Eine Pyjama-Beratung gab das okay für den Rapallo-Vertrag
Prof. Dr. GÜNTER ROSENFELD
Die Weltwirtschaftskonferenz, die am 10. April 1922 in Genua unter Beteiligung von 34 Staaten, einschließlich der britischen Dominien und der USA als Beobachter, eröffnet worden war, dauerte bereits fünf Tage und immer noch lagen keine greifbaren Ergebnisse vor. Zustandegekommen war sie, weil auf ihr vor allem die „russische Frage“ behandelt werden sollte. Diese war 1921 in ein neues Stadium getreten, nachdem sich die in der Oktoberrevolution geborene Sowjetordnung im Bürgerkrieg behauptet hatte. Die von Lenin entwickelte Konzeption einer friedlichen Koexistenz der beiden verschiedenen gesellschaftlichen Systeme kam vor allem jenen Kreisen in den kapitalistischen Ländern entgegen, die am russischen Markt interessiert warön.
Das erstmalige Auftreten einer Delegation der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) auf internationalem Parkett - sie war geleitet von Volkskommissar G.W. Tschitscherin, einem Mann der ebenso flie-ßend französisch wie englisch sprach und sich als hervorragender Mozartkenner erwies - erregte einiges Aufsehen. Doch die Gespräche zwischen den Russen und den Ententemächten, vor allem mit Großbritannien und Frankreich, in denen gegenseitige, aus Krieg und alliierter Intervention resultierende Zahlungsforderungen aufgerechnet wurden, kamen nicht vom Fleck. Auch das zweite große Problem der Konferenz, die auf Grund der Versailler Friedensverträge von Deutschland an die Entente zu leistenden Reparationszahlungen, blieb ungeklärt, jedenfalls für die Deutschen unbefriedigend.
Dies war die Situation, als in der Nacht zum Ostersonntag, dem 16. April, bei der deutschen Delegation das Telefon klingelte. „Nachts gegen 1 Uhr 15 rief mich Joffe an, daß die russische Delegation bereit sei, mit der deutschen Delegation in erneute Verhandlungen einzutreten und dankbar sein würde, wenn wir am Sonntag gegen 11 Uhr zu diesem Zweck in Rapallo eintreffen würden. Auf meine Anfrage betonte er, daß ein definitiver Abschluß mit den Alliierten noch nicht erfolgt sei, daß eine Einigung aber in Aussicht stünde.“ So beschrieb wenig später Freiherr Ago von Maltzan, Chef der Ostabteilung des Auswärtigen Amtes, in einer internen Aufzeichnung - sie wurde erst 1988 veröffentlicht - jenen Vorstoß der sowjetischen Diplomatie, der
am Spätnachmittag dieses Ostersonntages zum Abschluß eines „Deutsch-Russischen Vertrages“ führen sollte. Er ging als „Rapallo-Vertrag“ in die Geschichte ein.
Von Maltzan aus dem Schlaf geholt, hatten Reichskanzler Joseph Wirth, Außenminister Walter Rathenau und andere Mitglieder der deutschen Delegation in einer aufregenden „Pyjama-Beratung“ das russische Angebot erörtert. Schließlich entschied man sich für eine positive Antwort, zumal Nachrichten von einer baldigen Einigung zwischen den Russen und den Westmächten, die möglicherweise auch zu einer Reparationszahlung Deutschlands an Rußland geführt hätte, die deutsche Seite in größte Unruhe versetzten. Diese Nachrichten erwiesen sich dann zwar als falsch, wurden aber von den Russen geschickt ausgespielt.
Der von Rathenau und Tschitscherin unterzeichnete Vertrag enthielt den gegenseitigen Verzicht auf Entschädigung für die aus dem Krieg und den revolutionären Konfiskationen jeweils entstandenen Verluste, fixierte die Aufnahme di-
plomatischer und konsularischer Beziehungen sowie die Förderung beiderseitiger Wirtschaftsbeziehungen.
Der Vertrag hätte wohl eher nach dem Ort Santa Margherita bezeichnet werden sollen, da das Hotel „Palazzo Imperiale“, in dem die russische Delegation wohnte und wo der Vertrag unterzeichnet wurde, noch auf dessen Territorium in einem Park stand, der in den benachbarten Badeort Rapallo überging. Beide Orte lagen etwa eine halbe Stunde Bahnfahrt von Genua entfernt. Aber vielleicht ging den Deutschen wie den Russen der Name Rapallo besser von der Zunge. Es wäre auch zu bemerken, daß es nicht der ehemalige erste Sowjetbotschafter in Berlin, nun Mitglied der russischen Delegation Adolf Joffe, wie Maltzan irrtümlich vermerkte, sondern der Leiter der Rechtsabteilung des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten, A.W Sabanin, war, der in jener Nacht im Auftrage Tschitscherins anrief.
