Ein Medikament soll Kinder fit fürs Leben machen

Pharmakonzern »kauft« Selbsthilfegruppen von Eltern hyperaktiver Kinder

  • Susann Witt-Stahl, Hamburg
  • Lesedauer: ca. 5.5 Min.

Immer mehr hyperaktive und verhaltensauffällige Kinder bekommen die Diagnose »Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom« und werden mit dem Aufputschmittel Ritalin behandelt. Während viele Hamburger Eltern von positiven Erfahrungen mit dem Medikament berichten, ist ein heftiger Expertenstreit über Ursachen und Behandlung der Verhaltensstörungen von Kindern entbrannt.

Ein kleiner Junge drischt wahllos mit der Schaufel auf seinen Spielkameraden ein und prügelt sich völlig unmotiviert den Weg zur Schaukel frei. Er ist verhaltensauffällig. Außenstehenden erscheint das meist als nerviges, aber harmloses Resultat von korrigierbaren Erziehungsfehlern, Bewegungsmangel oder falscher Ernährung - Sandkasten und Wohnzimmer als rechtsfreier Raum für kraftstrotzende Mini-Hooligans, überernährte Chip- und Gameboy-Junkies?

Aufputschmittel gegen wenig Selbstvertrauen

Die betroffenen Eltern fühlen sich machtlos, stehen nicht selten am Rande häuslicher Tragödien: »Schon als Eineinhalbjähriger hat unser Sohn regelmäßig Einrichtungsgegenstände zerschmettert«, erinnert sich Beate Klau, die ihren Beruf als Sekretärin aufgab, um sich ihrem hyperaktivem Kind intensiv zu widmen. Liebevolle Zuwendung und Spieltherapie brachten keine Besserung: »Wir hatten Zweifel, dass wir überhaupt noch mit unserem Sohn zusammenleben können.« Meistens sind diese Kinder nicht nur extrem impulsiv, übermäßig laut und chaotisch, sondern können auch keine Gefahren abschätzen, verletzen sich häufig und sind minimalen Aufgabenstellungen des Kinderalltags nicht gewachsen. Sie sind nicht in der Lage, sich an elementare kindliche Verhaltensspielregeln zu halten, entwickeln sich zu tragikomischen »Klassenclowns«. Soziale Isolation und schulisches Versagen sind die Folge. Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADS) mit zusätzlicher Hyperaktivität (ADHS) nennen Experten seit Ende der 80er Jahre diese extreme Form von auffälligem Verhalten, die vorwiegend bei Jungen festgestellt wird.
Nicht alle Patienten - nach Schätzung von Jugendpsychiater Christoph Höger von der Universität Göttingen sind in Deutschland mindestens fünf Prozent der Kinder von ADS betroffen - offenbaren sich als vorlaute »Zappelphilippe« und ergehen sich in unkontrolliertem Sprechdurchfall. Mädchen weisen oft eine introvertierte Form mit zusätzlicher Hyperaktivität auf: »Meine Tochter neigte zu Depressionen, war völlig antriebslos und kontaktscheu«, berichtet Stephanie Kelzenberg. Die 33-jährige Hausfrau kann den Leidensdruck, der auf ihrer achtjährigen Tochter lastet, zutiefst nachempfinden: »Ich galt als typisches Vorzeigekind, folgsam und still.« Alles nur Fassade, denn auch Stephanie Kelzenberg war extremen Stimmungsschwankungen und einer quälenden inneren Unruhe ausgeliefert, die auch im Erwachsenenalter nicht nachließ: »Ich hatte kein Selbstvertrauen, war in ständiger Hektik, mir fiel dauernd Geschirr herunter.« Stephanie Kelzenberg und ihre Tochter nehmen seit einigen Monaten das Aufputschmittel Ritalin. Mit beachtlichem Erfolg: »Mein Kind ist viel aufmerksamer, wacher geworden, kann in der Schule mithalten und ich bin fähig, meinen Haushalt besser zu organisieren.« Ähnlich Positives berichtet Beate Klau von ihrem Sohn, der seit rund einem Jahr mit Ritalin medikamentiert wird und viel ruhiger und konzentrierter geworden sei.

Wunderdroge hat Nebenwirkungen

Den Müttern ist die Entscheidung, ihre Kinder mit dem Psychopharmakon zu behandeln, alles andere als leicht gefallen. Jahrelang haben sie sich durch den Dschungel unzähliger Elternratgeber gekämpft, diverse Kinderärzte und -psychologen konsultiert und sich schließlich an die Hamburger Eltern-Selbsthilfegruppe »Hyperaktive Kinder« gewandt. Die meisten Eltern der Gruppe geben ihren Kindern Ritalin. Sie wissen aber, dass die Pillen weder Heilmittel noch Wunderdroge sind, zumindest kurzzeitig belastende Nebenwirkungen wie Appetit- und Schlaflosigkeit mit sich bringen und die individuelle Feinabstimmung der Dosierung eine langwierige und zuweilen qualvolle Prozedur bedeuten kann.
Brigitte Döring, seit 15 Jahren Leiterin der Selbsthilfegruppe, hat ihren Sohn zwar mit einer Spezialdiät »wach gemacht«, hält aber Ritalin für angebracht, wenn Kinder in akuter Not sind: »Das Medikament macht die Kinder ansprechbar. Sie können Erlebtes und Gehörtes abspeichern. So erst ist es ihnen möglich, auf ihre Erfahrungen zurückzugreifen«, erläutert die 55-jährige Lehrerin. »Nur unter diesen Voraussetzungen können weitergehende Maßnahmen wie Ergo-, und Verhaltenstherapien erfolgreich sein«. Dr. Michael Zinke, Vorsitzender des Hamburger Landesverbandes der Kinder- und Jugendärzte, der ADHS-Kindern nach »sorgfältiger Diagnose« - gründlichem Studium der Anamnese und Durchführung von Intelligenztests und Erstellung eines Elektroenzephalogramms (EEG) zur Überprüfung des Verlaufs der Hirnaktionsströme - Ritalin verschreibt, teilt die Meinung vieler Experten, dass es sich bei ADHS um eine »genetisch bedingte Stoffwechselerkrankung« handelt. Ritalin sei ein effektiver Ersatz für den Nervenbotenstoff Dopamin, der im Gehirn der betroffenen Kinder mangelhaft vorhanden sei. Daher liege die Quote der Behandlungserfolge bei 80 Prozent.

