Cemal Kemal Altun - ein Fall wurde zum Politikum

Vor 20 Jahren sprang Asylbewerber aus Angst vor Abschiebung in den Tod

Cemal Kemal Altun gilt als der erste, der sich aus Angst vor Abschiebung aus der Bundesrepublik das Leben nahm. Der letzte war er nicht. Menschenrechtsgruppen warnen vor künftiger Entwicklung, wenn sie an den 20. Todestag von Cemal Kemal Altun erinnern.

Es war warm im Gerichtssaal, die Luft zum Schneiden dick an jenem Morgen des 30.August 1983. Der Saaldiener hatte das Fenster im sechsten Stock des ehrwürdigen Berliner Verwaltungsgerichts geöffnet. Cemal Altun saß zwischen Anwalt und Dolmetscher. Alle warteten auf das Erscheinen des Richters am zweiten Tag der mündlichen Verhandlung. Um die Sache seines Mandanten stand es nicht schlecht, wusste Wolfgang Wieland, der Verteidiger, heute bekannt als langjähriger Grünen-Fraktionschef im Abgeordnetenhaus und dank einer kurzen Karriere als Justizminister des Landes.
Überrascht registrierte Wieland, wie der 23-jährige Türke plötzlich aufsprang. Altun rannte ohne ein Wort zum Fenster. Mit einem Satz überwand er den Heizkörper, einen Augenblick später war er den Blicken der fassungslosen Augenzeugen entschwunden. Medienvertreter, Sympathisanten, Justizbeamte waren von Entsetzen gelähmt, Zuschauer brachen in Tränen aus, der Saaldiener, der das Fenster geöffnet hatte, erlitt einen Nervenzusammenbruch.
Längst hatte Cemal Kemal Altun an jenem Morgen den Sinn des juristischen Tauziehens um sein Schicksal aus den Augen verloren. 13 Monate hatte der Student in Auslieferungshaft gesessen. Dabei war ihm der Status des politischen Flüchtlings zuerkannt, Asyl erteilt worden. Doch dies stand wieder in Frage, als die türkischen Behörden Vorwürfe wegen einer angeblichen Beteiligung des jungen Mannes in ein Attentat erhoben.

