Der Rübenkönig von Anklam
Vom VEB-Direktor zum Manager in einem internationalen Konzern
Ingo Kuchenbrandt ist das, was man eine Rarität nennt. Er gehört zu den wenigen Männern, die zu DDR-Zeiten einen Volkseigenen Betrieb leiteten und in eben diesem Betrieb immer noch auf dem Chefsessel sitzen. Natürlich gehört der Betrieb inzwischen nicht mehr dem Volk (was ja ohnehin nur ein hoffnungsfrohes Konstrukt war), sondern einem internationalen Konzern, und auch der Sessel ist nicht mehr derselbe - ein schlichtes schwarzes Schreibtischmöbel, so unaufdringlich elegant wie das ganze Arbeitszimmer. Was nun Kuchenbrandt betrifft, so steht auf seiner Visitenkarte heute »Managing Director«.
Hinter seinem Schreibtisch hängt eine Ansicht des Betriebes. Ein Blick auf die Anklamer Zuckerfabrik - »the Anklam Sugar-Factory« -, wie ihn 1948 ein Künstler, der sich seine Lebensmittelkarten in der Produktion verdiente, vom nahen Reichsbahngelände aus festhielt. Kuchenbrandt hat das Bild kürzlich gekauft, von einem Händler um die Ecke, der ihn angerufen hatte, weil er für den Ladenhüter einen Interessenten witterte. Seither besitzt Kuchenbrandt dies Stück gemalter Tradition, die allerdings sehr viel weiter zurückreicht, wie die neue Betriebsbroschüre mit neuem Bewusstsein ausweist: Die »Pommersche Zuckerfabrik« war 1883 gegründet worden, nachdem ein deutscher Wissenschaftler in Rüben die gleichen Ingredienzien wie im Zuckerrohr entdeckt und damit der Zuckerindustrie in Europa den Weg geebnet hatte.
Vis-a-vis, sozusagen als Pendant, hat Kuchenbrandt das Jetzt aufgehängt: Das Bild einer alten, imposanten Zuckerraffinerie aus rotem Backstein am Hafen von Kopenhagen - das Headquarter von Danisco Sugar, Mitglied der Danisco Gruppe, die in 38 Ländern 8000 Mitarbeiter beschäftigt. »Wer in einem der Büros zur Hafenseite hin arbeitet«, kolportiert Kuchenbrandt einen Scherz, der bei Danisco Sugar kursiert und in dem sicher ein Körnchen Wahrheit steckt, »ist auf dem aufsteigenden Ast. Wer nach hinten raus sitzt, steigt ab.« Kuchenbrandt gehört jetzt dazu, er weiß, was man auf den Fluren flüstert. Danisco Sugar übernahm 1991 acht Zuckerfabriken der DDR, genauer, sie kaufte sich das Recht, auf dem streng quotierten EU-Markt so viel Zucker wie diese zu produzieren. Nach der Rekonstruktion der Fabrik in Anklam waren die anderen überflüssig.
Kuchenbrandt hat sie abgewickelt, die kleinen Werke in Prenzlau und anderswo. Es hat ihm keine Freude bereitet, die damals allein im Anklamer Werk 580 Beschäftigten auf 150 »einzudampfen«. Eine Wahl hatte er nicht. Immerhin hatte Danisco Sugar Abfindungen von insgesamt 40 Millionen Mark bereitgestellt. »Bekam jemand 20 000 D-Mark, war das eine Riesenmenge Geld - wer hatte je so viel gesehen?« Im Nachhinein empfindet er das, was damals passierte, jedoch als »viel schlimmer, als mir zu dieser Zeit bewusst war: Wir dachten doch alle, kein Problem, das ist nur vorübergehend, bald gibt es mehr Firmen als Arbeitskräfte, so dass alle in kürzester Zeit wieder einen Job finden.« Allerdings weiß er auch noch genau, dass ein Drittel der DDR-Belegschaft kaum eine Qualifikation besaß. Und das war durchaus ein Problem, wie sich Kuchenbrandt erinnert.
