Rilkes Weg zum Engel
»Ach, wen vermögen / wir denn zu brauchen? Engel nicht, Menschen nicht / und die findigen Tiere merken es schon, / daß wir nicht sehr verlässlich zu Haus sind / in der gedeuteten Welt.«
Erste Duineser Elegie, 1912
Am Fuße des Felsens von Duino, durch das Dröhnen des Meeres hindurch, hört Rilke den Schrei des Engels. Die erste Duineser Elegie wird geboren. Es ist der 21. Januar 1912.
Im Sommer 2003 öffnet das Schloss Duino für Besucher. Rilkes Refugium an der Adria bei Triest geht den Weg aller Vermarktung. Die Ankunft des lart pour lart im Warenhaus, wo Kitsch und Kunst ohne Unterschied über den Ladentisch gehen. Auch der Engel, jene Zentralmetapher, auf die das Werk Rilkes hinläuft, ist nicht vor Trivialisierung gefeit. Ja, sie provoziert es geradezu, missverstanden zu werden - und rechnet bereits mit den desaströsen Folgen: »Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.« (Erste Duineser Elegie)
Darin liegt eine Revision des Frühwerks von Ausmaßen. Rilke ist nun nicht mehr der Erbauungsdichter, der als Zwanzigjähriger geschrieben hatte: »Die einzige Gnade, die ich erflehe, ist die, daß meine Werke ein zartes Echo in den Herzen hübscher Frauen finden möchten.« Dieses geschwätzige Frühwerk war ihm später peinlich. Auf das Frühwerk bezieht sich Brechts Wort von Rilkes schwulem Verhältnis zu Gott. Erst in der Großstadt Paris nüchtern Rilkes Gedichte aus. Die »Neuen Gedichte« wie »Der Panther« sind kühl und nüchtern geformt; geradezu analytisch. »Immer arbeiten« hatte Rodin zu dem Dichter gesagt. Das war neu für Rilke, dass auch der Künstler ein Arbeiter ist.
In Paris bekommen seine Themen eine soziale, schließlich eine existenzialistische Qualität. Hatte er auf seinen beiden Russland-Reisen (1899/1900) mit Lou-Andreas-Salomé noch die Armut und Unwissenheit als ursprünglich gefeiert, so erscheint im Moloch der Großstadt die Armut als etwas ganz und gar Unpoetisches: blankes Elend. Diese neue Form von Armut als Produkt des Kapitalismus, wie sie auch Zola beschreibt, verändert Rilkes Wahrnehmung. Sein »Malte Laurids Brigge« wird 1909 zu einer Kafkas »Schloss« und »Strafkolonie« ebenbürtigen Vision des 20. Jahrhunderts. Rilke gelingt hier eine Analytik der Lebens-Angst. Sein Ausweg: eine mit Skepsis gegen den Zugriff der unmenschlichen Außenwelt gewappnete Innerlichkeit.
Hier, im stoisch verteidigten »Weltinnenraum«, wird Rilkes Engel des Spätwerks geboren. Er liefert Anlass zu vielen Missverständnissen. Für Rilke ist Schreiben das Gegenteil von abschließendem Behaupten. Es reicht ins Offene des Verstehens hinüber. So hält auch der Engel verschiedene Deutungsmöglichkeiten offen. Ist der Engel vielleicht sogar ein Name für das offen-haltende Prinzip überhaupt? Damit ist schon gesagt, womit man ihn ganz und gar nicht verwechseln darf: mit den katholisch ornamentalen Flügelwesen. Wenn die Fürstin Marie von Thurn und Taxis ihren »Hofpoeten« auch »Doktor seraphicus« ruft, dann ist dies ein ins Scherzhafte gekleidetes Missverständnis, das Rilke stumm erduldet. Denn alle Seraphim und Cherubim der neuplatonisch-christlichen Engelsordnung lagen Rilke unendlich fern. Mehr noch, er hasste sie. Seine Kritik des Christentums ist ebenso unversöhnlich wie die Nietzsches.
Zeigen wir also andere Übersetzungswege des Engels auf, die fruchtbarer und Rilkes Intention angemessener erscheinen. Zuerst: Rilke ist lebenslang auf der Flucht vor seinem Herkommen. Vor der Mutter und auch vor Prag.
Die katholisch-bigotte Mutter steckt ihn bis zu seinem sechsten Lebensjahr in Mädchenkleider. Nach der Scheidung der Eltern wird das verzärtelte Jungen-Mädchen auf die Kadetten-Schule nach Sankt Pölten gegeben. Nur seiner vornehm-scheuen Distanz zu den rauen Jungmännermachtkämpfen, seinem überzeugend demonstrierten Desinteresse, »unter Männern« je eine Rolle zu spielen, verdankt es sich, dass Rilke diese Zeit »unterm Rad« (Hesse) überhaupt übersteht.
Sehet, es wäre / arg um das Große bestellt, wenn es irgend der Schonung / bedürfte. Wem die Paläste oder der Gärten / Kühnheit nicht mehr, wem Aufstieg und Rückfall / alter Fontänen nicht mehr, wem das Verhaltene / in den Bildern oder der Statuen ewiges Dastehn / nicht mehr die Seele erschreckt und verwandelt, der gehe / diesem hinaus und tue sein Tagwerk; wo anders / lauert das Große auf ihn und wird ihn wo anders / anfalln, daß er sich wehrt.«
Fragment einer Elegie, 1912
Prag ist eine Insel. Eine mittelalterlich-geschlossene Stadt inmitten des industriellen Kapitalismus. Das hat nahezu klaustrophische Folgen, besonders für einen Teil der deutschen Minderheit, die sich hier zudem auf einer Sprachinsel fühlt. Etwas Neurotisches liegt in der Luft, etwas vom Narziss, der sich zu lange selbst im Spiegel anschaut. Das prägt Sprache - von Kafka bis Fürnberg. Rilkes Weg zum Engel ist der Weg zur Selbsterkenntnis als eben dieser Narziss. Hinter dem Markenschild »Dichter«, das er zum Einlassbillet für seine Schlösser-Dauergastexistenz macht, verbirgt sich der echte Dichter. Einer, der voll Existenz-Angst ist und der sich auf seine Sprache als mobile Heimat zurückzieht.
Für Rilke ist Sprache nichts, was er vorfindet, sondern etwas, wozu er sich mühsam erst noch den Weg bahnen muss. Diesem Dichter ist nichts selbstverständlich. Nicht das Wort - und nicht die Welt, die lügt, wenn sie vorgibt, so sein zu müssen wie sie ist.
Rilke, einmal zu sich gekommen, ist auch auf der Dauer-Flucht vor dem kirchlich so missbrauchten Jesus-Bild, das in ihm nichts mehr auslöst als Überdruss und Abwehr. Manch frommer Rilke-Anhänger erregt sich bis heute über dessen Vergleich von Jesus mit einem Telefon zu Gott, in das andauernd hineingerufen wird: »Holla, wer dort?«
Auf Duino also nimmt die Geschichte vom Engel ihren Anfang. Hier beginnt Rilke als Gast der Fürstin Marie von Thurn und Taxis die erste seiner Elegien - wie einem inneren Diktat folgend - niederzuschreiben. Vollenden wird er den Zyklus erst zehn Jahre später, 1922. Dazwischen liegt eine Zeitscheide: der erste Weltkrieg. Das Schloss wird von italienischen Kanonenbooten beschossen und zerstört. Rilke erlebt den Wiederaufbau nicht mehr.