Psychopharmaka greifen kindliches Gehirn an

Allerdings zieht sich durch die Ärzteschaft der Elbmetropole ein tiefer Graben, denn Ritalin-Kritiker, wie Kinderarzt Dr. Andreas Bau, widersprechen energisch: »Ein genetischer Defekt und Stoffwechselstörungen sind bei so genannten ADHS-Kindern wissenschaftlich nicht nachgewiesen«, berichtet der 63-jährige Mediziner und vermutet andere Ursachen des hyperkinetischen Syndroms, wie überhöhten Konsum von Videos, Fernsehen oder High-Tech-Spielen mit Gewaltpotenzialen. »Zudem gibt es keine gesicherten Langzeitstudien, die eine Suchtgefahr ausschließen können«, warnt Bau. Er lehnt Primärverschreibungen von Ritalin ab. Mit dem Psychopharmakon werde auf unverantwortliche Weise in hochsensible Entwicklungsphasen des kindlichen Gehirns eingegriffen und bleibende Schäden riskiert. Er erlebe häufig, dass medikamentierte Kinder »hochgradig abgestumpft und unzugänglich« seien. Hamburg habe sich als Ritalin-Hochburg herauskristallisiert, bedauert der Kinderarzt.
Tatsächlich wird nach Berechnung des Landesverbandes Nord der Betriebskrankenkassen fast jedes dritte Rezept in der Hansestadt ausgestellt, allein im ersten Quartal dieses Jahres etwa 1000. Nach Auskunft der Drogenbeauftragten der Bundesregierung hat sich der Verbrauch von Ritalin in Deutschland seit 1994 verzehnfacht. Bau fürchtet ähnliche Entwicklungen wie in den USA. Dort sei eine leichtfertige Verordnung von Ritalin an nervöse Kinder zu einer Ideologie gewachsen, die eine »biologistische, mechanistische Sichtweise der menschlichen Persönlichkeit« beinhalte.
Natürlich spielen auch wirtschaftliche Aspekte eine wichtige Rolle. Im letzten Jahr hat der Ritalin-Hersteller Novartis einen Umsatz von rund 290 Millionen Mark mit dem Medikament eingefahren. Der Autor Lawrence H. Diller (»Running on Ritalin«) erhebt sogar schwere Vorwürfe gegen den Pharma-Giganten. Das Unternehmen habe Amerikas bedeutendste ADHS-Selbsthilfe-Gruppe, die sich dafür stark macht, Ritalin aus den strengen Kontrollbestimmungen für Betäubungsmittel herauszunehmen, mit einem Sponsoring von 900 000 Dollar bedacht. Die gegenwärtige Diskussion um extreme Verhaltenssymptomatik von Kindern in Deutschland sei geprägt von der Budgetknappheit im Gesundheitswesen, beklagt die Kinderneurologin und Familientherapeutin Christiane Flehmig vom Sozialpädiatrischen Zentrum im Stadtteil Barmek. Die Ärztin appelliert an die Fachleute, das »Budget-Gerangel« einzustellen, ansonsten riskiere man eine »Schwächung der bisher erkämpften diagnostischen und therapeutischen Kompetenzen«.


Ritalin

Ritalin ist ein Psychostimulans (Aufputschmittel), das seit rund 40 Jahren von dem Pharma-Konzern Norvatis hergestellt wird. Es besteht aus dem Wirkstoff Methylphenidat. und ermöglicht Menschen, die unter Aufmerksamkeitsdefiziten und Hyperaktivität leiden, ihre Unruhe, Impulsivität und Konzentrationsschwäche unter Kontrolle zu bringen. Die genauen biochemischen Wirkmechanismen im Gehirn sind bisher nicht geklärt. Sehr häufig treten Nebenwirkungen wie Appetitlosigkeit, Schlaflosigkeit und Bauchschmerzen auf, gelegentlich auch Kopfschmerzen und Schwindelgefühl. Vereinzelt klagen Patienten über Hautausschläge und Haarausfall. Ritalin kann auch Ängstlichkeit, Traurigkeit, Muskelzuckungen (Tics) und Verhaltensstereotype auslösen. Bei Langzeitanwendung kann es zu Gewichtsverlust, Anämie und geringfügiger Wachstumshemmung kommen. Laut einer Studie der kanadischen Wissenschaftler Cherland und Fitzpatrick aus den 90er Jahren sollen sechs Prozent von 98 Kindern, die eindreiviertel Jahre Ritali...

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