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Im Sonderzug nach Prora
Abwanderung und Jugendarbeitslosigkeit sorgten für Wanderbewegung zum Jugendcamp auf Rügen
In einer Mischung aus Politik, Musik und Strandparty feierten am Wochenende 15000 Besucher in Prora auf der Insel Rügen das größte Jugendfestival Deutschlands dieses Jahres.
Es hätte die schlichte Sommerferienidylle sein können, wie sie die Insel Rügen in den vergangenen heißen Monaten zur Genüge aufweisen konnte: Auf den 1500 Metern Naturstrand von Prora lagen dicht gedrängt schwitzende, schwatzende Sonnenanbeter. Es war recht windig, da wagten sich nur wenige ins Wasser, dafür erfreuten sich die 18 Beachvolleyballfelder großer Beliebtheit. Doch fehlten die Rentnerehepaare und Familien - das Durchschnittsalter der Proraer Strandbevölkerung lag am diesem Wochenende irgendwo zwischen 16 und 22 Jahren. Auch der Krach war untypisch, der hinter den Dünen von immerhin neun Bühnen erschallte. Keine einsame Strandidylle - Prora feierte: Das größte Jugendfestival Deutschlands, mit Konzerten, politischen Gesprächen, Workshops, Sportveranstaltungen und einem trotzigen kollektiven »Mich gibt es noch!« Es war kein Trotz, der im August letzten Jahres die Kampagne »Prora03«, den gleichlautenden Verein und schließlich das dreitägige Jugendevent auf Rügen hervorbrachte. Vielmehr ging es darum, konkret etwas für die Jugend Mecklenburg-Vorpommerns zu tun. »Wir wollten den Jugendlichen helfen, Kompetenzen zu entwickeln und hier an den Gegebenheiten zu schrauben«, beschrieb Heike Kahl von der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung (DKJS) das Anliegen von »Prora03«. Die Gegebenheiten in Mecklenburg sind wenig rosig: Junge Menschen zieht es immer häufiger gen Süden und Westen, weil ihnen in ihrem Bundesland die berufliche Perspektive fehlt. So wie Vivian Krohn (17) aus Viereck bei Pasewalk. »Wenn ich mit der Schule fertig bin, möchte ich auf jeden Fall weg. Mecklenburg ist zwar schön, bietet mir aber wenig Chancen«, sagte die Schülerin. Sie hatte von »Prora03« auf einem Jugendlehrgang erfahren, ihre Freunde haben sie animiert mitzukommen. Mit 13 Sonderzügen sind mit ihr fast 15000 Jugendliche nach Prora gereist. Auch wenn es Vivian in erster Linie um die Musikveranstaltungen, um Spaß und neue Bekanntschaften ging - auf dem Festival wollte sie zugleich die Möglichkeit nutzen, sich über Berufe und Ausbildungswege zu informieren. Beispielsweise bei einer Veranstaltung des Deutschen Gewerkschaftsbundes, am Stand der Bundeswehr oder bei der 22-jährigen Maria Schikunoff. Die Angestellte des Arbeitsamtes Stralsund vertrat in Prora das Berufsinformationszentrum BIZ - vermittelte Adressen und Ansprechpartner und gab Materialien aus. Viel Zulauf hatte sie zwar nicht, doch wenn sich jemand in ihr Zelt verirrte, dann auch mit konkreten Wünschen. Die Themen Abwanderung und Jugendarbeitslosigkeit wurden an weiteren Stellen in Prora aufgegriffen. Sei es in Fotoausstellungen oder den unzähligen Diskussionsrunden mit politischer Prominenz. Parteienvertreter nahezu aller Couleurs fanden sich für ein paar Stunden in Prora ein, von Angela Merkel (CDU) über Gregor Gysi (PDS) bis hin zu Wolfgang Thierse. In einem Gespräch mit interessierten Jugendlichen stellte sich Ministerpräsident Harald Ringstorff den strengen Fragen der Betroffenen. Er bemühte sich, auf »einige ansehnliche betriebliche