reifendruck für eine breitere Auflagefläche abließ und beim Bodenkontakt auf der nachverdichteten Landebahn sofort auf Umkehrschub schaltete, unbeschädigt zur Landung. Schaukelte noch ein bisschen, bäumte sich kurz auf und fuhr aus eigener Kraft auf ihren endgültigen Ruheplatz auf den Gollenberg. Und da thront sie nun seit zwölf Jahren, die »Lady Agnes«, benannt nach der Frau des Flugpioniers Lilienthal. In dem Flugzeug ist heute eine Ausstellung über Otto-Lilienthal zu sehen und ein Standesamt. Der erste, der hier sein Ja-Wort gab, war 1990 Co-Pilot Peter Bley. Seitdem trauten sich mehr als 500 Paare. Dass die Hochzeit in der IL62 auf dem Gollenberg möglich wurde, verdanken sie letztlich auch Flug-Navigator Christian Oertel, der nur 53 Jahre alt wurde.

http://www.otto-lilienthal.de/

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