Mit dem Ausbruch des ersten Weltkriegs endet auch Rilkes europäischer Schlössertourismus. In den Jahren 1909 bis 1914, so haben akribische Germanisten ermittelt, wohnt Rilke an über fünfzig verschiedenen Orten. Der vergebliche Fluchtversuch eines Dichters vor der heranrückenden Katastrophe. Bei Kriegsausbruch ist er zufällig nicht in Paris, sondern auf einer »kurzen Reise« nach Deutschland. Auf Jahre ist ihm der Weg zurück versperrt. Er verliert seine Wohnung. Möbel, Bücher, Manuskripte verschwinden - nur das wichtigste können Freunde in Sicherheit bringen. Nach dem Krieg passiert ihm das gleiche in München. Er hatte zu offen mit der Räterepublik Kurt Eisners sympathisiert. Seine Briefe an Sophie Liebknecht klingen nach Liebesbrief; der Dichter als Unsicherheitsfaktor in jeder Beziehung. Nach der Niederschlagung der Räterepublik entzieht man ihm de facto das Wohnrecht. Seine fluchtartige Abreise aus München in die Schweiz ist abenteuerlich. Einer seiner vielen befreundeten Schauspielerinnen, Anne-Marie Seidel, die er zufällig im Zug trifft, gelingt es, an der Grenze noch einen fehlenden Stempel aufzutreiben, ohne den Rilke nicht in die Schweiz kommt. Er wird nie wieder deutschen Boden betreten.
Spätfolge eines Dichterlebens: Nach fast hundert Jahren Verborgenheit wird Duino nun als Attraktion in die Öffentlichkeit geschleudert. Der flache Strom der Mode wird postum zum eigentlichen Abseits des Dichters. Rilkes Beliebtheit wächst unaufhörlich. Für einen Dichter ist das eine gefährliche Sache, so zur Besichtigung frei gegeben zu werden. Der zynische Gottfried Benn hatte schon 1955 in seinem Vortrag »Soll die Dichtung das Leben bessern?« höhnisch von »Fastenkuren mit Rilke« als zeitgeisttypischer Praxisverfehlung der Dichtung gesprochen.
Wenn wir also hören, dass Rilke mitten in der Brandung am Fuße des Felsens von Duino die Stimme des Engels vernommen hat, sind wir zu Recht erst einmal misstrauisch. Wessen Schrei hört Rilke denn - den des Engels oder seinen eigenen? Es heißt: »Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn in der Engel Ordnungen?« Ist es vielleicht Walter Benjamins »Engel der Geschichte«, in dessen Flügel ein allzu starker Sturmwind bläst?
Ist der Engel kommentarbedürftig? Der Insel-Verlag jedenfalls setzt mit einem verlegerischen Großunternehmen und mit gleich vier Herausgebern ganz auf den Kommentar. Gegen die Trivialisierung Rilkes zur Attraktion will die »Kommentierte Ausgabe« philologische Genauigkeit, Präzision im Detail und den Reichtum an Differenziertheit herausstellen. Das gelingt auf beeindruckende Weise in vier Bänden und einem Supplementband. Dieser, soeben erschienen, enthält Rilkes Gedichte in französischer Sprache mit deutscher Prosaübersetzung (übertragen von Rätus Luck). Wenn von 767 Seiten dieses Bandes 388 Seiten aus kommentierendem Anhang bestehen - mehr als die Hälfte! -, dann sagt das einiges über den Charakter der Ausgabe. Für jene Spezies Liebhaber, die sich nicht von der scholastischen Tatsache abschrecken lässt, dass der Kommentar länger ist als das zu kommentierende Werk?
Wollen wir etwas über die Duineser Elegien erfahren, gibt der von Manfred Engel und Ulrich Fülleborn herausgegebene Band 2 auf gleich 113 (!) Seiten Aufschluss. Nachzulesen sind auch Rilkes Selbstaussagen über die Entstehung der Elegien. In einem Brief Rilkes an Witold Hulewicz vom 13. 11. 1925 erhalten wir einen wichtigen Hinweis zum Verständnis des Engels: »Der Engel der Elegien ist dasjenige Wesen, das dafür einsteht, im Unsichtbaren einen höheren Rang der Realität zu erkennen - Daher "schrecklich" für uns, weil wir, seine Liebenden und Verwandler, doch noch am Sichtbaren hängen.« Hier klärt uns ein kluger Kommentar darüber auf, was der Engel ist: ein Gegenbereich zur »gedeuteten Welt«, die auch die durchkommentierte ist.
Der Engel tritt auf als noch ungewordene Möglichkeit von Wirklichkeit; als Naturzustand. Denn was ist es, das Rilke immer noch so interessant macht? Die komprimierte Durchschlagskraft seiner wenigen großen Texte. Aber gerade diese lassen sich nicht auf einen Begriff bringen. Das Paradoxon verführt dann zu Kommentaren in Romandicke. Sie kreisen immer um das eine: Für Rilke ist Dichtung eine Form der sprachlichen Verdichtung. Sinnliches und Intellektuelles verschmelzen miteinander - im Bild des Engels.
Ein anderes Bild des Engels eröffnet sich für Rilke. Ein ägyptisches. Das der Sphinx von Gizeh. Rilke hat sie 1910 auf seiner merkwürdigen Nordafrika-Reise (als sich selbst verachtender Beinahe-Gigolo) zusammen mit der Münchner Pelzhändlersgattin Jenny Oltersdorf gesehen. Wie die Sphinx ist der Engel der Duineser Elegien ein so übermächtiges Gegenüber, dass man hier nicht auf Antwort hoffen kann. Dieser Engel ist ein zur Vergeistigung nur bedingt geeignetes Triebwesen. Sündhaft lebt, wer gegen die Natur lebt. Damit steht Rilke (zusammen mit dem Engel) gegen sein katholisches Herkommen. Es wäre an anderer Stelle über Rilkes am eigenen Narzissmus scheiterndes Verhältnis zu Frauen zu reden. Er sei kein Liebender, schreibt er, vielleicht, weil er seine Mutter nie geliebt habe. Seine Erotomanie nimmt mitunter suchtartige Züge an. So dass die Rilke reichlich mit Namen bedenkende Marie von Thurn und Taxis ihn auch abwechselnd einen Don Juan und ein unartiges Kind nennt, das man ausschelten müsse. Sage also niemand, Rilkes von zahlreichen Mäzeninnen ausgehaltenes Dasein sei leicht gewesen!
Schrecklich wird der Engel, weil wir durch ihn keinerlei Erlösung zu erwarten haben. Er entzieht sich jeder Instrumentalisierungsabsicht. Wie der Geschlechtstrieb. Rilke bekennt in seinen »Briefen an einen jungen Dichter«: »Und tatsächlich liegt ja künstlerisches Erleben so unglaublich nahe am geschlechtlichen, an seinem Weh und seiner Lust, daß die beiden Erscheinungen eigentlich nur verschiedene Formen ein und derselben Sehnsucht und Seligkeit sind.« Rilke geht mit dem Bild des Engels den Passionsweg der Selbsterkenntnis - im Bohèmekostüm.
Es war Edvard Munchs Ur-Schrei der Angst, den Rilke auf Schloss Duino durch das Dröhnen des Meeres hindurch vernahm.