Einer, der wie Kuchenbrandt einmal an der Spitze eines VEB stand und nun seit zwölf Jahren die Geschäfte eines Konzernbetriebes führt, hat gute Vergleichsmöglichkeiten. Allein deshalb ist es ein Jammer, dass es nicht mehr DDR-Kader in die Wirtschaftselite schafften - was für einen Erfahrungsschatz hätten sie uns schenken können. Einen Schatz freilich, auf den die Republik pfeift, glaubt sie sich doch noch unsterblich. Irgendwann könnte sich das ändern. Deshalb muss man die wenigen Kuchenbrandts gnadenlos ausbeuten. Schon, um detailliert zu erfahren, was sich auf jeden Fall verbietet. »Nun ja«, beginnt Kuchenbrandt, »es ist eine ganze Menge. Zunächst mal ist ein Betrieb ein Betrieb, eine wirtschaftliche Einheit. Ein Betrieb, der nicht dazu da ist, Gewinn zu erwirtschaften, macht keinen Sinn. Im VEB gab es keine sinnvollen Wirtschaftskriterien.«
Was dann? Kuchenbrandt spricht vom VEB als einer »autonomen Republik«, die für alles verantwortlich war, wofür der Staat keine Einrichtungen hatte. »Er sollte für das Wohl und Wehe seiner Mitarbeiter sorgen. Zum Beispiel war er Auffangbecken für sozial Geschädigte, kümmerte sich um die Freizeit, organisierte Sportfeste, hatte Kindergarten und Ferienheime, alles, was man sich so wünschte. Als Betriebsdirektor war man in erster Linie politischer Leiter: Man beschäftigte sich hauptsächlich damit, ob die GST funktionierte, die FDJ-Gruppe noch lebte. Eigentlich war es ein Witz: Ganz hinten kam die Produktion, die Hauptaufgabe des Betriebes. Aber die funktionierte nicht - wir hatten zu tun, den Bedarf zu decken. Industrieabgabepreis und Kostenseite standen fest, wir konnten wenig beeinflussen - man bekam die Hilfsmittel und Energieträger zugeteilt, ob man wollte oder nicht. Als Leiter war man verantwortlich, doch Entscheidungsbefugnis besaß man nicht, jedenfalls sehr eingeschränkt. Zum Beispiel: Wann starten wir die Kampagne, das heißt, wann beginnen wir mit der Ernte und der Zuckerherstellung? Es wäre normal gewesen, das mit den Bauern abzusprechen: Wann sind die Rüben so weit, wann fangen wir an? Damals mussten wir auf die Entscheidung der SED-Bezirksleitung warten. Heute ist es anders, da entscheiden wir. Gut, wir geben das auch zur Zentrale. Aber ohne gravierende Argumente dagegen wird sie sich hüten, einzugreifen.«
14 Jahre nach der Wende beschäftigt die Zuckerfabrik 143 Mitarbeiter und 13 Auszubildende. Mitte September, als die Kampagne begann, stellte sie zusätzlich 30 Saisonkräfte ein. Kuchenbrandt hat viel lernen müssen, zum Beispiel die Konzernsprache Englisch, weshalb er mehrmals nach London reiste, doch das Entscheidende, was er heute zum effizienten Wirtschaften braucht, hatte der Ingenieurökonom schon beim Hochschulstudium verstanden: »Politische Ökonomie des Kapitalismus. Die Ausbildung war 1A. Doch wir hatten die falsche Philosophie, und hätte man sie damals geändert, hätten andere Leute regiert.«
Sein Feuerzeug klickt. Zum wievielten Mal? Kuchenbrandt raucht noch F6; die Herkunft lässt sich nicht austreiben. Auch er war SED-Mitglied. Revolutionäre Vorhut? Die Revolution war zur Phrase verkommen; die Revolutionäre hielten still, als man ihnen die Hände band, dann waren ihnen die Hände gebunden. Oder die Augen verbunden, nicht nur wie bei Kuchenbrandt, der sagt: »Anklam war ein Mini-Dresden, auch so ein Tal der Ahnungslosen.« Als er nach der Wende zum ersten Mal eine Zuckerfabrik im Westen besuchte, waren es die Kleinigkeiten, die ihn aus der Bahn warfen: »Die hatten Wasch- und Umkleideräume, die wie Wasch- und Umkleidräume aussahen. Die Toiletten sahen aus wie Toiletten und der Speisesaal wie ein Speisesaal - die hatten all das, was wir haben wollten. Es war auch nicht so, dass die Arbeiter im Westen wenig Urlaub bekamen, wie wir immer gedacht hatten, und der Betriebsrat besaß eine Macht, von der unsere Gewerkschaft nur träumen konnte. Daran hatte ich lange zu kauen: So sah also das Umfeld aus, von dem wir dachten, wir seien weiter.«
Dass Danisco Sugar ihn als Direktor behalten würde, damit hatte Kuchenbrandt nicht gerechnet. Er hatte sich schon darauf eingestellt, in die alten Länder zu ziehen. Es kam anders, er ist überzeugt, »wegen den kaputten Straßen, den schlechten Telefonverbindungen, den katastrophalen Zuständen in den Hotels: Keiner von Danisco Sugar war damals so recht bereit, in diese triste Welt zu wechseln. Also haben die Dänen gesagt: Versuchen wir es mal mit Kuchenbrandt«.
