Mit Henlein nichts am Hut
Auf der Spur deutscher Kommunisten in Tschechien
Für einen alten Mann bin ich nach Petrovice gereist. Aber dieser Mann lebt nicht mehr hier. Er starb vor über vierzig Jahren: Ludwig Nossek- Fabrikarbeiter, Kommunist und mein Urgroßvater.
Laut Volkszählung von 1921 lebten 3,1 Millionen Deutsche in der Tschechoslowakei. Das entsprach einem Anteil von 23,4 Prozent an der Bevölkerung. Als Sprachrohr dieser Gruppe sieht sich heute die Sudetendeutsche Landsmannschaft (SL). Das Ziel der SL ist laut Satzung, die »Wiedergewinnung« der alten Heimat durchzusetzen. Bundesvorsitzender ist der Europaparlamentarier Bernd Posselt (CSU). Jetzt, wo Tschechien 2004 der EU beitritt, wittert die SL wieder einmal Morgenluft. Der Landsmannschaft gehören nach eigenen Angaben 250000 Mitglieder an. Doch sie spricht nicht für alle Sudetendeutschen und deren Nachkommen.
Eine kleine Parteifunktion
Erstmals urkundlich erwähnt wurde Petrovice (Peterswald) 1352. Es lag an der mittelalterlichen Salzstraße und entwickelte sich später zu einem der typischen Industriedörfer an der böhmisch-sächsischen Grenze. Die Arbeiter der Schnallen-, Knopf- und Reißverschlussfabriken besserten sich ihren Lohn durch kleine Ackerflächen auf, die oft direkt hinter ihren Häuschen lagen. Die Thekla-Fabrik begann 1840 mit Sattlerwaren und produzierte im Zweiten Weltkrieg Gas für Fliegerbomben.
Die Kirche ist inzwischen halb verfallen, in der Sparkasse befindet sich das Gemeindeamt und in der 1905 erbauten Schule lernen noch immer Kinder. Entlang der Dorfstraße haben Vietnamesen Buden aufgebaut, in denen sie Kleidung, Zigaretten und Gartenzwerge verkaufen.
Das bescheidene Häuschen der Nosseks steht nicht mehr. Ludwigs katholische Frau Emma hängte an den Wänden allerhand Kreuze und Heiligenbilder auf. Bei deren Anblick gaben die Nazis eine Hausdurchsuchung auf. Hier sei nichts zu finden, dachten sie. Deshalb entdeckten sie die Gründungsurkunde der Ortsgruppe der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KPTsch) nicht, die die Unterschrift von Ludwig Nossek trägt. Nossek diskutierte liebend gern über Politik und hatte eine »kleine Parteifunktion«, erzählen Leute, die ihn kannten.
Auch Ludwigs Nosseks Sohn Franzl war in der Arbeiterbewegung aktiv. Er arbeitete im Konsum. Der 1891 in Peterswald gegründete Arbeiter-Konsumverein war einer der ersten im Bezirk Aussig (Usti nad Labem). Als die deutsche Wehrmacht ins Sudetenland einmarschierte, war es mit dem Konsum vorbei. Franzl verlor seinen Arbeitsplatz. Später verblutete er in Stalingrad.
Die KPTsch war die einzige Partei in der Tschechoslowakischen Republik, die überall im Land aktiv war. Nur hier spielte die Nationalität keine Rolle. Was den bürgerlichen Parteien und nicht einmal der Sozialdemokratie gelang, das schafften die Kommunisten. Tschechen, Slowaken, Deutsche, Polen und Juden kämpften in der 1921 gegründeten KPTsch gemeinsam für ihre Ideale. Im Jahre 1935 zählte die Partei 70000 Mitglieder.
Der Aufstieg der Nazis
Bei den Gemeindewahlen am 29. Mai 1938 erhielt die KPTsch in Peterswald 114 von 1862 Stimmen und bekam zwei Mandate. Die Sudetendeutsche Partei (SdP) von Nazi Konrad Henlein kreuzten 1684 Leute an. Damit besetzte die SdP 27 von 30 Sitzen in der Gemeindevertretung.
