Für Algebra ist niemand zu dumm

Britischer Wissenschaftler bestreitet, dass mathematische Begabung nur wenigen angeboren ist

Viele Menschen sähen es womöglich ganz gern, wenn es ein Gen für mathematisches Denken gäbe. Dann könnten sie nämlich ihre schlechten Mathe-Noten in der Schule einfach mit fehlender natürlicher Begabung für dieses Fach entschuldigen. So oft diese Ausrede auch bemüht werde, meint der britische Mathematiker und Publizist Keith Devlin, mit der Realität habe sie wenig gemein: »Es gibt kein Mathe-Gen.« Dafür aber eine angeborene Fähigkeit zum mathematischen Denken, über die im Grunde jeder Mensch verfüge. Mit Blick auf die Geschichte der Wissenschaft könnte man indes geneigt sein, dieser Ansicht zu widersprechen. In der Schweiz beispielsweise lebte im 17. und 18. Jahrhundert eine Familie namens Bernoulli, aus der drei der berühmtesten Mathematiker aller Zeiten (Jakob, Johannes und Daniel Bernoulli) sowie fünf weitere Professoren der Mathematik und Naturwissenschaften hervorgegangen sind. Liegt darin nicht ein untrüglicher Beweis, dass mathematische Begabung vererbt wird? Nicht notwendigerweise, denn es gibt auf der anderen Seite viel mehr Beispiele bedeutender Mathematiker, deren Kinder und Kindeskinder alles andere als mathematisch begabt waren. Gleichwohl ist die Vorstellung einer starken genetischen Fundierung intellektueller Fähigkeiten unter Wissenschaftlern weit verbreitet. Besonders engagiert wirbt derzeit der Leipziger Humangenetiker und Psychologe Volkmar Weiss in Büchern und Zeitschriftenartikeln für diesen Ansatz, und zwar mit empirischen Befunden, die er bereits zu DDR-Zeiten erhoben hat. Als Doktorand durfte er ab 1969 den familiären Hintergrund von mehr als 1000 mathematisch hoch begabten Schülern untersuchen, die er aus den Teilnehmern der jährlich stattfindenden Mathematik-Olympiaden rekrutierte. Da Intelligenztests im Osten nicht zugelassen waren, so Weiss, habe er den IQ aller an der Untersuchung beteiligten Personen nur schätzen können: nach Beruf, Tätigkeit, Schulnoten, Lebensleistung etc. Trotz ideologischer Bedenken gab sogar das Volksbildungsministerium grünes Licht für diese Studie. Womöglich war man hier von der Idee fasziniert, durch gezielte Begabungsförderung, ähnlich wie im Sport, auch auf wissenschaftlich-technischem Gebiet eine internationale Spitzenstellung zu erreichen. Von Anfang an heftig umstritten waren hingegen die Schlussfolgerungen, die Weiss aus seinen Daten zog. So postulierte er beispielsweise die Existenz eines so genannten Hauptgens M für mathematische Begabung (bzw. allgemeine Intelligenz), das gemäß den Mendelschen Regeln vererbt werde. Eine elterliche Kopie dieses Gens, kurz M1 genannt, sei dabei für besonders hohe mathematische Begabung verantwortlich, während die andere Kopie M2 nur durchschnittliche mathematische Leistungen ermögliche. Mithin könne bei Personen der genetischen Konstitution M1M1 eine mathematische Hochbegabung (IQ um 130) und bei Personen der genetischen Konstitution M2M2 nur eine geringe mathematische Begabung (IQ um 94) erwartet werden. Mit einem IQ um 112 lägen jene der Kombination M1M2 gleichsam dazwischen. Außerdem berechnete Weiss die jeweiligen Anteile der Begabungsstufen an der Gesamtbevölkerung: M1M1rund 5 Prozent, M1M2 rund 30 Prozent, M2M2 rund 65 Prozent. Kritiker werfen Weiss inzwischen nicht nur vor, gesellschaftliche Vorurteile zu bedienen, sie zweifeln überdies auch an der Berechtigung seiner Prämissen und Methoden. So sei es höchst fragwürdig, betont der Regensburger Psychologe Helmut Lukesch, Intelligenzparameter aus Berufsangaben zu schätzen und etwa Abiturnoten als Indikatoren der Intelligenz anzusehen. Denn schulische Leistungen hätten oft mehr mit der Qualität des Unterrichts, der Lernmotivation oder der häuslichen Bildungsanregung zu tun als mit dem Einfluss von Genen. Es sei letztlich nicht entscheidbar, ergänzt die Münchner Humangenetikerin Gisela Grupe, ob eine hohe Intelligenz (resp. mathematische Begabung) aus einer erblichen Disposition resultiere oder ob gute schulische Leistungen mit einer individuellen Förderung im Kindesalter korrelierten. Keith Devlin geht noch einen Schritt weiter. Für ihn ist die Mathematik vor allem Teil unseres natürlichen Sprachvermögens. Das heißt: Nicht Zahlen sind ihr wichtigster Gegenstand, wie landläufig angenommen, sondern Muster, logische, algebraische und geometrische Muster von zumeist abstrakter Art. Um diese zu erfassen, besitzt der Mensch spezielle Denkstrukturen, die sich in einem langen evolutionären Anpassungsprozess herausgebildet haben. Als Triebkraft wirkte dabei von Anfang an das Bemühen unserer Vorfahren, eine immer komplexer werdende natürliche und soziale Umwelt besser zu verstehen. Später entwickelte sich daraus das so genannte Offline-Denken, also das Denken in der »reinen« Vorstellung, das keiner äußeren Anregung mehr bedarf. Auch unsere Sprache beruht bekanntlich auf Mustern, vornehmlich grammatischen, die jedes Kind sich ohne spezielle Begabung aneignet. Und wenn Sprache und Mathematik die gleiche natürliche Wurzel haben, wie Devlin meint, gibt es keinen Grund, die Fähigkeit zum mathematischen Denken auf spezielle Gene zurückzuführen. Sicherlich wird niemand bestreiten, dass der korrekte Umgang mit Wörtern und grammatischen Regeln für die meisten Menschen viel leichter zu erlernen ist als der Umgang mit mathematischen Strukturen und Symbolen. Das liegt vielleicht daran, dass die Sprache bereits in den ersten Lebensmonaten für das soziale Miteinander unabdingbar ist, während das systematische Training mathematischer Fähigkeiten erst in der Schule beginnt. So gesehen könnte man die Mathematik auch als eine Art Fremdsprache begreifen, deren Aneignung ab einem bestimmten Alter viel Mühe und Engagement erfordert. Gleichwohl ist der Unterschied zwischen einem professionellen Mathematiker und einem Mathe-Muffel kleiner als gemeinhin angenommen. Zwar denkt der Mathematiker anders als jemand, dem das Interesse an Mathematik bereits in der Schule nachhaltig verleidet wurde. Besondere Gene oder andere Hirnstrukt...

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