Falls man ihn politisch gecheckt hat, so hat er es wenigstens nicht gemerkt. Immerhin hatte ihm Danisco einen »Stützpädagogen« zur Seite gestellt. »Ich habe ihn mal gefragt«, erzählt er, »was er über die DDR weiß. Er sagte: "nichts"; ich war entsetzt. Dann fragte er, was ich über Dänemark wisse - da bin ich über mich selbst entsetzt gewesen. Und eines Tages rief der dänische Botschafter an, demnächst werde Königin Margrethe Anklam einen Besuch abstatten. Nachdem ich den Hörer aufgelegt hatte, fragte ich ihn: "Was soll der Quatsch?" Er pfiff mich so was von zusammen! Ihre Königin ist den Dänen heilig! Zumindest steht es keinem Ausländer zu, sie auch nur irgendwie zu bekritteln. Auch etwas, das ich lernen musste.«
Einmal im Monat muss Kuchenbrandt nach Kopenhagen ins Headquarter. Ich stelle mir vor, wie der kleine Mann die Fähre im feinen Garn besteigt, allein mit seiner Aktentasche, in der vier Päckchen F6 stecken, um sich dann auf den langen Fluren der Zentrale klopfenden Herzens unter die Manager zu mischen... Vielleicht war es so beim ersten Mal. Inzwischen fährt Kuchenbrandt gelassen zum Meeting in die dänische Hauptstadt. Er kennt diese und jene Ecke, um die schon die Olsen-Bande flitzte, und freut sich, dass er mit den Jahren die enge deutsche Brille ablegte - »es gibt ja nicht wenige Leute, die glauben, nichts wird besser gelöst, als wir es in Deutschland lösen. Aber anderswo gibt es auch gute und sehr gute Lösungen«. Ein bisschen staunt er immer noch »wie sehr die skandinavische Mentalität dem Konsens verpflichtet ist: Da wird so lange diskutiert, bis alle dahinter stehen, das führt natürlich auch zum Ziel.« Doch es ärgert ihn nicht, wenn ihn die Kollegen aus Dänemark, Finnland oder Schweden wegen seiner Ungeduld »unser Stalinist« nennen. Er hält das für freundliche Frozzelei. Blieben die Skandinavier generell auf Abstand zu Deutschland, stünden ihnen die Ostdeutschen, »denen der Schauspielunterricht im 13. Schuljahr fehlt«, seit sie sie kennen, ein wenig näher.
Nein, Kuchenbrandt ist kein Außenseiter, Anklam muss sich nicht verstecken. Am schwarzen Brett des Verwaltungsgebäudes hängt eine Produktionsstatistik aller Danisco-Zuckerfabriken. So etwa sah früher eine Tabelle des sozialistischen Wettbewerbs aus. Doch jetzt ist es etwas ganz anderes: Es geht um etwas, jetzt kommt es drauf an. »Natürlich kann ich jetzt entscheiden«, sagt Kuchenbrandt, »und das ist richtig. Jetzt bin ich wirklich verantwortlich: Entscheide ich morgen, die Rüben kommen nicht mehr per Lkw, sondern per Bahn, dann habe ich das Recht dazu. Läuft es aber schief, habe ich ein Problem: Dann werde ich rasiert, und zwar richtig. Eine falsche Entscheidung kann Folgen haben, bis dahin, dass die Firma weg ist. Knapp 200 Arbeitsplätze weg. Die Existenz von ungefähr 540 Rübenbauern gefährdet. Ich bin auf mich selbst gestellt, plötzlich bin ich angreifbar. Kein Parteisekretär mehr, der es richtet.« Die aktuelle Statistik bestätigt, momentan hat er den auch nicht nötig. Mit mehr als 11000 Tonnen Zuckerrüben, die das Werk seit Beginn der Kampagne jeden Tag verarbeitet, liegt es im vorderen ersten Drittel. Kuchenbrandt lächelt: ein gutes Ergebnis.