In Nové Mesto (Neustadt) fiel das Ergebnis ähnlich aus. 2166 von 3039 Stimmen für die SdP, 657 für die KPTsch und 79 für die sudetendeutschen Sozialdemokraten. Der örtliche KPTsch-Vorsitzende Josef Schwertner- seit 1934 stellvertretender Bürgermeister- behielt sein Rathausamt, konnte es aber nicht mehr lange ausüben.
Schwertners Sohn erinnert sich: Während des Wahlkampfes 1938 trat der KPTsch-Vorsitzende Klement Gottwald im Mai in Nové Mesto auf. Die Nacht verbrachte er in der Wohnung der Eltern.
Der Internationalismus war den Kommunisten ein hohes Gut. Bereits in den 20er Jahren sammelte die »Rote Hilfe« illegal für die Sowjetunion. Mutter Schwertner benutzte die Rückseite von Konsum-Rechnungen als Spendenliste. Zu den vier Hauptzielen der KPTsch in den 30er Jahren gehörte der Kampf gegen den Faschismus. Entsprechend handelte die Deutsche Sektion der KPTsch nach der Machtergreifung Hitlers. Die sächsische KPD brachte jeweils mehrere Genossen zur tschechischen Grenze. Dort spazierten Josef Schwertner und seine Frau als Wandersleute verkleidet. Sie brachten die KPD-Leute zu sich nach Hause und behielten sie einige Tage da. Die meisten gingen über Prag als Interbrigadisten nach Spanien. Der persönliche Einsatz der Schwertners ist kein Einzelfall. Ähnlich wurden auch andere Genossen aktiv.
Am 29. September 1938 kam das Münchner Abkommen, bei dem Großbritannien und Frankreich das Sudetenland an Hitlerdeutschland auslieferten. In Peterswald wehten die ersten Hakenkreuzfahnen bereits bevor deutsches Militär den Ort besetzte. Tschechische Soldaten sammelten die Fahnen ein und verbrannten sie auf dem Rathausplatz. Als die Wehrmacht am 8. Oktober einmarschierte, begrüßten die meisten Sudetendeutschen in Peterswald sie jubelnd.
Noch vor dem Einmarsch waren viele sudetendeutsche Kommunisten ins Landesinnere geflüchtet. Doch schon nach 14 Tagen schickte die tschechoslowakische Regierung unter Edvard Bene sie zurück. Die Nazis erwarteten die Schwertners auf dem Bahnhof und verhafteten sie. Die Mutter ließen sie nach drei Tagen frei. Der Vater kam bis 1940 ins Konzentrationslager, erst nach Dachau, dann nach Mauthausen. Während die Nazis Kommunisten und Sozialdemokraten einsperrten, vertrieben sie die wenigen Tschechen im Grenzgebiet aus ihrer Heimat. An dieses Kapitel der Geschichte lässt sich die Sudetendeutsche Landsmannschaft bis heute nur ungern erinnern.
Auf Anweisung der KPTsch schlossen sich die sudetendeutschen Genossen dem Widerstand der KPD an. Schwertners hörten Radio London und gaben die Nachrichten weiter. »Ich stand dabei Schmiere«, erzählt der Sohn. Von Februar bis April 1945 versteckte Mutter Schwertner den polnischen Zwangsarbeiter Pawel Kowaltschuk, der an einer Lungenentzündung litt, auf dem Dachboden.
Am 10. Mai 1945 tauchten sowjetische Truppen vor Nové Mesto auf. An den Häusern hingen weiße Fahnen. Josef Schwertner ging ins Rathaus und übergab dann mit Gleichgesinnten die Stadt an die Rote Armee.