Rainer Maria Rilke: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden und einem Supplementband. Insel-Verlag. Leinen, 248 Euro.»Ach, wen vermögen / wir denn zu brauchen? Engel nicht, Menschen nicht / und die findigen Tiere merken es schon, / daß wir nicht sehr verlässlich zu Haus sind / in der gedeuteten Welt.«
Erste Duineser Elegie, 1912
Am Fuße des Felsens von Duino, durch das Dröhnen des Meeres hindurch, hört Rilke den Schrei des Engels. Die erste Duineser Elegie wird geboren. Es ist der 21. Januar 1912.
Im Sommer 2003 öffnet das Schloss Duino für Besucher. Rilkes Refugium an der Adria bei Triest geht den Weg aller Vermarktung. Die Ankunft des lart pour lart im Warenhaus, wo Kitsch und Kunst ohne Unterschied über den Ladentisch gehen. Auch der Engel, jene Zentralmetapher, auf die das Werk Rilkes hinläuft, ist nicht vor Trivialisierung gefeit. Ja, sie provoziert es geradezu, missverstanden zu werden - und rechnet bereits mit den desaströsen Folgen: »Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.« (Erste Duineser Elegie)
Darin liegt eine Revision des Frühwerks von Ausmaßen. Rilke ist nun nicht mehr der Erbauungsdichter, der als Zwanzigjähriger geschrieben hatte: »Die einzige Gnade, die ich erflehe, ist die, daß meine Werke ein zartes Echo in den Herzen hübscher Frauen finden möchten.« Dieses geschwätzige Frühwerk war ihm später peinlich. Auf das Frühwerk bezieht sich Brechts Wort von Rilkes schwulem Verhältnis zu Gott. Erst in der Großstadt Paris nüchtern Rilkes Gedichte aus. Die »Neuen Gedichte« wie »Der Panther« sind kühl und nüchtern geformt; geradezu analytisch. »Immer arbeiten« hatte Rodin zu dem Dichter gesagt. Das war neu für Rilke, dass auch der Künstler ein Arbeiter ist.
In Paris bekommen seine Themen eine soziale, schließlich eine existenzialistische Qualität. Hatte er auf seinen beiden Russland-Reisen (1899/1900) mit Lou-Andreas-Salomé noch die Armut und Unwissenheit als ursprünglich gefeiert, so erscheint im Moloch der Großstadt die Armut als etwas ganz und gar Unpoetisches: blankes Elend. Diese neue Form von Armut als Produkt des Kapitalismus, wie sie auch Zola beschreibt, verändert Rilkes Wahrnehmung. Sein »Malte Laurids Brigge« wird 1909 zu einer Kafkas »Schloss« und »Strafkolonie« ebenbürtigen Vision des 20. Jahrhunderts. Rilke gelingt hier eine Analytik der Lebens-Angst. Sein Ausweg: eine mit Skepsis gegen den Zugriff der unmenschlichen Außenwelt gewappnete Innerlichkeit.
Hier, im stoisch verteidigten »Weltinnenraum«, wird Rilkes Engel des Spätwerks geboren. Er liefert Anlass zu vielen Missverständnissen. Für Rilke ist Schreiben das Gegenteil von abschließendem Behaupten. Es reicht ins Offene des Verstehens hinüber. So hält auch der Engel verschiedene Deutungsmöglichkeiten offen. Ist der Engel vielleicht sogar ein Name für das offen-haltende Prinzip überhaupt? Damit ist schon gesagt, womit man ihn ganz und gar nicht verwechseln darf: mit den katholisch ornamentalen Flügelwesen. Wenn die Fürstin Marie von Thurn und Taxis ihren »Hofpoeten« auch »Doktor seraphicus« ruft, dann ist dies ein ins Scherzhafte gekleidetes Missverständnis, das Rilke stumm erduldet. Denn alle Seraphim und Cherubim der neuplatonisch-christlichen Engelsordnung lagen Rilke unendlich fern. Mehr noch, er hasste sie. Seine Kritik des Christentums ist ebenso unversöhnlich wie die Nietzsches.
Zeigen wir also andere Übersetzungswege des Engels auf, die fruchtbarer und Rilkes Intention angemessener erscheinen. Zuerst: Rilke ist lebenslang auf der Flucht vor seinem Herkommen. Vor der Mutter und auch vor Prag.
Die katholisch-bigotte Mutter steckt ihn bis zu seinem sechsten Lebensjahr in Mädchenkleider. Nach der Scheidung der Eltern wird das verzärtelte Jungen-Mädchen auf die Kadetten-Schule nach Sankt Pölten gegeben. Nur seiner vornehm-scheuen Distanz zu den rauen Jungmännermachtkämpfen, seinem überzeugend demonstrierten Desinteresse, »unter Männern« je eine Rolle zu spielen, verdankt es sich, dass Rilke diese Zeit »unterm Rad« (Hesse) überhaupt übersteht.
Sehet, es wäre / arg um das Große bestellt, wenn es irgend der Schonung / bedürfte. Wem die Paläste oder der Gärten / Kühnheit nicht mehr, wem Aufstieg und Rückfall / alter Fontänen nicht mehr, wem das Verhaltene / in den Bildern oder der Statuen ewiges Dastehn / nicht mehr die Seele erschreckt und verwandelt, der gehe / diesem hinaus und tue sein Tagwerk; wo anders / lauert das Große auf ihn und wird ihn wo anders / anfalln, daß er sich wehrt.«
Fragment einer Elegie, 1912
Prag ist eine Insel. Eine mittelalterlich-geschlossene Stadt inmitten des industriellen Kapitalismus. Das hat nahezu klaustrophische Folgen, besonders für einen Teil der deutschen Minderheit, die sich hier zudem auf einer Sprachinsel fühlt. Etwas Neurotisches liegt in der Luft, etwas vom Narziss, der sich zu lange selbst im Spiegel anschaut. Das prägt Sprache - von Kafka bis Fürnberg. Rilkes Weg zum Engel ist der Weg zur Selbsterkenntnis als eben dieser Narziss. Hinter dem Markenschild »Dichter«, das er zum Einlassbillet für seine Schlösser-Dauergastexistenz macht, verbirgt sich der echte Dichter. Einer, der voll Existenz-Angst ist und der sich auf seine Sprache als mobile Heimat zurückzieht.
Für Rilke ist Sprache nichts, was er vorfindet, sondern etwas, wozu er sich mühsam erst noch den Weg bahnen muss. Diesem Dichter ist nichts selbstverständlich. Nicht das Wort - und nicht die Welt, die lügt, wenn sie vorgibt, so sein zu müssen wie sie ist.
Rilke, einmal zu sich gekommen, ist auch auf der Dauer-Flucht vor dem kirchlich so missbrauchten Jesus-Bild, das in ihm nichts mehr auslöst als Überdruss und Abwehr. Manch frommer Rilke-Anhänger erregt sich bis heute über dessen Vergleich von Jesus mit einem Telefon zu Gott, in das andauernd hineingerufen wird: »Holla, wer dort?«
Auf Duino also nimmt die Geschichte vom Engel ihren Anfang. Hier beginnt Rilke als Gast der Fürstin Marie von Thurn und Taxis die erste seiner Elegien - wie einem inneren Diktat folgend - niederzuschreiben. Vollenden wird er den Zyklus erst zehn Jahre später, 1922. Dazwischen liegt eine Zeitscheide: der erste Weltkrieg. Das Schloss wird von italienischen Kanonenbooten beschossen und zerstört. Rilke erlebt den Wiederaufbau nicht mehr.