Ansiedlungen« und die »vergleichsweise hohe Ausbildungsdichte« des Landes - gemessen an der Wirtschaftskraft - hinzuweisen. Die Anwesenden blieben skeptisch. Bundespräsident Johannes Rau verbrachte sogar seinen 21. Hochzeitstag zusammen mit seiner Frau auf Rügen. Christina Rau ist Vorsitzende der Deutsche Kinder- und Jugendstiftung (DKJS) und zugleich Schirmherrin der Initiative »Prora03«. Die DKJS, eine international angebundene »Gemeinschaftsaktion für Jugend und Zukunft«, unterstützt Programme und Projekte für junge Menschen und war maßgeblich auch an der Realisierung der insgesamt rund 500000 Euro teuren Prora-Kampagne beteiligt. Diese bestand aus mehreren Jugendprojekten die sich auf »Prora03« präsentierten. Thomas Hetzel von der DKJS sammelte an einem Stand von den vorbeiziehenden jungen Menschen Anstöße, was in Mecklenburg-Vorpommern verändert werden müsse. Auch an dieser Stelle bestätigte sich die These von der politikverdrossenen Jugend nicht: »Weniger Ausfallstunden in der Schule«, »Nicht noch mehr Jugendclubs schließen«, »Senken der Vermögenssteuer« - lauteten die zahlreichen Forderungen, das Echo ist riesig. »Und vielleicht kommt sogar eine gute Projektidee zustande«, so Hetzel. Prora, das ist ein geschichtsträchtiger Ort. Jedem der 15000 Festival-Besucher wurde dies bei allen sich bietenden Gelegenheiten ins Gedächtnis gerufen: Prora wurde 1938 im Zuge des Programms »Kraft durch Freude« (KdF) von den Nationalsozialisten konzipiert. Als Seebad sollte es 20000 Angehörigen der »Deutschen Arbeitsfront« zur Erholung dienen. Fertig gestellt wurde das wegen seiner eigenwilligen Bauweise »Koloss von Rügen« genannte KDF-Bad zu NS-Zeiten jedoch nie. Die Sowjetadministration verfügte nach dem zweiten Weltkrieg die Demontage des begonnenen Baus. Zwischennutzer vor der Wende war die NVA, seit 1956 war Prora fast vollständig Kasernenanlage. Erst 1992 verließ das Militär das Gelände, es wurde wieder öffentlich zugänglich und verfiel. Über die Zukunft des »Koloss von Rügen« wird heftig verhandelt: Ein Teil des Geländes soll, mit Hilfe von Spendengeldern, zu einer Jugendherberge umgebaut werden. In den begehbaren Räumen der 550 Meter langen Baracken von Prora liefen Ausstellungen und Vorträge zu eben dieser problematischen Geschichte. Dabei schlug eine Veranstaltung schon im Voraus hohe Wellen: Ein mitternächtlicher Workshop von Michael Brodkorb (SPD) zu Hitlers »Mein Kampf«. Klar, dass das zum einen großes Interesse und einen trotz schlechter Akustik voll besetzten Saal, zum anderen eine Gegenveranstaltung provozierte. Torsten Koplin (PDS) las zur gleichen Zeit antifaschistische Texte von Dietrich Bonhoeffer und Bertold Brecht. »Natürlich kann "Mein Kampf" gelesen werden. Die Frage ist nur, ob man sich damit kritisch auseinander setzt oder ob es zum Event wird«, so Koplin. Wichtig sei, dass an so historischer Stelle die Opfer zur Sprache kämen. Nachts wirkte das Gebäudegerippe des Seebads unheimlicher als am Tag, die fehlenden Fensterscheiben noch trostloser. Da war es gut, dass nicht nur politische Veranstaltungen »Prora03« mit Leben füllten. Da klangen die Trommeln vom Strand beruhigend, die Lagerfeuer und vielen Zelte erinnerten an Ferienlager. Da befriedeten die kreischenden Teenager bei Konzerten vor der Hauptbühne den »Kolos...Zum Weiterlesen gibt es folgende Möglichkeiten:
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