BKA erst gab Anregung
für Auslieferungsgesuch
In der Bundesrepublik war der Selbstmord Anlass zu einer Welle der Empörung. Altun war - wie sich erwies - unschuldig, allein auf Grund seiner Aktivitäten als Gewerkschafter ins Visier des türkischen Militärregimes und damit auch der westdeutschen Sicherheitsbehörden geraten. Im Falle einer Auslieferung, um die die Türkei erst auf Nachfrage des Bundeskriminalamtes ersucht hatte, drohten ihm jedoch Inhaftierung und Folter.
Der 20. Todestag ist für Flüchtlingshilfegruppen und andere Menschenrechtler Anlass, den Umgang der Bundesrepublik mit Flüchtlingen öffentlich anzuprangern, die das nach dem Zweiten Weltkrieg im Grundgesetz festgeschriebene Asylrecht nach und nach ausgehöhlt und seit 1993 faktisch abgeschafft hat. Als Altun starb, war diese Zäsur noch nicht absehbar, und doch war der Umgang der Behörden mit Ausländern bereits von jener arroganten Art, die zwischen nützlichen und vermeintlichen ausnützenden Menschen unterscheidet. »An diesem Fall wird deutlich, dass der jeweiligen Tagespolitik auch bedenkenlos Menschen geopfert werden«, schieb damals Terre des Hommes in einem Leserbrief.
Die letzten 20 Jahre haben dies leider bestätigt. 111 Menschen nahmen sich seither aus Angst vor drohender Abschiebung das Leben oder starben beim Versuch, sich ihr zu entziehen. 45 von ihnen befanden sich in Abschiebehaft. Die Antirassistische Initiative Berlin listet die tödlichen Folgen der deutschen Flüchtlingspolitik seit Jahren regelmäßig akribisch auf, von öffentlicher Seite werden solche Bemühungen nicht unternommen.
Die Politik selbst wies schon im Fall von Cemal Altun jede Verantwortung zurück, so wie sie bis heute das Schicksal all dieser Menschen zu Einzelfällen erklärt. Zwar forderten Tausende Demonstranten in den Tagen und Wochen nach dem Selbstmord Altuns uneingeschränktes Asylrecht für politisch Verfolgte und menschenwürdigen Umgang mit Asylsuchenden. In Hamburg haben Bewohner einen Platz in Kemal-Altun-Platz umbenannt, ohne dass dies jemals offiziell auf einem Hamburger Stadtplan vermerkt worden wäre.
Gleichgültigkeit ist jedoch als Grundstimmung auch in der Bevölkerung wahrzunehmen. Die Reaktion eines Teils der Öffentlichkeit auf jenen Leserbrief von Terre des hommes macht deutlich, dass Gleichgültigkeit nicht die einzige Reaktion auf das Schicksal der »Fremden« ist. »Ein Asylbewerber weniger, der auf Kosten des Steuerzahlers durchgefüttert werden muss.« Oder: »Es ist eine Unverschämtheit, was Sie alles im Leserbrief schreiben. Altun ist ein Verbrecher und Mörder, außerdem ist er so wie Sie ein Terro...«
137 Menschen hat die Abschirmung gegen unerwünschte Ankömmlinge seit 1993 schon an der Grenze das Leben gekostet. 106 davon starben allein an den Ostgrenzen. Von 337 Abgeschobenen schließlich ist bekannt, dass sie nach ihrer unfreiwilligen Heimkehr das erlitten, wovor sie geflohen waren und was ihnen die deutschen Behörden nicht glauben wollten: Misshandlungen und Folter. 18 kamen nach der Zählung der Berliner Antirassismusinitiative nach der Abschiebung gewaltsam ums Leben.
Ausgerechnet der Todestag von Kemal Altun ist danach noch mehrfach zum Sterbedatum von Menschen geworden, die am deutschen System der Abschottung scheiterten. Am 30.August 1994 starb der Nigerianer Kola Bankole beim sechsten Versuch des Bundesgrenzschutzes, ihn auf dem Frankfurter Flughafen abzuschieben. Er sollte sich nicht ein weiteres Mal erfolgreich widersetzen. Mit einer Injektion »ruhig gestellt«, gefesselt von Beamten in die Lufthansamaschine getragen und dort gewaltsam auf den Sitz gedrückt, den Kopf zwischen den Knien, erstickte der herzkranke Mann an seinem Knebel.
Fünf Jahre später, am 30.August 1999, starb der Marokkaner Rachid Sbaai in einer Arrestzelle der JVA in Büren an einer Rauchvergiftung. Er hatte seine Matratze in Brand gesteckt, nachdem er wegen Rangeleien beim Fußballspielen in Isolationshaft gesteckt worden war, hatte anschließend vergeblich versucht, den Brand zu löschen, das Personal übersah den Alarm. Im Jahr darauf starb der 28-jährige Mongole Altankhou Dagwasoundel, Häftling im Abschiebegewahrsam in Berlin-Köpenick, beim Versuch, sich mit zusammengeknoteten Bettlaken aus einem Krankenhausfenster abzuseilen. Wie Altun stürzte er sechs Stockwerke tief.
Pro Asyl macht darauf aufmerksam, dass die Todesfälle allesamt aus dem Konflikt rühren, den Unschuldige beim Verbüßen einer Strafe erleben. »Der Freiheit beraubt zu sein, ohne eine strafbare Handlung begangen zu haben« - genau das werde Abschiebehäftlingen zugemutet. »Viele verstehen gar nicht, warum sie gefangen gehalten werden«, so heißt es in einer Erklärung zum 20. Todestag Altuns. Die Inhaftierten geraten in »eine stark belastende und oft ausweglose Lage«, so konstatiert auch der Berliner Flüchtlingsrat in einer Erklärung und weist auf Selbstverletzungen und Suizidversuche hin. Fast 400 Flüchtlinge waren es bundesweit in den letzten zehn Jahren, die sich aus Angst oder Protest gegen die drohende Abschiebung - etwa durch Hungerstreik oder bei gescheiterten Suizidversuchen - selbst Verletzungen zufügten.

Kritische Fragen
an die Bundespolitik
Seit Juni 1996 erinnert ein Denkmal vor dem Gebäude des damaligen Verwaltungsgerichts an das Schicksal des jungen Türken sowie all der Menschen, die seine Ängste bis heute bundesweit und täglich in unserer Nachbarschaft erleiden. Gekommen eigentlich in der Hoffnung, hier Schutz und Perspektive zu finden.
Menschenrechtsgruppen in Deutschland haben Altuns Todestag zum jährlichen bundesweiten Aktionstag gemacht. In diesem Jahr werden sich Gegner der deutschen Ausländerpolitik am Denkmal vor dem Verwaltungsgericht in der Berliner Hardenbergstraße zu einer Kranzniederlegung treffen. Kritische Fragen wollen Bekannte und Wegbegleiter Altuns einen Tag später in der Kirche Zum Heiligen Kreuz an die Politik stellen. Mahnwachen, Straßentheater und weitere Aktionen werden in Berlin und anderen Städten organisiert. Träger sind neben Pro Asyl und regionalen Flüchtlingsräten die Liga für Menschenrechte (Informationen zum Beispiel unter: www.proasyl.de).
Die Abschiebungspraxis findet ihre Legitimation zum Teil in fehlender Sensibilität der Öffentlichkeit. Die damalige allgemeine Betroffenheit ist inzwischen einer zunehmenden Gleichgültigkeit gewichen - auch im Angesicht von Meldungen über den Tod von Flüchtlingen. »Die Gewöhnung muss ein Ende haben«, machte Heiko Kauffmann im ND-Gespräch seine dennoch bewahrte Hoffnung deutlich. Der langjährige Pro-Asyl-Sprecher, heute Vorstandsmitglied der Flüchtlingsorganisation und einer der Redner bei der Kranzniederlegung in Berlin, sieht trotz gegenläufiger Tendenz nur die Alternative: die »gesamte skandalöse Praxis der Abschiebehaft auf den Prüfstand zu bringen.« Dies ist Forderung vor allem an die Politik, namentlich der Bundesr...

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