In Peterswald fuhren am 8. Mai 1945 sowjetische Panzer die Dorfstraße hinauf. Der Krieg war zu Ende, doch der Frieden hatte trotzdem noch nicht begonnen. Schüsse knallten, es gab Tote und Vergewaltigungen, aber auch russische Uniformschneider, die den Kindern Süßigkeiten in den Mund steckten.
Der Briefträger Dastlic
Heute reden viele Sudetendeutsche gern über die Konflikte mit den Tschechen. Der Abgeordnete der Deutschen Christlich-Sozialen Volkspartei Hans Schütz schrieb 1936: »Da sind in einem Dorfe 50 deutsche Arbeitslose, aber ein tschechischer Briefträger... Jeder der 50 Arbeitslosen glaubt felsenfest daran, dass er Briefträger werden könnte, wenn der Tscheche nicht wäre. Der Glaube ist falsch. Es könnte nur einer drankommen und 49 blieben arbeitslos.«
So ein tschechischer Briefträger in einem mehrheitlich von Deutschen bewohnten Ort war der Herr Dastlic aus Johnsdorf (Janovice). Beim Einmarsch ins Sudetenland jagten die deutschen Nazis Dastlic weg. »Ich komme wieder und suche mir das beste Haus aus«, sagte der Briefträger. Im Sommer 1945 hatte eine Magd- beim Müllerbauer in Peterswald in Stellung- lange keine Post mehr von ihrer Familie im rund 50 Kilometer entfernten Johnsdorf bekommen. Sie lief hin und traf kurz vor Johnsdorf den zurückgekehrten Dastlic, der wieder die Post austrug und nicht im schönsten, sondern in seinem alten Haus wohnte. Beide grüßten sich freundlich und Herr Dastlic zeigte der Magd einen Weg, auf dem sie der tschechischen Polizei nicht in die Hände lief. »Es war ein Unrecht, die Tschechen wegzujagen, so ohne alles«, meint die Frau heute.
Die Umsiedlung
Per Dekret vom 12. Juni 1945 erfolgte die Beschlagnahme von Boden und Eigentum der Deutschen, Ungarn und Kollaborateure. Insgesamt wurden fast drei Millionen Hektar Land konfisziert. Im Juli/August 1945 begann die Aussiedlung der Deutschen, die bis 1946 anhielt. 30 Kilogramm Gepäck war erlaubt, die ersten Betroffenen mussten sogar alles zurücklassen. Einige dringend benötigte Facharbeiter ließ die Tschechoslowakei nicht aus dem Land. Die Magd vom Müllerbauern aus Peterswald sollte zu dieser Gruppe gehören. Sie ging illegal über die Grenze nach Sachsen.
Antifaschisten durften generell bleiben, doch viele zogen freiwillig um in die sowjetisch besetzte Zone, in die spätere DDR- weil Verwandte und Freunde gehen mussten, weil sie nicht Tschechisch konnten oder weil die KPD sie bat, beim Wiederaufbau in Deutschland mitzuhelfen. Jede Antifa-Familie bekam einen viertel Waggon für ihre Habe. Den Kommunisten reichte das, denn sie waren in aller Regel arme Arbeiter. Eine Wohnküche und ein Schlafzimmer, mehr besaßen sie nicht.
Was hielten die sudetendeutschen Kommunisten von der Umsiedlung? »Bejubelt haben sie das nicht«, meint Josef Schwertners Sohn. »Sie akzeptierten es als Ergebnis der Potsdamer Konferenz.«
Die Schwertners kamen im Juni 1946 mit dem letzten Antifa-Transport über Pirna nach Bernau bei Berlin. Ludwig Nossek verschlug es nach Schönebeck an der Elbe. Da lebte er bis an sein Ende von einer schmalen Rente. In den 50er Jahren starb Nossek an Krebs. Ich habe Urgroßvater nicht mehr erlebt. Deshalb denke ich an die freundliche Urgroßmutter, als ich Petrovice wieder verlasse. Es hat aufgehört zu regnen. Die Sonne bricht durch.
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