Das neue Bernsteinzimmer ist fertig; am heutigen Sonnabend wird es von Wladimir Putin und Gerhard Schröder der Öffentlichkeit übergeben. Die Legenden um das verschollene Juwel werden weiterleben; der Virus ist nicht ausrottbar. In den zahlreichen Versionen um das Verschwinden des Bernsteinzimmers wurde die wohl wahrscheinlichste nie erwähnt.
Im April 2001 suchte ich den 79-jährigen Peter Wählisch in Seelow auf. Wählisch war im Krieg Pilot einer Ju-52, einer Rote-Kreuz-Maschine. Am 19. Januar sollte er elf Kisten mit dem Bernsteinzimmer vom Flugplatz Thorn nach Westen bringen. Den Befehl erteilte ihm SS-General Heinz Reinefarth, Festungskommandant von Thorn. Bevor die Maschine abheben konnte, beschossen Panzerspitzen der 3. Belorussischen Front den Flugplatz. Wählisch wurde verwundet und mit einem Sankra abtransportiert. Das Flugzeug wurde wahrscheinlich zerstört. Nach diesem für mich sehr glaubwürdigen Bericht des »Fliegers«, wie ihn die Seelower nennen, ging ich meine Aktenwand zu dem Thema noch einmal durch.
Alfred Rohde, Direktor der Königsberger Kunstsammlungen, hatte im Juni 1945 dem Konsistorialrat Gustav Adolf Richter gesagt, das Bernsteinzimmer »ist nicht mehr«. Das konnte die Bestätigung für die Version sein, dass das Zimmer nach dem 10. April 1945 bei den Siegesfeiern der sowjetischen Truppen in Königsberg in Brand geschossen worden war. Solches hatte der Münchner Philip Remy schon 1990 aufgrund der Tagebucheintragungen von Oberstleutnant Alexander Brjussow vom 8. Juni 1945 herausgefunden, der glaubte, im großen Saal des Nordflügels der Schlossruine verbrannte Reste des Zimmers gefunden zu haben. Rohde räumte gegenüber dem Russen erst nach Gegenbehauptungen ein, dass es so gewesen wäre. Paul Feyerabend, Wirt der Weinstube »Blutgericht« im Schloss, bestätigte das auch und ergänzte dann, Gauleiter Koch hätte sich am 5. April darüber aufgeregt, dass das Zimmer noch nicht abtransportiert wäre. Brjussow glaubte ihm, obwohl er ihn in seinem Tagebuch als Lügner hinstellte.
Der Oberstleutnant reiste im Juli '45 nach Moskau zurück. Rohde starb im Dezember an Typhus. Den Russen kamen dann Zweifel an Brjussows Darstellung. Zu viel sprach dagegen. Gesichert war lediglich, dass in dem Saal des Nordflügels Kisten mit Möbeln der Familie Kaiserlingk gestanden hatten. Das kaum widerlegbare Gegenargument der Russen aber war: Weshalb sollte Rohde während der Kämpfe um Königsberg, also im Moment der größten Gefahr, die Kisten mit dem Bernsteinzimmer aus den doch ziemlich sicheren Kellerräumen des Schlosses in den Saal des Nordflügels gebracht haben?
Der Zweifel war berechtigt, und nun begann die inzwischen auf viele Bände angewachsene Story vom »Versteck« des Zimmers, von dem »Fanatiker« Rohde, der nur wegen des »Verstecks« in Königsberg geblieben sei. »Dokumente« wurden erfunden, darunter auch jenes »nur noch in russisch erhaltene« Papier, in dem Rohde am 12. Januar '45 dem Städtischen Kulturamt mitteilt, er sei dabei, das Bernsteinzimmer in Kisten und Container zu verpacken und nach Wechselburg bei Rochlitz und zur Burg Kriebstein zu bringen. Bei näherem Hinsehen erweist sich das Papier als Fälschung. DDR-Fahnder Paul Enke ist darauf ebenso hereingefallen wie Philip Remy. Und niemand hat gefragt, weshalb das Zimmer noch einmal verpackt werden musste, es lag doch schon verpackt im Schlosskeller.
Aus den Unterlagen über die Reise Rohdes nach Sachsen vom 4. bis 8. Dezember 1944 geht zwar hervor, dass er die Burg Kriebstein und die Wechselburg als mögliche Evakuierungsorte für Königsberger Kunstsammlungen in Augenschein nahm, doch steht dort nirgends etwas vom Bernsteinzimmer. Am 19. Dezember '44 gehen zwei Eisenbahnwaggons aus Königsberg nach Burg Kriebstein ab - ohne das Bernsteinzimmer. Warum? Der Grund kann nur darin zu suchen sein, dass das Zimmer nicht mehr in Königsberg war.
Bis kurz vor der Kapitulation Königsbergs war immer nur von Kisten die Rede, die das Bernsteinzimmer enthalten haben sollten. Doch niemand hat es darin gesehen. Auch Schlossoberinspektor Henkensiefken nicht, als er nach den britischen Luftangriffen vom 27. und 29. August 1944 zusammen mit Rohde die Keller des fast völlig zerstörten Schlosses besichtigte. Rohde sagte nur »Na, Gott sei Dank, das Bernsteinzimmer ist erhalten geblieben.« Liesel Amm, Freundin von Rohdes Tochter, sah im Vorraum des Kellers 6 Sockelplatten, auf denen Bernstein wie Honig zerflossen war. Am 2. September bestätigte Rohde in einem Brief nach Berlin, das Bernsteinzimmer sei bis auf sechs Sockelplatten erhalten. Aber wo war es? Und wieso wusste das nicht einmal Henkensiefken, der vermutete, es hätte die Luftangriffe in einem Bunker im Botanischen Garten überlebt?