Mit dem Ausbruch des ersten Weltkriegs endet auch Rilkes europäischer Schlössertourismus. In den Jahren 1909 bis 1914, so haben akribische Germanisten ermittelt, wohnt Rilke an über fünfzig verschiedenen Orten. Der vergebliche Fluchtversuch eines Dichters vor der heranrückenden Katastrophe. Bei Kriegsausbruch ist er zufällig nicht in Paris, sondern auf einer »kurzen Reise« nach Deutschland. Auf Jahre ist ihm der Weg zurück versperrt. Er verliert seine Wohnung. Möbel, Bücher, Manuskripte verschwinden - nur das wichtigste können Freunde in Sicherheit bringen. Nach dem Krieg passiert ihm das gleiche in München. Er hatte zu offen mit der Räterepublik Kurt Eisners sympathisiert. Seine Briefe an Sophie Liebknecht klingen nach Liebesbrief; der Dichter als Unsicherheitsfaktor in jeder Beziehung. Nach der Niederschlagung der Räterepublik entzieht man ihm de facto das Wohnrecht. Seine fluchtartige Abreise aus München in die Schweiz ist abenteuerlich. Einer seiner vielen befreundeten Schauspielerinnen, Anne-Marie Seidel, die er zufällig im Zug trifft, gelingt es, an der Grenze noch einen fehlenden Stempel aufzutreiben, ohne den Rilke nicht in die Schweiz kommt. Er wird nie wieder deutschen Boden betreten.
Spätfolge eines Dichterlebens: Nach fast hundert Jahren Verborgenheit wird Duino nun als Attraktion in die Öffentlichkeit geschleudert. Der flache Strom der Mode wird postum zum eigentlichen Abseits des Dichters. Rilkes Beliebtheit wächst unaufhörlich. Für einen Dichter ist das eine gefährliche Sache, so zur Besichtigung frei gegeben zu werden. Der zynische Gottfried Benn hatte schon 1955 in seinem Vortrag »Soll die Dichtung das Leben bessern?« höhnisch von »Fastenkuren mit Rilke« als zeitgeisttypischer Praxisverfehlung der Dichtung gesprochen.
Wenn wir also hören, dass Rilke mitten in der Brandung am Fuße des Felsens von Duino die Stimme des Engels vernommen hat, sind wir zu Recht erst einmal misstrauisch. Wessen Schrei hört Rilke denn - den des Engels oder seinen eigenen? Es heißt: »Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn in der Engel Ordnungen?« Ist es vielleicht Walter Benjamins »Engel der Geschichte«, in dessen Flügel ein allzu starker Sturmwind bläst?
Ist der Engel kommentarbedürftig? Der Insel-Verlag jedenfalls setzt mit einem verlegerischen Großunternehmen und mit gleich vier Herausgebern ganz auf den Kommentar. Gegen die Trivialisierung Rilkes zur Attraktion will die »Kommentierte Ausgabe« philologische Genauigkeit, Präzision im Detail und den Reichtum an Differenziertheit herausstellen. Das gelingt auf beeindruckende Weise in vier Bänden und einem Supplementband. Dieser, soeben erschienen, enthält Rilkes Gedichte in französischer Sprache mit deutscher Prosaübersetzung (übertragen von Rätus Luck). Wenn von 767 Seiten dieses Bandes 388 Seiten aus kommentierendem Anhang bestehen - mehr als die Hälfte! -, dann sagt das einiges über den Charakter der Ausgabe. Für jene Spezies Liebhaber, die sich nicht von der scholastischen Tatsache abschrecken lässt, dass der Kommentar länger ist als das zu kommentierende Werk?
Wollen wir etwas über die Duineser Elegien erfahren, gibt der von Manfred Engel und Ulrich Fülleborn herausgegebene Band 2 auf gleich 113 (!) Seiten Aufschluss. Nachzulesen sind auch Rilkes Selbstaussagen über die Entstehung der Elegien. In einem Brief Rilkes an Witold Hulewicz vom 13. 11. 1925 erhalten wir einen wichtigen Hinweis zum Verständnis des Engels: »Der Engel der Elegien ist dasjenige Wesen, das dafür einsteht, im Unsichtbaren einen höheren Rang der Realität zu erkennen - Daher "schrecklich" für uns, weil wir, seine Liebenden und Verwandler, doch noch am Sichtbaren hängen.« Hier klärt uns ein kluger Kommentar darüber auf, was der Engel ist: ein Gegenbereich zur »gedeuteten Welt«, die auch die durchkommentierte ist.
Der Engel tritt auf als noch ungewordene Möglichkeit von Wirklichkeit; als Naturzustand. Denn was ist es, das Rilke immer noch so interessant macht? Die komprimierte Durchschlagskraft seiner wenigen großen Texte. Aber gerade diese lassen sich nicht auf einen Begriff bringen. Das Paradoxon verführt dann zu Kommentaren in Romandicke. Sie kreisen immer um das eine: Für Rilke ist Dichtung eine Form der sprachlichen Verdichtung. Sinnliches und Intellektuelles verschmelzen miteinander - im Bild des Engels.
Ein anderes Bild des Engels eröffnet sich für Rilke. Ein ägyptisches. Das der Sphinx von Gizeh. Rilke hat sie 1910 auf seiner merkwürdigen Nordafrika-Reise (als sich selbst verachtender Beinahe-Gigolo) zusammen mit der Münchner Pelzhändlersgattin Jenny Oltersdorf gesehen. Wie die Sphinx ist der Engel der Duineser Elegien ein so übermächtiges Gegenüber, dass man hier nicht auf Antwort hoffen kann. Dieser Engel ist ein zur Vergeistigung nur bedingt geeignetes Triebwesen. Sündhaft lebt, wer gegen die Natur lebt. Damit steht Rilke (zusammen mit dem Engel) gegen sein katholisches Herkommen. Es wäre an anderer Stelle über Rilkes am eigenen Narzissmus scheiterndes Verhältnis zu Frauen zu reden. Er sei kein Liebender, schreibt er, vielleicht, weil er seine Mutter nie geliebt habe. Seine Erotomanie nimmt mitunter suchtartige Züge an. So dass die Rilke reichlich mit Namen bedenkende Marie von Thurn und Taxis ihn auch abwechselnd einen Don Juan und ein unartiges Kind nennt, das man ausschelten müsse. Sage also niemand, Rilkes von zahlreichen Mäzeninnen ausgehaltenes Dasein sei leicht gewesen!
Schrecklich wird der Engel, weil wir durch ihn keinerlei Erlösung zu erwarten haben. Er entzieht sich jeder Instrumentalisierungsabsicht. Wie der Geschlechtstrieb. Rilke bekennt in seinen »Briefen an einen jungen Dichter«: »Und tatsächlich liegt ja künstlerisches Erleben so unglaublich nahe am geschlechtlichen, an seinem Weh und seiner Lust, daß die beiden Erscheinungen eigentlich nur verschiedene Formen ein und derselben Sehnsucht und Seligkeit sind.« Rilke geht mit dem Bild des Engels den Passionsweg der Selbsterkenntnis - im Bohèmekostüm.
Es war Edvard Munchs Ur-Schrei der Angst, den Rilke auf Schloss Duino durch das Dröhnen des Meeres hindurch vernahm.