Der Abschluß des Rapallo-Vertrages wurde in der Welt als Sensa-
tion aufgenommen. Auch im Kreml hatte man eine so schnelle Einigung mit den Deutschen nicht erwartet. Waren doch erst am 4. April entsprechende deutsch-sowjetische Verhandlungen in Berlin im Sande verlaufen. Zwar hatte schon nach dem Versailler Vertrag 1919 ein Annäherungsprozeß zwischen Deutschland und Sowjetrußland eingesetzt. Aber trotz eines schon am 6. Mai 1921 abgeschlossenen deutsch-russischen Handelsvertrages hatte die Reichsregierung vor der vollständigen diplomatischen Anerkennung Sowjetrußlands zurückgeschreckt.
Wenn auch die Genua-Konferenz am 19. Mai ohne greifbare Lösung ihrer Hauptprobleme beendigt wurde, konnten die deutschen und die russischen Delegierten einen beachtlichen Konferenzerfolg mit nach Hause nehmen. Ein Erfolg für Deutschland, weil man sich in Berlin nicht zu unrecht durch die neue Verbindung mit Sowjetrußland einen Rückhalt im Kampf gegen Versailles versprach. Ein Erfolg für Sowjetrußland, weil der Rapallo-Vertrag eine Bresche in die internationale diplomatische Isolierung Sowjetrußlands schlug. Der Rapallo-Vertrag wurde alsbald auf die anderen Sowjetrepubliken ausgedehnt und Ende 1922, nach ihrer Gründung, von der UdSSR übernommen.
Es entwickelten sich zwischen beiden Ländern intensive Beziehungen - nicht nur auf politischdiplomatischem und kulturellem, auch auf militärischem Gebiet (worüber erstmalig 1990 sowjetische Akten veröffentlicht wurden). Deutschland wurde zum wichtigsten Außenhandelspartner ? der UdSSR. Während der Weltwirtschaftskrise 1929-1932 arbeiteten ganze deutsche Industriezweige für den russischen Markt. Von der Dichte der Kultur- und Wissensehaftsbeziehungen zeugten solche Veranstaltungen wie die „Deutsch-Russische Naturforscherwoche“ 1927, die „Deutsch-Russische Historikerwoche“ 1928, beide in Berlin, oder die „Woche der deutschen Technik“ 1929 in Moskau.
Die Rapallo-Politik unterlag allerdings mehrfachen Belastungen und Angriffen. Schon die Tatsache, daß man aus Moskau im Jahre 1923 eine Gruppe von Kommandeuren der Roten Armee bzw. Angehörigen der Tscheka nach Deutschland entsandte, um die revolutionären deutschen Arbeiter im Sinne der noch immer erhofften „Weltrevolution“ zu unterstützen, vertrug sich
mit ihr schlecht. Manche Sorgen bereitete dem deutschen Botschafter in Moskau, Graf Brockdorff-Rantzau, der Umstand; daß Stalin 1924 die beiden als Touristen nach Moskau gekommenen deutschen Studenten Karl Kindermann und Theodor Wolscht kurzerhand unter Spionageverdacht verhaften ließ, damit er sie dann gegen die inzwischen in Deutschland verhafteten und vom Reichsgericht zum Tode verurteilten roten Kommandeure austauschen konnte. Nicht weniger belastend wirkten sich auch die Eingriffe des sich allmählich ausbreitenden stalinistischen Terrorapparates aus. Nach dem „Schachty-Prozeß“ (1928), als die GPU willkürlich auch deutsche Ingenieure verhaftete, wurden mehr und mehr deutsche Staatsangehörige, die in der UdSSR arbeiteten, Opfer stalinschen Terrors.
Dennoch blieben beiderseits die außenpolitischen Interessen noch bis 1933 stark genug, um die Rapallo-Politik immer wieder zu stabilisieren. Ein wichtiges Bindeglied waren hierbei Gemeinsamkeiten in der Politik gegenüber Polen. So war die sowjetische Diplomatie daran interessiert, daß die Locarno-Verträge (1925) die deutschen Ostgrenzen, und zwar im Unterschied zu den Westgrenzen, nicht garantierten. Man befürchtete in Moskau ein deutsch-polnisches Zusammengehen gegen die UdSSR, und so kam die sowjetische Außenpolitik den deutschen Forderungen nach einer Revision der deutschpolnischen Grenze durchaus entgegen. Berlin wiederum schwenkte 1927 nicht auf die britische Blockadepolitik gegenüber der UdSSR ein und arbeitete auf der internationalen Abrüstungskonferenz mit Moskau zusammen, wenn auch aus taktischen Motiven. Im Unterschied zu London war man im' Auswärtigen Amt, wie im Juni 1927 erarbeitete „Richtlinien“ besagen, bestrebt, „die Entbolschewisierung Rußlands... auf dem Wege allmählicher, friedlicher, wirtschaftlicher und kultureller Durchdringung“ zu erreichen.
Eine solche „Entbolschewisierung“ wurde jedoch alsbald durch die Außenpolitik Hitlers eher verhindert als gefördert. Als er 1939 den Pakt mit Stalin schloß, war dies nicht die Rückkehr zu Rapallo - wie von nicht wenigen ehemaligen Mitgestaltern der Rapallo-Politik erhofft -, sondern das Durchgangsstadium zum Krieg, auch gegen die Sowjetunion.
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