Ich war siebzehn...

  • Michael Herms
  • Lesedauer: ca. 3.5 Min.
Ist es wahr, dass das alles schon dreißig Jahre zurückliegt? Dass Petra und ich uns im überfüllten Waggon küssten, weil wir beide in der »ersten Welle« zum Festival nach Berlin fuhren? Und dass wir am Eingang des gerade umbenannten »Stadions der Weltjugend« stundenlang auf Angela Davis warteten, während unser Idol eines möglichst sozialistischen »Black Power« schließlich durch einen Hintereingang kam? Dass wir mit ehrlicher Begeisterung die chilenische Delegation begrüßten, ohne vom nahen blutigen Ende des siegesgewissen »Venceremos« zu wissen? Und dass ich mit Rainer P. sturzbetrunken von einem deutsch-polnischen Freundschaftstreffen aus der Kongresshalle kam, in die wir durch Zufall und ohne unsere festgelegte Zehnergruppe geraten waren - ist das wirklich alles schon 30 Jahre her? Vom 28. Juli bis zum 5. August 1973 erlebten mehr als eine halbe Million Jugendliche aus der DDR und 25000 Gäste aus aller Welt eine lebendige DDR-Hauptstadt als Gastgeberin der X. Weltfestspielen der Jugend und Studenten. Der politische Wille und eine groß angelegte, langfristige Planung ließen das Festival zu einem unvergesslichen politisch-kulturellen Höhepunkt der DDR-Geschichte werden. Ja, ja wir trafen uns auf jeden Fall im Sommer ´73 zum X. Festival - zum größten kollektiven Erlebnis einer ganzen DDR-Generation, deren Angehörige sich bis heute mehrheitlich gern an die neun heißen und erlebnisreichen Tage erinnern: an das bunte Treiben auf dem Alex mit der wohltuenden Kühlung seines Brunnens, an Veranstaltungen auf über 100 Bühnen, an Konzerte, Sportereignisse, an das Schlafen in der Turnhalle oder im Park, an das Tanzen und Singen, an geplante und ungeplante Erlebnisse. Nur wenige Wochen nach Honeckers Amtsantritt als Erster Sekretär der SED entstand die Idee, sich für die Ausrichtung der Weltfestspiele zu bewerben. Sie fügte sich hervorragend in ein neues jugendpolitisches Konzept ein, das u.a. eine Verbesserung der materiellen und kulturellen Situation der jungen Generation vorsah. Mittels einer umfassenden und jugendgemäßen Vorbereitung der Weltfestspiele sollte die Anziehungskraft der FDJ erhöht werden, die durch ihr rigoroses Auftreten gegen Einflüsse westlicher Jugendkulturen ab Mitte der sechziger Jahre viel an Popularität verloren hatte. Tatsächlich erhielt die FDJ in dieser Zeit einen neuen Schwung, kam der Verband den Interessen der Jugend nach Beatmusik, attraktiven Freizeit- und Reisemöglichkeiten sichtlich entgegen: Jugendklubs und Diskotheken entstanden, Beatgruppen konnten ihre Musik beinahe ungehindert kultivieren, DDR-Radiosender spielten wieder westliche Musik, Langhaarige bekamen von offizieller Seite keine Schwierigkeiten mehr, das Trampen wurde gestattet, der Wegfall der Visumpflicht für Polen und die CSSR erhöhte ab 1972 die Reisemöglichkeiten für Jugendliche. In der Zeit der Vorbereitung und Durchführung sowie noch im Nachklang der X. Weltfestspiele, so haben spätere Meinungsbilder ergeben, erfreute sich die FDJ der festesten Bindungen und der größten Ausstrahlungskraft in ihrer Geschichte. International waren die Weltfestspiele durchaus ein populärer Beitrag zur Durchsetzung der Anerkennung der DDR. Zugleich erweiterten sie die internationalen Kontakte der FDJ. Dazu zählten gemäß dem neuen Abgrenzungskurs auch die westdeutschen Jugendverbände, die sich erstmals in der Geschichte der Weltjugendfestspiele sehr zahlreich zum Ostberliner Treffen angesagt hatten: Die mehr als 800 jungen Westdeutschen kamen aus rd. 40 Verbänden, darunter erstmals auch aus der Evangelischen Jugend, der Katholischen Jugend oder aus der Jungen Union. Dass deren Exponenten, Klaus-Rüdiger Landowsky und Eberhard Diepgen, bei Diskussionen auf dem Alexanderplatz mehr mit SED-Parteihochschülern und MfS-Angehörigen diskutierten als mit Petra, Reiner und mir, stellte sich aktenkundig erst später heraus. Dennoch gab es im Nachhinein von jenseits der Elbe einiges Lob für solche Festival-Novitäten, wie etwa für die Möglichkeit einer öffentlichen Rede des Juso-Vorsitzenden Wolfgang Roth auf dem Bebel-Platz und deren Abdruck im »Neuen Deutschland« oder die auch sonst als recht freimütig empfundene Atmosphäre. Was gab es noch? Die Vietnamesen wurden begeistert begrüßt, Angela Davis traf die zierliche Vo Thi Lin, eine der Überlebenden des von US-Truppen niedergebrannten Dorfs Son My. Miriam Makeba brachte afrikanische Rhythmen an die Spree, Yasser Arafat wurde bestaunt und Palästinensertücher wurden populär. Ein »Karneval der Jugend« setzte zusätzliche Farbtupfer, Manifestationen fanden statt, Solidarität wurde beschworen und geübt. Es gab den Austausch von Abzeichen, Adressen, Zärtlichkeiten. Sportidole und Lieblingskünstler waren live zu bewundern. Manch große Demonstration war für den kleinen Teilnehmer nicht so spannend wie ein Dialog mit zwei britischen Germanistikstudenten, die jeder einen Rucksack voll billiger Reclam-Bücher gekauft hatten. Nicht jeder konnte alles erleben. Meine »erste Welle« reiste am 1. August zurück in die Heimatstadt. Mit einer ungeheuren Aufbruchstimmung und einem kleinen Wermutstropfen: Walter Ulbricht war soeben gestorben und wir sollten uns »angemessen« benehmen. Li...

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