Jährlich verwertet der Betrieb 900 000 Tonnen Rüben. Von Mitte September bis Ende Dezember, so lange dauert die Kampagne, rollen täglich 560 Lkw auf das Werksgelände. Im Schnitt alle drei Minuten einer, manchmal drei in einer Minute, ein An- und Abfahren ohne Ende. Während der Kampagne wird rund um die Uhr gearbeitet. Aus 70 Prozent der Ernte gewinnen die Zuckerkocher sofort Raffinade. Der Rest wird als Dicksaft gelagert und später, im März, April, veredelt.
Kuchenbrandt zeigt uns die Fabrik. 320 Millionen Mark hat Danisco investiert. Und so wie wir Journalisten uns wundern, dass allabendlich wieder unsere Zeitung - eine Zeitung! - entstanden ist, so verblüfft es die Besucher, Reisegruppen aus der Umgebung, die aus Gründen der Imagewerbung den Betrieb besichtigen dürfen und von denen jeden Tag mehrere durch die Fabrik geschleust werden, wie sich die unansehnlichen Runkeln in süße Kristalle verwandeln.
Ganz am Anfang wird gewogen und der Zuckergehalt geprüft - je höher der liegt, desto besser die Bezahlung für den Rübenbauern. Anschließend die Rübenwäsche: Steine und Erde werden entfernt; die Steine, erklärt uns Kuchenbrandt, verkaufe man an die Bauindustrie - nichts, was sich nicht zu Geld machen ließe. Automatisch gesteuerte Maschinen schneiden die Rüben wie Pommes frittes, Laufbänder transportieren die Schnitzel dann in riesige Behälter, wo sie mit 70 Grad heißem Wasser überbrüht werden. Dadurch wird ihnen der Zucker entzogen, die Schnitzel, die so genannte Pulpe, verwendet man für Futtermittel, welche übrigens mit den Lkw, die nicht leer zurückfahren sollen, zu den Landwirten gelangen. Der Zuckersaft wird nun filtriert und zum Dicksaft eingedickt, der schon 70 Prozent Zucker enthält. In überdimensionalen Kochapparaten bildet dieser Dicksaft Kristalle, nach dem Zentrifugieren sind weißer Zucker und brauner Sirup getrennt. Der Sirup wird so lange weiter gekocht, bis sich kein weißer Zucker mehr bildet, und das Restprodukt, die Melasse, wiederum für die Herstellung diverser Zuckermittel verwendet. Jetzt muss der Zucker nur noch getrocknet und in Silos gelagert werden, bis er an die Nahrungsmittelindustrie verkauft ist...
Mit der Rekonstruktion hat sich die Produktivität in Anklam vervielfacht. Alles geschieht wie von Geisterhand, außer den behelmten Besuchern ist kaum jemand in den Hallen zu sehen. Die wenigen Beschäftigen verteilen sich zur Zeit auf vier Schichten. Wenn die Kampagne zu Ende ist, werden sie Wartungsarbeiten verrichten. Alles in allem, sagt Kuchenbrandt, mache es mehr Spaß als früher. Seine Belegschaft sei hochmotiviert: Wer bei ihm Arbeit hat, schätze sich glücklich. »Für gute Arbeit gibt es gutes Geld. Die Leute können sich was leisten, auch Urlaub im Ausland, wenn sie möchten. Wir stellen ihnen die Arbeitskleidung, subventionieren das Kantinenessen, zahlen Betriebsrenten usw.« Und doch ist er nicht überzeugt, »ob das hier jetzt das Richtige ist«. Kuchenbrandt steckt sich eine F6 an: »Die Arbeitslosigkeit in Anklam liegt bei 31 Prozent.«
Vorhin, als Kuchenbrandt im Büro saß, wirkte er jugendlich und dynamisch. Wie er jetzt leicht schleppenden Schrittes das Gelände durchmisst, sieht man, er ist doch schon 56. In ein paar Jahren will er in Frührente gehen. Doch jetzt strafft er schon wieder die Schultern: »Das sind meine Vorstellungen. Natürlich kann es auch...