Rainer Maria Rilke: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden und einem Supplementband. Insel-Verlag. Leinen, 248 Euro.
Erste Duineser Elegie, 1912
Am Fuße des Felsens von Duino, durch das Dröhnen des Meeres hindurch, hört Rilke den Schrei des Engels. Die erste Duineser Elegie wird geboren. Es ist der 21. Januar 1912.
Im Sommer 2003 öffnet das Schloss Duino für Besucher. Rilkes Refugium an der Adria bei Triest geht den Weg aller Vermarktung. Die Ankunft des lart pour lart im Warenhaus, wo Kitsch und Kunst ohne Unterschied über den Ladentisch gehen. Auch der Engel, jene Zentralmetapher, auf die das Werk Rilkes hinläuft, ist nicht vor Trivialisierung gefeit. Ja, sie provoziert es geradezu, missverstanden zu werden - und rechnet bereits mit den desaströsen Folgen: »Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.« (Erste Duineser Elegie)
Darin liegt eine Revision des Frühwerks von Ausmaßen. Rilke ist nun nicht mehr der Erbauungsdichter, der als Zwanzigjähriger geschrieben hatte: »Die einzige Gnade, die ich erflehe, ist die, daß meine Werke ein zartes Echo in den Herzen hübscher Frauen finden möchten.« Dieses geschwätzige Frühwerk war ihm später peinlich. Auf das Frühwerk bezieht sich Brechts Wort von Rilkes schwulem Verhältnis zu Gott. Erst in der Großstadt Paris nüchtern Rilkes Gedichte aus. Die »Neuen Gedichte« wie »Der Panther« sind kühl und nüchtern geformt; geradezu analytisch. »Immer arbeiten« hatte Rodin zu dem Dichter gesagt. Das war neu für Rilke, dass auch der Künstler ein Arbeiter ist.
In Paris bekommen seine Themen eine soziale, schließlich eine existenzialistische Qualität. Hatte er auf seinen beiden Russland-Reisen (1899/1900) mit Lou-Andreas-Salomé noch die Armut und Unwissenheit als ursprünglich gefeiert, so erscheint im Moloch der Großstadt die Armut als etwas ganz und gar Unpoetisches: blankes Elend. Diese neue Form von Armut als Produkt des Kapitalismus, wie sie auch Zola beschreibt, verändert Rilkes Wahrnehmung. Sein »Malte Laurids Brigge« wird 1909 zu einer Kafkas »Schloss« und »Strafkolonie« ebenbürtigen Vision des 20. Jahrhunderts. Rilke gelingt hier eine Analytik der Lebens-Angst. Sein Ausweg: eine mit Skepsis gegen den Zugriff der unmenschlichen Außenwelt gewappnete Innerlichkeit.
Hier, im stoisch verteidigten »Weltinnenraum«, wird Rilkes Engel des Spätwerks geboren. Er liefert Anlass zu vielen Missverständnissen. Für Rilke ist Schreiben das Gegenteil von abschließendem Behaupten. Es reicht ins Offene des Verstehens hinüber. So hält auch der Engel verschiedene Deutungsmöglichkeiten offen. Ist der Engel vielleicht sogar ein Name für das offen-haltende Prinzip überhaupt? Damit ist schon gesagt, womit man ihn ganz und gar nicht verwechseln darf: mit den katholisch ornamentalen Flügelwesen. Wenn die Fürstin Marie von Thurn und Taxis ihren »Hofpoeten« auch »Doktor seraphicus« ruft, dann ist dies ein ins Scherzhafte gekleidetes Missverständnis, das Rilke stumm erduldet. Denn alle Seraphim und Cherubim der neuplatonisch-christlichen Engelsordnung lagen Rilke unendlich fern. Mehr noch, er hasste sie. Seine Kritik des Christentums ist ebenso unversöhnlich wie die Nietzsches.
Zeigen wir also andere Übersetzungswege des Engels auf, die fruchtbarer und Rilkes Intention angemessener erscheinen. Zuerst: Rilke ist lebenslang auf der Flucht vor seinem Herkommen. Vor der Mutter und auch vor Prag.
Die katholisch-bigotte Mutter steckt ihn bis zu seinem sechsten Lebensjahr in Mädchenkleider. Nach der Scheidung der Eltern wird das verzärtelte Jungen-Mädchen auf die Kadetten-Schule nach Sankt Pölten gegeben. Nur seiner vornehm-scheuen Distanz zu den rauen Jungmännermachtkämpfen, seinem überzeugend demonstrierten Desinteresse, »unter Männern« je eine Rolle zu spielen, verdankt es sich, dass Rilke diese Zeit »unterm Rad« (Hesse) überhaupt übersteht.
Sehet, es wäre / arg um das Große bestellt, wenn es irgend der Schonung / bedürfte. Wem die Paläste oder der Gärten / Kühnheit nicht mehr, wem Aufstieg und Rückfall / alter Fontänen nicht mehr, wem das Verhaltene / in den Bildern oder der Statuen ewiges Dastehn / nicht mehr die Seele erschreckt und verwandelt, der gehe / diesem hinaus und tue sein Tagwerk; wo anders / lauert das Große auf ihn und wird ihn wo anders / anfalln, daß er sich wehrt.«
Fragment einer Elegie, 1912
Prag ist eine Insel. Eine mittelalterlich-geschlossene Stadt inmitten des industriellen Kapitalismus. Das hat nahezu klaustrophische Folgen, besonders für einen Teil der deutschen Minderheit, die sich hier zudem auf einer Sprachinsel fühlt. Etwas Neurotisches liegt in der Luft, etwas vom Narziss, der sich zu lange selbst im Spiegel anschaut. Das prägt Sprache - von Kafka bis Fürnberg. Rilkes Weg zum Engel ist der Weg zur Selbsterkenntnis als eben dieser Narziss. Hinter dem Markenschild »Dichter«, das er zum Einlassbillet für seine Schlösser-Dauergastexistenz macht, verbirgt sich der echte Dichter. Einer, der voll Existenz-Angst ist und der sich auf seine Sprache als mobile Heimat zurückzieht.
Für Rilke ist Sprache nichts, was er vorfindet, sondern etwas, wozu er sich mühsam erst noch den Weg bahnen muss. Diesem Dichter ist nichts selbstverständlich. Nicht das Wort - und nicht die Welt, die lügt, wenn sie vorgibt, so sein zu müssen wie sie ist.
Rilke, einmal zu sich gekommen, ist auch auf der Dauer-Flucht vor dem kirchlich so missbrauchten Jesus-Bild, das in ihm nichts mehr auslöst als Überdruss und Abwehr. Manch frommer Rilke-Anhänger erregt sich bis heute über dessen Vergleich von Jesus mit einem Telefon zu Gott, in das andauernd hineingerufen wird: »Holla, wer dort?«
Auf Duino also nimmt die Geschichte vom Engel ihren Anfang. Hier beginnt Rilke als Gast der Fürstin Marie von Thurn und Taxis die erste seiner Elegien - wie einem inneren Diktat folgend - niederzuschreiben. Vollenden wird er den Zyklus erst zehn Jahre später, 1922. Dazwischen liegt eine Zeitscheide: der erste Weltkrieg. Das Schloss wird von italienischen Kanonenbooten beschossen und zerstört. Rilke erlebt den Wiederaufbau nicht mehr.
