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...aber das Grundstück ist brauchbar

  • Lesedauer: 5 Min.

Denn die Frau eines Westberliner Villenbesitzers aus dem Grunewald macht den Waskows seit anderthalb Jahren ihr Heim streitig. Sie wird von Frau Waskow mit den Worten zitiert: „Das Haus kann man zusammenschieben, aber das Grundstück ist brauchbar.“ Zum Verkaufen. Der einstige Besitzer der Adresse Fontanestraße 5 in Brieselang, ein Herr Fischer, zog 1952 nach Westberlin, das Haus verkam. Dem jung verheirateten Ehepaar Waskow fehlte damals eine ausreichende Bleibe, das zweite Kind war unterwegs, als der Rat der Gemeinde ihnen das Haus überließ. Für die halbe Miete (35 Mark) und unter der Bedingung, selbst für die Instandsetzung zu sorgen. Nun will die Tochter des verstorbenen Alteigentümers an das tausend Quadratmeter große Grundstück ran.

Für die Bonn-Fahrerin Hannelore Thielke aus Finkenkrug steht die geschäftliche Existenz auf dem Spiel. Die 43jährige gelernte Zerspanungsfacharbeiterin machte sich 1985 als Herstellerin von Holzspielzeug selbständig. Ihr Vater hatte 1961 ein „völlig verwildertes, als Müllkippe mißbrauchtes“ Grundstück gepachtet, das der heute im Westberliner Charlottenburg lebende Besitzer 1958 zurückließ. 1973 wurde Frau Thielke selbst Pächterin, verfügt seit 1987 über das Nutzungsrecht, lagert auf dem Gelände Holz, hat eine Garage errichtet und Bäume gepflanzt.

Nun will der Herr aus Westberlin das Stück Land wiederhaben, um es meistbietend zu verscherbeln. Hannelore Thielke hat schlechte Karten, ihr fehlt der rettende Grundbucheintrag. Komplizierter ist die Lage der Brieselanger Bürgerin Ingeborg Dürrefeldt (57). Das 1936 errichtete Haus in der Erich-Mühsam-Straße 1 leerte sich zwischen 1958 und 1960, als ihre Verwandten „in den Westen abgehauen“ sind, wie Frau Dürrefeldt sagt.

Im Rahmen der Erbauseinandersetzung zahlte sie für die Hälfte des Hauses 6 000 Mark auf ein Sperrkonto beim Rat des Kreises ein, die andere Hälfte wurde ihr von der Gemeinde gegen Zahlung einer monatlichen Pacht von 30 Mark zur treuhänderischen Verwaltung gegeben. 1985 erwarb die gelernte Finanzbuchhalterin für 6 000 Mark die zweite Haus-Hälfte, nachdem die Gemeinde einen Kredit für die Zentralheizung verweigert hatte.

Heute könnte Ingeborg Dürrefeldt mit Tochter Silke (27), Schwiegersohn Martin (28) und Enkelin Sina (4) in Frieden das Haus genießen, in das soviel Schweiß und Mühe investiert wurde. Doch nun will die Verwandtschaft, „die sich drüben wohlfühlt, uns das Haus unterm Hintern wegziehen“. Weil sie dagegen ist, „daß Menschen, die sich für einen Haufen Steine abgequält haben, jetzt die Grundstücke weggenommen bekommen“, fährt Ingeborg Dürrefeldt nach Bonn.

Der Bus ist bis auf den letzten Platz besetzt, der Vorsitzende des örtlichen Mietervereins kassiert den Fahrpreis: 25 DM. Wir erreichen Helmstedt, die Gespräche konzentrieren sich jetzt auf „drüben“: „Was wir von denen alles lernen“, spottet eine ältere Frau, „Wohn-Container zum Beispiel kannten wir ja gar nicht, nicht mal das Wort.“ /

Autobahnraststätte Hannover-Garbsen, Frühstückspause. Ein Apfel einsfuffzig, Dose Cola zweizwanzig. Die meisten Bonn-Fahrer stehen lieber kostengünstiger draußen im Regen, plaudern mit Leuten aus den anderen Bussen. Einer davon ist der Postarbeiter Karl-Heinz Hauke (52) aus Neu Fahrland. „Seitdem die Mauer gefallen ist, stehe ich unter Beschüß“, sagt er. Ihm hat ein Grundstückserbe aus dem Hamburger Raum, dessen Vater vor Jahrzehnten die DDR verließ, schon vor zwei Jahren „einen Rechtsanwalt auf den Hals gehetzt“.

Haukes Dilemma: Sein Haus kaufte er 1972, das Grundstück aber erst zur Zeit der Modrow-Regierung, also nach dem 18. Oktober 1989, der dem Gesetzgeber bisher als Stichtag für den redlichen Erwerb gilt. Inzwischen hat der forsche West-Erbe zurückgesteckt, nachdem Hauke privaten Rechtsbeistand einholte und in seinen Briefen juristische Professionalität spüren ließ. Nun flatterte dem Brandenburger ein neuer Vorschlag des Erben ins Haus. Er solle ihm in einer Erklärung das Grundstück für den Fall seines Ablebens überlassen. Doch Karl-Heinz Hauke hat Angst zu unterschreiben, denn „die schlagen mich dann irgendwann tot“.

Solche Panik mag übertrieben erscheinen, sie ist aber die verständliche Reaktion von Menschen, denen seit der Wende das Leben Stück für Stück schwerer gemacht wird. Karl-Heinz Hauke verdiente einst 1 860 Mark in einer Poststelle, mußte schon zwei Lohnkürzungen hinnehmen, arbeitet heute für 1 310 Mark im Lager Stahnsdorf.

Ingeborg Dürrefeldt, die 36 Jahre dem Gerätewerk Brieselang angehört hat, würde so gerne noch arbeiten. Aber nach der dritten Aufforderung, in Vorruhestand zu gehen, gab sie schließlich, nach: „Im Juni wäre sowieso Schluß gewesen.“ Ihre ehemalige Kollegin Gisela Waskow, die ihren Arbeitsplatz als Bereichshilfe verlor, hat seither haufenweise Bewerbungsbögen ausgefüllt. Doch jedes Mal, wenn sie wahrheitsgemäß angibt, daß sie 50 Prozent schwerbehindert ist, winken die Chefs ab: „In der DDR hat man mich gebraucht, jetzt erklärt mich das Arbeitsamt für schwer vermittelbar, und für eine Rente reicht der Grad meiner Behinderung nicht aus.“

Und Hannelore Thielke, deren Gewerbe das Kleinod jeder Marktwirtschaft sein könnte, erlebte „einen Umsatz-Einbruch nach der Wende“, von dem sie sich noch nicht erholt hat. Ihre Hauptkunden, die Kindergärten, hatten plötzlich kein Geld mehr, heute hält sie sich mit Verkäufen auf dem Markt in Spandau über Wasser. Die drohende Vertreibung von ihren Grundstücken treibt den Existenzkampf auf die Spitze.

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