Hinter seinem Schreibtisch hängt eine Ansicht des Betriebes. Ein Blick auf die Anklamer Zuckerfabrik - »the Anklam Sugar-Factory« -, wie ihn 1948 ein Künstler, der sich seine Lebensmittelkarten in der Produktion verdiente, vom nahen Reichsbahngelände aus festhielt. Kuchenbrandt hat das Bild kürzlich gekauft, von einem Händler um die Ecke, der ihn angerufen hatte, weil er für den Ladenhüter einen Interessenten witterte. Seither besitzt Kuchenbrandt dies Stück gemalter Tradition, die allerdings sehr viel weiter zurückreicht, wie die neue Betriebsbroschüre mit neuem Bewusstsein ausweist: Die »Pommersche Zuckerfabrik« war 1883 gegründet worden, nachdem ein deutscher Wissenschaftler in Rüben die gleichen Ingredienzien wie im Zuckerrohr entdeckt und damit der Zuckerindustrie in Europa den Weg geebnet hatte.
Vis-a-vis, sozusagen als Pendant, hat Kuchenbrandt das Jetzt aufgehängt: Das Bild einer alten, imposanten Zuckerraffinerie aus rotem Backstein am Hafen von Kopenhagen - das Headquarter von Danisco Sugar, Mitglied der Danisco Gruppe, die in 38 Ländern 8000 Mitarbeiter beschäftigt. »Wer in einem der Büros zur Hafenseite hin arbeitet«, kolportiert Kuchenbrandt einen Scherz, der bei Danisco Sugar kursiert und in dem sicher ein Körnchen Wahrheit steckt, »ist auf dem aufsteigenden Ast. Wer nach hinten raus sitzt, steigt ab.« Kuchenbrandt gehört jetzt dazu, er weiß, was man auf den Fluren flüstert. Danisco Sugar übernahm 1991 acht Zuckerfabriken der DDR, genauer, sie kaufte sich das Recht, auf dem streng quotierten EU-Markt so viel Zucker wie diese zu produzieren. Nach der Rekonstruktion der Fabrik in Anklam waren die anderen überflüssig.
Kuchenbrandt hat sie abgewickelt, die kleinen Werke in Prenzlau und anderswo. Es hat ihm keine Freude bereitet, die damals allein im Anklamer Werk 580 Beschäftigten auf 150 »einzudampfen«. Eine Wahl hatte er nicht. Immerhin hatte Danisco Sugar Abfindungen von insgesamt 40 Millionen Mark bereitgestellt. »Bekam jemand 20 000 D-Mark, war das eine Riesenmenge Geld - wer hatte je so viel gesehen?« Im Nachhinein empfindet er das, was damals passierte, jedoch als »viel schlimmer, als mir zu dieser Zeit bewusst war: Wir dachten doch alle, kein Problem, das ist nur vorübergehend, bald gibt es mehr Firmen als Arbeitskräfte, so dass alle in kürzester Zeit wieder einen Job finden.« Allerdings weiß er auch noch genau, dass ein Drittel der DDR-Belegschaft kaum eine Qualifikation besaß. Und das war durchaus ein Problem, wie sich Kuchenbrandt erinnert.