Mit dem Ausbruch des ersten Weltkriegs endet auch Rilkes europäischer Schlössertourismus. In den Jahren 1909 bis 1914, so haben akribische Germanisten ermittelt, wohnt Rilke an über fünfzig verschiedenen Orten. Der vergebliche Fluchtversuch eines Dichters vor der heranrückenden Katastrophe. Bei Kriegsausbruch ist er zufällig nicht in Paris, sondern auf einer »kurzen Reise« nach Deutschland. Auf Jahre ist ihm der Weg zurück versperrt. Er verliert seine Wohnung. Möbel, Bücher, Manuskripte verschwinden - nur das wichtigste können Freunde in Sicherheit bringen. Nach dem Krieg passiert ihm das gleiche in München. Er hatte zu offen mit der Räterepublik Kurt Eisners sympathisiert. Seine Briefe an Sophie Liebknecht klingen nach Liebesbrief; der Dichter als Unsicherheitsfaktor in jeder Beziehung. Nach der Niederschlagung der Räterepublik entzieht man ihm de facto das Wohnrecht. Seine fluchtartige Abreise aus München in die Schweiz ist abenteuerlich. Einer seiner vielen befreundeten Schauspielerinnen, Anne-Marie Seidel, die er zufällig im Zug trifft, gelingt es, an der Grenze noch einen fehlenden Stempel aufzutreiben, ohne den Rilke nicht in die Schweiz kommt. Er wird nie wieder deutschen Boden betreten.
Spätfolge eines Dichterlebens: Nach fast hundert Jahren Verborgenheit wird Duino nun als Attraktion in die Öffentlichkeit geschleudert. Der flache Strom der Mode wird postum zum eigentlichen Abseits des Dichters. Rilkes Beliebtheit wächst unaufhörlich. Für einen Dichter ist das eine gefährliche Sache, so zur Besichtigung frei gegeben zu werden. Der zynische Gottfried Benn hatte schon 1955 in seinem Vortrag »Soll die Dichtung das Leben bessern?« höhnisch von »Fastenkuren mit Rilke« als zeitgeisttypischer Praxisverfehlung der Dichtung gesprochen.
Wenn wir also hören, dass Rilke mitten in der Brandung am Fuße des Felsens von Duino die Stimme des Engels vernommen hat, sind wir zu Recht erst einmal misstrauisch. Wessen Schrei hört Rilke denn - den des Engels oder seinen eigenen? Es heißt: »Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn in der Engel Ordnungen?« Ist es vielleicht Walter Benjamins »Engel der Geschichte«, in dessen Flügel ein allzu starker Sturmwind bläst?
Ist der Engel kommentarbedürftig? Der Insel-Verlag jedenfalls setzt mit einem verlegerischen Großunternehmen und mit gleich vier Herausgebern ganz auf den Kommentar. Gegen die Trivialisierung Rilkes zur Attraktion will die »Kommentierte Ausgabe« philologische Genauigkeit, Präzision im Detail und den Reichtum an Differenziertheit herausstellen. Das gelingt auf beeindruckende Weise in vier Bänden und einem Supplementband. Dieser, soeben erschienen, enthält Rilkes Gedichte in französischer Sprache mit deutscher Prosaübersetzung (übertragen von Rätus Luck). Wenn von 767 Seiten dieses Bandes 388 Seiten aus kommentierendem Anhang bestehen - mehr als die Hälfte! -, dann sagt das einiges über den Charakter der Ausgabe. Für jene Spezies Liebhaber, die sich nicht von der scholastischen Tatsache abschrecken lässt, dass der Kommentar länger ist als das zu kommentierende Werk?
Wollen wir etwas über die Duineser Elegien erfahren, gibt der von Manfred Engel und Ulrich Fülleborn herausgegebene Band 2 auf gleich 113 (!) Seiten Aufschluss. Nachzulesen sind auch Rilkes Selbstaussagen über die Entstehung der Elegien. In einem Brief Rilkes an Witold Hulewicz vom 13. 11. 1925 erhalten wir einen wichtigen Hinweis zum Verständnis des Engels: »Der Engel der Elegien ist dasjenige Wesen, das dafür einsteht, im Unsichtbaren einen höheren Rang der Realität zu erkennen - Daher "schrecklich" für uns, weil wir, seine Liebenden und Verwandler, doch noch am Sichtbaren hängen.« Hier klärt uns ein kluger Kommentar darüber auf, was der Engel ist: ein Gegenbereich zur »gedeuteten Welt«, die auch die durchkommentierte ist.
Der Engel tritt auf als noch ungewordene Möglichkeit von Wirklichkeit; als Naturzustand. Denn was ist es, das Rilke immer noch so interessant macht? Die komprimierte Durchschlagskraft seiner wenigen großen Texte. Aber gerade diese lassen sich nicht auf einen Begriff bringen. Das Paradoxon verführt dann zu Kommentaren in Romandicke. Sie kreisen immer um das eine: Für Rilke ist Dichtung eine Form der sprachlichen Verdichtung. Sinnliches und Intellektuelles verschmelzen miteinander - im Bild des Engels.
Ein anderes Bild des Engels eröffnet sich für Rilke. Ein ägyptisches. Das der Sphinx von Gizeh. Rilke hat sie 1910 auf seiner merkwürdigen Nordafrika-Reise (als sich selbst verachtender Beinahe-Gigolo) zusammen mit der Münchner Pelzhändlersgattin Jenny Oltersdorf gesehen. Wie die Sphinx ist der Engel der Duineser Elegien ein so übermächtiges Gegenüber, dass man hier nicht auf Antwort hoffen kann. Dieser Engel ist ein zur Vergeistigung nur bedingt geeignetes Triebwesen. Sündhaft lebt, wer gegen die Natur lebt. Damit steht Rilke (zusammen mit dem Engel) gegen sein katholisches Herkommen. Es wäre an anderer Stelle über Rilkes am eigenen Narzissmus scheiterndes Verhältnis zu Frauen zu reden. Er sei kein Liebender, schreibt er, vielleicht, weil er seine Mutter nie geliebt habe. Seine Erotomanie nimmt mitunter suchtartige Züge an. So dass die Rilke reichlich mit Namen bedenkende Marie von Thurn und Taxis ihn auch abwechselnd einen Don Juan und ein unartiges Kind nennt, das man ausschelten müsse. Sage also niemand, Rilkes von zahlreichen Mäzeninnen ausgehaltenes Dasein sei leicht gewesen!
Schrecklich wird der Engel, weil wir durch ihn keinerlei Erlösung zu erwarten haben. Er entzieht sich jeder Instrumentalisierungsabsicht. Wie der Geschlechtstrieb. Rilke bekennt in seinen »Briefen an einen jungen Dichter«: »Und tatsächlich liegt ja künstlerisches Erleben so unglaublich nahe am geschlechtlichen, an seinem Weh und seiner Lust, daß die beiden Erscheinungen eigentlich nur verschiedene Formen ein und derselben Sehnsucht und Seligkeit sind.« Rilke geht mit dem Bild des Engels den Passionsweg der Selbsterkenntnis - im Bohèmekostüm.
Es war Edvard Munchs Ur-Schrei der Angst, den Rilke auf Schloss Duino durch das Dröhnen des Meeres hindurch vernahm.
