- Brandenburg
- Dem Lichtenberger Wälzlagerwerk werden die Lichter ausgeknipst
Hoffnung war ein falscher Fuffziger
N D-Foto: Burkhard Lanqe
Gespenstische Leere ab Jahresende an allen, auch den modernen Arbeitsplätzen im Wälzlaqerwerk
Die Agenturmeldung über den Berlin-Coup der Firma FAG Kugelfischer ist so lapidar wie dramatisch: Zur Produktivitätsverbesserung seien Anpassungsmaßnahmen unvermeidlich. Daher werde das Werk Berlin-Lichtenberg zum 31. Dezember stillgelegt.
Erst verschwanden im einstigen Wälzlagerwerk „Josef Orlopp“ die Parteiaufträge, dann das Denkmal des Gewerkschaftsfunktionärs Josef Orlopp, schließlich mit den Heim- und Ostmärkten die Lieferaufträge. Zum Jahresende stehen die Maschinen still. Zum 31. März 1993 ist alles dicht, berichtigte Werkleiter Jürgen Kreykenbohm gegenüber ND die Agenturen. Die offizielle Begründung: 1991 summierten sich die Verluste auf 22 Millionen Mark. Der letzte Betriebsplan wird ein Sozialplan für 470 Mitarbeiter sein, über den ab Mittwoch verhandelt wird.
Ein überraschendes Ende? Eigentlich, so Werkleiter Jür-
gen Kreykenbohm im ND-Gespräch, sei er hergekommen, um ein produzierendes Werk zu leiten. Jetzt müsse er abwickeln. Produktionsleiter Hans Seelmann wurde bei Urlaubsende von der Nachricht überrascht. „Wir haben für unsere Standardwälzlager eine neue Halle voll moderner Maschinen. Wir haben moderne Meß- und Qualitätssicherungssysteme von FAG. Was uns fehlt, sind Märkte und Kunden. Aber wir sterben in Schönheit“, kommentiert Seelmann mit Galgenhumor. Aufrechterhalten worden sei die Produktion vor allem mit Zweitmarkenprodukten (typisch für Billiglohnländer) und verlagerten Aufträgen aus der Mutterfirma. Beides wurde jetzt „aus betriebswirtschaftlichen Gründen aufgegeben“. Die Konkurrenz aus dem Osten und dem Fernen Osten ist augenscheinlich zu billig.
Wird Berlin wirklich für den Erhalt von drei anderen Ost-Betrieben geopfert, wie es
heißt? Das Lichtenberger Werk ist nach Pößneck, Mühlhausen und Luckenwalde das vierte stillgelegte von einst acht DDR-Wälzlagerwerken, die FAG 1990 im Osten übernommen hatte. Kaufpreis nach unbestätigten Angaben insgesamt ganze 27 Millionen Mark, inklusive Freistellung von eventuellen Altlasten, Treuhandgarantien gegen Ansprüche aus früherer Enteignung. Kenner hatten den Ausgangspreis für die gesamte Branche Anfang 1990 einmal auf 400 Millionen DM geschätzt. Eine Nachbewertung der Grundstücke wurde erst zum 31. Dezember 1993 vereinbart.
Die Zeiten ändern sich: 1990 hatten Ostarbeiter vor der Treuhand demonstriert, damit diese die Werke an die FAG verkauft. Vergangenen -Freitag verließ bei der kurzfristig anberaumten Urteilsverkündung durch die Chefetage des Unternehmens ein Großteil der Belegschaft schweigend den Saal.
Im letzten Jahr noch protestierten Thüringer laut vor dem FAG-Stammwerk in Schweinfurt gegen die knallharte Liquidationspolitik von Kugelfischer im Osten. Damals wurden Vermutungen laut, die Treuhand habe letztlich mit ihrer Entscheidung gegen einen ausländischen Mitbewerber bewirkt, daß FAG die unliebsame Konkurrenz elegant aus dem Feld schlagen und mit Grundstücken spekulieren konnte. Vorwürfe gegen die sich alle Beteiligten bis heute energisch verwahren. Für die freiwerdenden 80 000 Quadratmeter Betriebsgelände in Lichtenberg gibt es laut Werkleiter noch keine Entscheidung über die Verwendung.
Der Betriebsrat des Lichtenberger Wälzlagerwerkes war am Montag für eine Stellungnahme nicht erreichbar. Kommentar eines Mitarbeiters: „Bei denen sitzt der falsche Fuffziger Kamerad Hoffnung immer noch am Tisch.“
DIETMAR RIETZ
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