Einer, der wie Kuchenbrandt einmal an der Spitze eines VEB stand und nun seit zwölf Jahren die Geschäfte eines Konzernbetriebes führt, hat gute Vergleichsmöglichkeiten. Allein deshalb ist es ein Jammer, dass es nicht mehr DDR-Kader in die Wirtschaftselite schafften - was für einen Erfahrungsschatz hätten sie uns schenken können. Einen Schatz freilich, auf den die Republik pfeift, glaubt sie sich doch noch unsterblich. Irgendwann könnte sich das ändern. Deshalb muss man die wenigen Kuchenbrandts gnadenlos ausbeuten. Schon, um detailliert zu erfahren, was sich auf jeden Fall verbietet. »Nun ja«, beginnt Kuchenbrandt, »es ist eine ganze Menge. Zunächst mal ist ein Betrieb ein Betrieb, eine wirtschaftliche Einheit. Ein Betrieb, der nicht dazu da ist, Gewinn zu erwirtschaften, macht keinen Sinn. Im VEB gab es keine sinnvollen Wirtschaftskriterien.«
Was dann? Kuchenbrandt spricht vom VEB als einer »autonomen Republik«, die für alles verantwortlich war, wofür der Staat keine Einrichtungen hatte. »Er sollte für das Wohl und Wehe seiner Mitarbeiter sorgen. Zum Beispiel war er Auffangbecken für sozial Geschädigte, kümmerte sich um die Freizeit, organisierte Sportfeste, hatte Kindergarten und Ferienheime, alles, was man sich so wünschte. Als Betriebsdirektor war man in erster Linie politischer Leiter: Man beschäftigte sich hauptsächlich damit, ob die GST funktionierte, die FDJ-Gruppe noch lebte. Eigentlich war es ein Witz: Ganz hinten kam die Produktion, die Hauptaufgabe des Betriebes. Aber die funktionierte nicht - wir hatten zu tun, den Bedarf zu decken. Industrieabgabepreis und Kostenseite standen fest, wir konnten wenig beeinflussen - man bekam die Hilfsmittel und Energieträger zugeteilt, ob man wollte oder nicht. Als Leiter war man verantwortlich, doch Entscheidungsbefugnis besaß man nicht, jedenfalls sehr eingeschränkt. Zum Beispiel: Wann starten wir die Kampagne, das heißt, wann beginnen wir mit der Ernte und der Zuckerherstellung? Es wäre normal gewesen, das mit den Bauern abzusprechen: Wann sind die Rüben so weit, wann fangen wir an? Damals mussten wir auf die Entscheidung der SED-Bezirksleitung warten. Heute ist es anders, da entscheiden wir. Gut, wir geben das auch zur Zentrale. Aber ohne gravierende Argumente dagegen wird sie sich hüten, einzugreifen.«
14 Jahre nach der Wende beschäftigt die Zuckerfabrik 143 Mitarbeiter und 13 Auszubildende. Mitte September, als die Kampagne begann, stellte sie zusätzlich 30 Saisonkräfte ein. Kuchenbrandt hat viel lernen müssen, zum Beispiel die Konzernsprache Englisch, weshalb er mehrmals nach London reiste, doch das Entscheidende, was er heute zum effizienten Wirtschaften braucht, hatte der Ingenieurökonom schon beim Hochschulstudium verstanden: »Politische Ökonomie des Kapitalismus. Die Ausbildung war 1A. Doch wir hatten die falsche Philosophie, und hätte man sie damals geändert, hätten andere Leute regiert.«
Sein Feuerzeug klickt. Zum wievielten Mal? Kuchenbrandt raucht noch F6; die Herkunft lässt sich nicht austreiben. Auch er war SED-Mitglied. Revolutionäre Vorhut? Die Revolution war zur Phrase verkommen; die Revolutionäre hielten still, als man ihnen die Hände band, dann waren ihnen die Hände gebunden. Oder die Augen verbunden, nicht nur wie bei Kuchenbrandt, der sagt: »Anklam war ein Mini-Dresden, auch so ein Tal der Ahnungslosen.« Als er nach der Wende zum ersten Mal eine Zuckerfabrik im Westen besuchte, waren es die Kleinigkeiten, die ihn aus der Bahn warfen: »Die hatten Wasch- und Umkleideräume, die wie Wasch- und Umkleidräume aussahen. Die Toiletten sahen aus wie Toiletten und der Speisesaal wie ein Speisesaal - die hatten all das, was wir haben wollten. Es war auch nicht so, dass die Arbeiter im Westen wenig Urlaub bekamen, wie wir immer gedacht hatten, und der Betriebsrat besaß eine Macht, von der unsere Gewerkschaft nur träumen konnte. Daran hatte ich lange zu kauen: So sah also das Umfeld aus, von dem wir dachten, wir seien weiter.«
Dass Danisco Sugar ihn als Direktor behalten würde, damit hatte Kuchenbrandt nicht gerechnet. Er hatte sich schon darauf eingestellt, in die alten Länder zu ziehen. Es kam anders, er ist überzeugt, »wegen den kaputten Straßen, den schlechten Telefonverbindungen, den katastrophalen Zuständen in den Hotels: Keiner von Danisco Sugar war damals so recht bereit, in diese triste Welt zu wechseln. Also haben die Dänen gesagt: Versuchen wir es mal mit Kuchenbrandt«.