Rainer Maria Rilke: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden und einem Supplementband. Insel-Verlag. Leinen, 248 Euro.»Ach, wen vermögen / wir denn zu brauchen? Engel nicht, Menschen nicht / und die findigen Tiere merken es schon, / daß wir nicht sehr verlässlich zu Haus sind / in der gedeuteten Welt.«
Erste Duineser Elegie, 1912
Am Fuße des Felsens von Duino, durch das Dröhnen des Meeres hindurch, hört Rilke den Schrei des Engels. Die erste Duineser Elegie wird geboren. Es ist der 21. Januar 1912.
Im Sommer 2003 öffnet das Schloss Duino für Besucher. Rilkes Refugium an der Adria bei Triest geht den Weg aller Vermarktung. Die Ankunft des lart pour lart im Warenhaus, wo Kitsch und Kunst ohne Unterschied über den Ladentisch gehen. Auch der Engel, jene Zentralmetapher, auf die das Werk Rilkes hinläuft, ist nicht vor Trivialisierung gefeit. Ja, sie provoziert es geradezu, missverstanden zu werden - und rechnet bereits mit den desaströsen Folgen: »Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich.« (Erste Duineser Elegie)
Darin liegt eine Revision des Frühwerks von Ausmaßen. Rilke ist nun nicht mehr der Erbauungsdichter, der als Zwanzigjähriger geschrieben hatte: »Die einzige Gnade, die ich erflehe, ist die, daß meine Werke ein zartes Echo in den Herzen hübscher Frauen finden möchten.« Dieses geschwätzige Frühwerk war ihm später peinlich. Auf das Frühwerk bezieht sich Brechts Wort von Rilkes schwulem Verhältnis zu Gott. Erst in der Großstadt Paris nüchtern Rilkes Gedichte aus. Die »Neuen Gedichte« wie »Der Panther« sind kühl und nüchtern geformt; geradezu analytisch. »Immer arbeiten« hatte Rodin zu dem Dichter gesagt. Das war neu für Rilke, dass auch der Künstler ein Arbeiter ist.
In Paris bekommen seine Themen eine soziale, schließlich eine existenzialistische Qualität. Hatte er auf seinen beiden Russland-Reisen (1899/1900) mit Lou-Andreas-Salomé noch die Armut und Unwissenheit als ursprünglich gefeiert, so erscheint im Moloch der Großstadt die Armut als etwas ganz und gar Unpoetisches: blankes Elend. Diese neue Form von Armut als Produkt des Kapitalismus, wie sie auch Zola beschreibt, verändert Rilkes Wahrnehmung. Sein »Malte Laurids Brigge« wird 1909 zu einer Kafkas »Schloss« und »Strafkolonie« ebenbürtigen Vision des 20. Jahrhunderts. Rilke gelingt hier eine Analytik der Lebens-Angst. Sein Ausweg: eine mit Skepsis gegen den Zugriff der unmenschlichen Außenwelt gewappnete Innerlichkeit.
Hier, im stoisch verteidigten »Weltinnenraum«, wird Rilkes Engel des Spätwerks geboren. Er liefert Anlass zu vielen Missverständnissen. Für Rilke ist Schreiben das Gegenteil von abschließendem Behaupten. Es reicht ins Offene des Verstehens hinüber. So hält auch der Engel verschiedene Deutungsmöglichkeiten offen. Ist der Engel vielleicht sogar ein Name für das offen-haltende Prinzip überhaupt? Damit ist schon gesagt, womit man ihn ganz und gar nicht verwechseln darf: mit den katholisch ornamentalen Flügelwesen. Wenn die Fürstin Marie von Thurn und Taxis ihren »Hofpoeten« auch »Doktor seraphicus« ruft, dann ist dies ein ins Scherzhafte gekleidetes Missverständnis, das Rilke stumm erduldet. Denn alle Seraphim und Cherubim der neuplatonisch-christlichen Engelsordnung lagen Rilke unendlich fern. Mehr noch, er hasste sie. Seine Kritik des Christentums ist ebenso unversöhnlich wie die Nietzsches.
Zeigen wir also andere Übersetzungswege des Engels auf, die fruchtbarer und Rilkes Intention angemessener erscheinen. Zuerst: Rilke ist lebenslang auf der Flucht vor seinem Herkommen. Vor der Mutter und auch vor Prag.
Die katholisch-bigotte Mutter steckt ihn bis zu seinem sechsten Lebensjahr in Mädchenkleider. Nach der Scheidung der Eltern wird das verzärtelte Jungen-Mädchen auf die Kadetten-Schule nach Sankt Pölten gegeben. Nur seiner vornehm-scheuen Distanz zu den rauen Jungmännermachtkämpfen, seinem überzeugend demonstrierten Desinteresse, »unter Männern« je eine Rolle zu spielen, verdankt es sich, dass Rilke diese Zeit »unterm Rad« (Hesse) überhaupt übersteht.
Sehet, es wäre / arg um das Große bestellt, wenn es irgend der Schonung / bedürfte. Wem die Paläste oder der Gärten / Kühnheit nicht mehr, wem Aufstieg und Rückfall / alter Fontänen nicht mehr, wem das Verhaltene / in den Bildern oder der Statuen ewiges Dastehn / nicht mehr die Seele erschreckt und verwandelt, der gehe / diesem hinaus und tue sein Tagwerk; wo anders / lauert das Große auf ihn und wird ihn wo anders / anfalln, daß er sich wehrt.«
Fragment einer Elegie, 1912
Prag ist eine Insel. Eine mittelalterlich-geschlossene Stadt inmitten des industriellen Kapitalismus. Das hat nahezu klaustrophische Folgen, besonders für einen Teil der deutschen Minderheit, die sich hier zudem auf einer Sprachinsel fühlt. Etwas Neurotisches liegt in der Luft, etwas vom Narziss, der sich zu lange selbst im Spiegel anschaut. Das prägt Sprache - von Kafka bis Fürnberg. Rilkes Weg zum Engel ist der Weg zur Selbsterkenntnis als eben dieser Narziss. Hinter dem Markenschild »Dichter«, das er zum Einlassbillet für seine Schlösser-Dauergastexistenz macht, verbirgt sich der echte Dichter. Einer, der voll Existenz-Angst ist und der sich auf seine Sprache als mobile Heimat zurückzieht.
Für Rilke ist Sprache nichts, was er vorfindet, sondern etwas, wozu er sich mühsam erst noch den Weg bahnen muss. Diesem Dichter ist nichts selbstverständlich. Nicht das Wort - und nicht die Welt, die lügt, wenn sie vorgibt, so sein zu müssen wie sie ist.
Rilke, einmal zu sich gekommen, ist auch auf der Dauer-Flucht vor dem kirchlich so missbrauchten Jesus-Bild, das in ihm nichts mehr auslöst als Überdruss und Abwehr. Manch frommer Rilke-Anhänger erregt sich bis heute über dessen Vergleich von Jesus mit einem Telefon zu Gott, in das andauernd hineingerufen wird: »Holla, wer dort?«
Auf Duino also nimmt die Geschichte vom Engel ihren Anfang. Hier beginnt Rilke als Gast der Fürstin Marie von Thurn und Taxis die erste seiner Elegien - wie einem inneren Diktat folgend - niederzuschreiben. Vollenden wird er den Zyklus erst zehn Jahre später, 1922. Dazwischen liegt eine Zeitscheide: der erste Weltkrieg. Das Schloss wird von italienischen Kanonenbooten beschossen und zerstört. Rilke erlebt den Wiederaufbau nicht mehr.
