Dass es an den Nerven zerrt

»Wer hat Angst vor Virginia Woolf« im Theater Scheselong

  • Robert Meyer
  • Lesedauer: 2 Min.
Der Ehekrieg zwischen George und Martha brach wie ein Gewitter in die beschauliche Bühnenwelt der frühen 60er Jahre ein. Das Publikum der bürgerlichen Musentempel war erschüttert. 1966 folgte der Film »Wer hat Angst vor Virginia Woolf?« mit Richard Burton und Elisabeth Taylor - eine unübertroffene Studie in Selbstzerfleischung. Ein schwer zu erreichendes Vorbild für die Bühne. Aber das kleine Theater Scheselong in Moabit ließ sich nicht entmutigen und bringt eine erstaunlich gute Inszenierung auf die Bühne: »Wer hat Angst vor Virginia Woolf?«. Ohne Vorlauf wird der Zuschauer hineingerissen in den erbarmungslosen Streit zwischen Martha und George. Er ist Geschichtsprofessor an einem Provinzkolleg, sie die Tochter des Collegepräsidenten. Die beiden ziehen ihre Gäste, den aufstrebenden Biologen Nick und seine junge Braut Putzi, in ihren zynischen Schlagabtausch hinein. Am Anfang des Stücks befürchtet man unzumutbare Längen. Man wird angenehm überrascht. Die Truppe enthüllt Schritt für Schritt die Mechanik eines Ehe-Infernos. So präzise realistisch, dass es an den Nerven zerrt. Regisseurin Karin Margarete Berner hält sich weitgehend an die Vorlage von Autor Edward Albee, inszeniert das Stück klassisch, realistisch. Martha ist auf Erfolg fixiert, die Kehrseite blendet sie permanent aus. Schwächen duldet sie nicht, weder an sich noch an anderen. Ihren Mann sieht sie als Versager. George hält ihr vor: »Leben ist Ebbe und Flut«. Für Martha gibt es nur Flut. Der gedemütigte George schlägt zurück. Das Paar verhält sich, als stünde es auf einer Schaukel, die nie zur Ruhe kommen kann, weil einer der beiden sie immer wieder in Bewegung bringt. Der verhöhnte Ehemann wird durch Gerold Ströber zur beherrschenden Bühnenfigur. Barbara Frey als Martha gibt eine wollüstig in der Seele ihres Mannes bohrende Megäre. Beide spielen sich immer tiefer in ihre Rollen hinein. Stühle werden umgestürzt, Gläser zerbersten an der Wand, aber das Geschehen kippt nie ins Vordergründige um. Auch Anita Kratzer als naiv-hysterische Putzi und Sven Gusowski als Karrierist Nick entwickeln souverän ihre Figuren. Das Finale ist nüchtern, in einem symbolischen Akt tötet George das nur in der Fantasie existierende gemeinsame Kind. Die Zeit der Lügen ist vorbei. In dem tiefsinnigen Schauspiel werden Abgründe menschlicher Seelen ausgelotet. Wer knapp drei Stunden durchhält, erlebt eine moderne Tragödie, die zugleich ein Abgesang ist auf das einseitige Streben nach Erfolg. 1.-3., 5-10., 12-15., 17. u. 20.8., 20.30 Uhr, Theater Scheselong, Wilsnacker Straße 61, Moabit, Tel. 3942223

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