Falls man ihn politisch gecheckt hat, so hat er es wenigstens nicht gemerkt. Immerhin hatte ihm Danisco einen »Stützpädagogen« zur Seite gestellt. »Ich habe ihn mal gefragt«, erzählt er, »was er über die DDR weiß. Er sagte: "nichts"; ich war entsetzt. Dann fragte er, was ich über Dänemark wisse - da bin ich über mich selbst entsetzt gewesen. Und eines Tages rief der dänische Botschafter an, demnächst werde Königin Margrethe Anklam einen Besuch abstatten. Nachdem ich den Hörer aufgelegt hatte, fragte ich ihn: "Was soll der Quatsch?" Er pfiff mich so was von zusammen! Ihre Königin ist den Dänen heilig! Zumindest steht es keinem Ausländer zu, sie auch nur irgendwie zu bekritteln. Auch etwas, das ich lernen musste.«
Einmal im Monat muss Kuchenbrandt nach Kopenhagen ins Headquarter. Ich stelle mir vor, wie der kleine Mann die Fähre im feinen Garn besteigt, allein mit seiner Aktentasche, in der vier Päckchen F6 stecken, um sich dann auf den langen Fluren der Zentrale klopfenden Herzens unter die Manager zu mischen... Vielleicht war es so beim ersten Mal. Inzwischen fährt Kuchenbrandt gelassen zum Meeting in die dänische Hauptstadt. Er kennt diese und jene Ecke, um die schon die Olsen-Bande flitzte, und freut sich, dass er mit den Jahren die enge deutsche Brille ablegte - »es gibt ja nicht wenige Leute, die glauben, nichts wird besser gelöst, als wir es in Deutschland lösen. Aber anderswo gibt es auch gute und sehr gute Lösungen«. Ein bisschen staunt er immer noch »wie sehr die skandinavische Mentalität dem Konsens verpflichtet ist: Da wird so lange diskutiert, bis alle dahinter stehen, das führt natürlich auch zum Ziel.« Doch es ärgert ihn nicht, wenn ihn die Kollegen aus Dänemark, Finnland oder Schweden wegen seiner Ungeduld »unser Stalinist« nennen. Er hält das für freundliche Frozzelei. Blieben die Skandinavier generell auf Abstand zu Deutschland, stünden ihnen die Ostdeutschen, »denen der Schauspielunterricht im 13. Schuljahr fehlt«, seit sie sie kennen, ein wenig näher.
Nein, Kuchenbrandt ist kein Außenseiter, Anklam muss sich nicht verstecken. Am schwarzen Brett des Verwaltungsgebäudes hängt eine Produktionsstatistik aller Danisco-Zuckerfabriken. So etwa sah früher eine Tabelle des sozialistischen Wettbewerbs aus. Doch jetzt ist es etwas ganz anderes: Es geht um etwas, jetzt kommt es drauf an. »Natürlich kann ich jetzt entscheiden«, sagt Kuchenbrandt, »und das ist richtig. Jetzt bin ich wirklich verantwortlich: Entscheide ich morgen, die Rüben kommen nicht mehr per Lkw, sondern per Bahn, dann habe ich das Recht dazu. Läuft es aber schief, habe ich ein Problem: Dann werde ich rasiert, und zwar richtig. Eine falsche Entscheidung kann Folgen haben, bis dahin, dass die Firma weg ist. Knapp 200 Arbeitsplätze weg. Die Existenz von ungefähr 540 Rübenbauern gefährdet. Ich bin auf mich selbst gestellt, plötzlich bin ich angreifbar. Kein Parteisekretär mehr, der es richtet.« Die aktuelle Statistik bestätigt, momentan hat er den auch nicht nötig. Mit mehr als 11000 Tonnen Zuckerrüben, die das Werk seit Beginn der Kampagne jeden Tag verarbeitet, liegt es im vorderen ersten Drittel. Kuchenbrandt lächelt: ein gutes Ergebnis.