Mit dem Ausbruch des ersten Weltkriegs endet auch Rilkes europäischer Schlössertourismus. In den Jahren 1909 bis 1914, so haben akribische Germanisten ermittelt, wohnt Rilke an über fünfzig verschiedenen Orten. Der vergebliche Fluchtversuch eines Dichters vor der heranrückenden Katastrophe. Bei Kriegsausbruch ist er zufällig nicht in Paris, sondern auf einer »kurzen Reise« nach Deutschland. Auf Jahre ist ihm der Weg zurück versperrt. Er verliert seine Wohnung. Möbel, Bücher, Manuskripte verschwinden - nur das wichtigste können Freunde in Sicherheit bringen. Nach dem Krieg passiert ihm das gleiche in München. Er hatte zu offen mit der Räterepublik Kurt Eisners sympathisiert. Seine Briefe an Sophie Liebknecht klingen nach Liebesbrief; der Dichter als Unsicherheitsfaktor in jeder Beziehung. Nach der Niederschlagung der Räterepublik entzieht man ihm de facto das Wohnrecht. Seine fluchtartige Abreise aus München in die Schweiz ist abenteuerlich. Einer seiner vielen befreundeten Schauspielerinnen, Anne-Marie Seidel, die er zufällig im Zug trifft, gelingt es, an der Grenze noch einen fehlenden Stempel aufzutreiben, ohne den Rilke nicht in die Schweiz kommt. Er wird nie wieder deutschen Boden betreten.
Spätfolge eines Dichterlebens: Nach fast hundert Jahren Verborgenheit wird Duino nun als Attraktion in die Öffentlichkeit geschleudert. Der flache Strom der Mode wird postum zum eigentlichen Abseits des Dichters. Rilkes Beliebtheit wächst unaufhörlich. Für einen Dichter ist das eine gefährliche Sache, so zur Besichtigung frei gegeben zu werden. Der zynische Gottfried Benn hatte schon 1955 in seinem Vortrag »Soll die Dichtung das Leben bessern?« höhnisch von »Fastenkuren mit Rilke« als zeitgeisttypischer Praxisverfehlung der Dichtung gesprochen.
Wenn wir also hören, dass Rilke mitten in der Brandung am Fuße des Felsens von Duino die Stimme des Engels vernommen hat, sind wir zu Recht erst einmal misstrauisch. Wessen Schrei hört Rilke denn - den des Engels oder seinen eigenen? Es heißt: »Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn in der Engel Ordnungen?« Ist es vielleicht Walter Benjamins »Engel der Geschichte«, in dessen Flügel ein allzu starker Sturmwind bläst?
Ist der Engel kommentarbedürftig? Der Insel-Verlag jedenfalls setzt mit einem verlegerischen Großunternehmen und mit gleich vier Herausgebern ganz auf den Kommentar. Gegen die Trivialisierung Rilkes zur Attraktion will die »Kommentierte Ausgabe« philologische Genauigkeit, Präzision im Detail und den Reichtum an Differenziertheit herausstellen. Das gelingt auf beeindruckende Weise in vier Bänden und einem Supplementband. Dieser, soeben erschienen, enthält Rilkes Gedichte in französischer Sprache mit deutscher Prosaübersetzung (übertragen von Rätus Luck). Wenn von 767 Seiten dieses Bandes 388 Seiten aus kommentierendem Anhang bestehen - mehr als die Hälfte! -, dann sagt das einiges über den Charakter der Ausgabe. Für jene Spezies Liebhaber, die sich nicht von der scholastischen Tatsache abschrecken lässt, dass der Kommentar länger ist als das zu kommentierende Werk?
Wollen wir etwas über die Duineser Elegien erfahren, gibt der von Manfred Engel und Ulrich Fülleborn herausgegebene Band 2 auf gleich 113 (!) Seiten Aufschluss. Nachzulesen sind auch Rilkes Selbstaussagen über die Entstehung der Elegien. In einem Brief Rilkes an Witold Hulewicz vom 13. 11. 1925 erhalten wir einen wichtigen Hinweis zum Verständnis des Engels: »Der Engel der Elegien ist dasjenige Wesen, das dafür einsteht, im Unsichtbaren einen höheren Rang der Realität zu erkennen - Daher "schrecklich" für uns, weil wir, seine Liebenden und Verwandler, doch noch am Sichtbaren hängen.« Hier klärt uns ein kluger Kommentar darüber auf, was der Engel ist: ein Gegenbereich zur »gedeuteten Welt«, die auch die durchkommentierte ist.
Der Engel tritt auf als noch ungewordene Möglichkeit von Wirklichkeit; als Naturzustand. Denn was ist es, das Rilke immer noch so interessant macht? Die komprimierte Durchschlagskraft seiner wenigen großen Texte. Aber gerade diese lassen sich nicht auf einen Begriff bringen. Das Paradoxon verführt dann zu Kommentaren in Romandicke. Sie kreisen immer um das eine: Für Rilke ist Dichtung eine Form der sprachlichen Verdichtung. Sinnliches und Intellektuelles verschmelzen miteinander - im Bild des Engels.
Ein anderes Bild des Engels eröffnet sich für Rilke. Ein ägyptisches. Das der Sphinx von Gizeh. Rilke hat sie 1910 auf seiner merkwürdigen Nordafrika-Reise (als sich selbst verachtender Beinahe-Gigolo) zusammen mit der Münchner Pelzhändlersgattin Jenny Oltersdorf gesehen. Wie die Sphinx ist der Engel der Duineser Elegien ein so übermächtiges Gegenüber, dass man hier nicht auf Antwort hoffen kann. Dieser Engel ist ein zur Vergeistigung nur bedingt geeignetes Triebwesen. Sündhaft lebt, wer gegen die Natur lebt. Damit steht Rilke (zusammen mit dem Engel) gegen sein katholisches Herkommen. Es wäre an anderer Stelle über Rilkes am eigenen Narzissmus scheiterndes Verhältnis zu Frauen zu reden. Er sei kein Liebender, schreibt er, vielleicht, weil er seine Mutter nie geliebt habe. Seine Erotomanie nimmt mitunter suchtartige Züge an. So dass die Rilke reichlich mit Namen bedenkende Marie von Thurn und Taxis ihn auch abwechselnd einen Don Juan und ein unartiges Kind nennt, das man ausschelten müsse. Sage also niemand, Rilkes von zahlreichen Mäzeninnen ausgehaltenes Dasein sei leicht gewesen!
Schrecklich wird der Engel, weil wir durch ihn keinerlei Erlösung zu erwarten haben. Er entzieht sich jeder Instrumentalisierungsabsicht. Wie der Geschlechtstrieb. Rilke bekennt in seinen »Briefen an einen jungen Dichter«: »Und tatsächlich liegt ja künstlerisches Erleben so unglaublich nahe am geschlechtlichen, an seinem Weh und seiner Lust, daß die beiden Erscheinungen eigentlich nur verschiedene Formen ein und derselben Sehnsucht und Seligkeit sind.« Rilke geht mit dem Bild des Engels den Passionsweg der Selbsterkenntnis - im Bohèmekostüm.
Es war Edvard Munchs Ur-Schrei der Angst, den Rilke auf Schloss Duino durch das Dröhnen des Meeres hindurch vernahm.
Rainer Maria Rilke: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden und einem Supplementband. Insel-Verlag. Leinen, 248 Euro.
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