Um die Antwort zu finden, muss man auf ein Ereignis zurückkommen, das ganz unterschiedlich datiert wird. Das Bernsteinzimmer war in kleinerem Format als in Zarskoje Selo in einem Saal des 3. Stocks im Schloss aufgebaut und ab April 1942 der Bevölkerung zugänglich. Im Geschoss darunter gab es später eine Wehrmachtsausstellung, und die geriet eines Nachts in Brand. Enke schreibt unter Berufung auf Henkensiefken, der Brand sei in einer Nacht im Februar '44 ausgebrochen, Remy datiert ihn auf den 28. Oktober 1943. Doch das ist unwesentlich. Wichtiger ist, dass die Brandschutztür vor dem Raum mit dem Bernsteinzimmer erst durch den herbeigeeilten Rohde geschlossen wurde. Hitze und Qualm hatten auf den Paneelen einen Belag hinterlassen, der Enke und Remy zufolge problemlos entfernt werden konnte, Lotti Elias-Rohde hingegen erinnerte sich 1966, er sei schwer zu beseitigen gewesen. Hinzu kamen Schäden durch das Löschwasser, das die Eichenplatten, auf denen der Bernstein aufgeklebt war, quellen ließ. Das Bernsteinzimmer war nicht mehr präsentabel. Rohde ließ es abbauen und in Kisten verpackt in den Schlosskeller bringen.
Anfang Mai '44 hatte er in Königsberg eine Unterredung mit Siegfried Rühle, Direktor des Kaiser-Friedrich-Museums in Posen, den er fragte, ob er eine »große Bernsteinarbeit« in Sicherheit bringen könnte. Rühle sagte zu. Wenig später wurden die Kisten aus dem Keller geholt und angeblich auf Weisung von Koch in die Burg Lochstedt gebracht. Was darauf geschah, entnimmt man einem bislang unbeachteten Protokoll vom 2. April 1944. Es enthält die Aussage von Paul Feyerabend: »Juli 1944 kamen zwei Wagen in den Schloßhof gefahren, die mit Kisten hochbeladen waren. Einige kleinere Kisten wurden abgeladen und ins Prussia-Museum gebracht, die anderen Kisten blieben auf den Wagen. Rohde sagte mir, daß das die Bernsteinwände aus Rußland seien... Am nächsten Tag fuhren die Wagen mit der Ladung weg. Etwa um die Mittagszeit kam Rohde zu mir und kaufte einige Flaschen Wein als Vorrat für eine Reise, da er für ein paar Tage wegfahren müsse. Tatsächlich blieb er drei Wochen weg...«. Rohde war tot, und Feyerabend konnte nun sagen, wie es tatsächlich war.
Alfred Rohde hatte bis April '45 ein Versteckspiel betrieben, wohl weil er sich schuldig fühlte für das ruinierte Zimmer, das kaum wieder herstellbar war. Wohin er es brachte, ist ungeklärt. Dafür käme zum einen Posen in Frage. Der schon erwähnte SS-General Reinefarth war vorher Kommandant von Posen. Das würde die Vernichtung der Kisten auf dem Flugplatz von Thorn erklären, von der Rohde zweifellos erfahren hatte, so dass er im Juni '45 sagte, es sei nicht mehr. Wahrscheinlich hatte man ihm nicht mitgeteilt, dass es sich nur um elf Kisten handelte. Doch wo waren dann die anderen 15 oder 16 hingekommen? Vielleicht nach Schloss Fischhorn in Österreich? Dorthin ließ SS-General Fegelein nach dem Warschauer Aufstand in 16 Waggons alles noch in Polen vorfindbare Kunstgut verbringen. Frau H. aus Reit im Winkl, die im Oktober '44 in dem Schloss als Hostess angestellt war, erinnert sich, dort Bernsteinpaneele, vor allem »das mit dem Preußenadler« gesehen zu haben. Aber das sei so »stumpf und glanzlos« gewesen, so dass sie statt des FR nur ein P habe entziffern können. »Der Offizier, ein Herr Konrad, hat dann seine Soldaten gefragt, weshalb sie das nicht gesäubert hätten. Die antworteten, das ginge nicht.« Frau H. konnte von dem Brand im Königsberger Schloss nichts wissen, insofern erscheinen ihre Aussagen durchaus glaubwürdig. Sie hat über ihre Erinnerungen sogar Präsident Putin informiert.
Bei dem Offizier handelte es sich um SS-Hauptsturmführer Franz Konrad, der 1952 in Polen hingerichtet wurde. Im Mai '45 nahmen amerikanische Truppen unter General Harry J. Collins Schloss Fischhorn in Beschlag, kehrten das Unterste nach oben, wurden jedoch auf Intervention Polens daran gehindert, alle dort lagernden Kunstschätze zu requirieren. Wahrscheinlich haben sie die unansehnlich gewordenen Bernsteinpaneele auf den Sperrmüll geworfen oder verbrannt. Davon aber wollen die Leute aus der Umgebung von Schloss Fischhorn nichts hören; denn die sind nun auch vom Bernsteinzimmer-Virus infiziert.
Unser Autor fahndet seit Jahrzehnten nach dem Bernsteinzimmer und veröffentlichte mehrere Bücher über diesen und andere verschollene Kunstschätze.
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