Jährlich verwertet der Betrieb 900 000 Tonnen Rüben. Von Mitte September bis Ende Dezember, so lange dauert die Kampagne, rollen täglich 560 Lkw auf das Werksgelände. Im Schnitt alle drei Minuten einer, manchmal drei in einer Minute, ein An- und Abfahren ohne Ende. Während der Kampagne wird rund um die Uhr gearbeitet. Aus 70 Prozent der Ernte gewinnen die Zuckerkocher sofort Raffinade. Der Rest wird als Dicksaft gelagert und später, im März, April, veredelt.
Kuchenbrandt zeigt uns die Fabrik. 320 Millionen Mark hat Danisco investiert. Und so wie wir Journalisten uns wundern, dass allabendlich wieder unsere Zeitung - eine Zeitung! - entstanden ist, so verblüfft es die Besucher, Reisegruppen aus der Umgebung, die aus Gründen der Imagewerbung den Betrieb besichtigen dürfen und von denen jeden Tag mehrere durch die Fabrik geschleust werden, wie sich die unansehnlichen Runkeln in süße Kristalle verwandeln.
Ganz am Anfang wird gewogen und der Zuckergehalt geprüft - je höher der liegt, desto besser die Bezahlung für den Rübenbauern. Anschließend die Rübenwäsche: Steine und Erde werden entfernt; die Steine, erklärt uns Kuchenbrandt, verkaufe man an die Bauindustrie - nichts, was sich nicht zu Geld machen ließe. Automatisch gesteuerte Maschinen schneiden die Rüben wie Pommes frittes, Laufbänder transportieren die Schnitzel dann in riesige Behälter, wo sie mit 70 Grad heißem Wasser überbrüht werden. Dadurch wird ihnen der Zucker entzogen, die Schnitzel, die so genannte Pulpe, verwendet man für Futtermittel, welche übrigens mit den Lkw, die nicht leer zurückfahren sollen, zu den Landwirten gelangen. Der Zuckersaft wird nun filtriert und zum Dicksaft eingedickt, der schon 70 Prozent Zucker enthält. In überdimensionalen Kochapparaten bildet dieser Dicksaft Kristalle, nach dem Zentrifugieren sind weißer Zucker und brauner Sirup getrennt. Der Sirup wird so lange weiter gekocht, bis sich kein weißer Zucker mehr bildet, und das Restprodukt, die Melasse, wiederum für die Herstellung diverser Zuckermittel verwendet. Jetzt muss der Zucker nur noch getrocknet und in Silos gelagert werden, bis er an die Nahrungsmittelindustrie verkauft ist...
Mit der Rekonstruktion hat sich die Produktivität in Anklam vervielfacht. Alles geschieht wie von Geisterhand, außer den behelmten Besuchern ist kaum jemand in den Hallen zu sehen. Die wenigen Beschäftigen verteilen sich zur Zeit auf vier Schichten. Wenn die Kampagne zu Ende ist, werden sie Wartungsarbeiten verrichten. Alles in allem, sagt Kuchenbrandt, mache es mehr Spaß als früher. Seine Belegschaft sei hochmotiviert: Wer bei ihm Arbeit hat, schätze sich glücklich. »Für gute Arbeit gibt es gutes Geld. Die Leute können sich was leisten, auch Urlaub im Ausland, wenn sie möchten. Wir stellen ihnen die Arbeitskleidung, subventionieren das Kantinenessen, zahlen Betriebsrenten usw.« Und doch ist er nicht überzeugt, »ob das hier jetzt das Richtige ist«. Kuchenbrandt steckt sich eine F6 an: »Die Arbeitslosigkeit in Anklam liegt bei 31 Prozent.«
Vorhin, als Kuchenbrandt im Büro saß, wirkte er jugendlich und dynamisch. Wie er jetzt leicht schleppenden Schrittes das Gelände durchmisst, sieht man, er ist doch schon 56. In ein paar Jahren will er in Frührente gehen. Doch jetzt strafft er schon wieder die Schultern: »Das sind meine Vorstellungen. Natürlich kann es auch...
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