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Der erste Spatenstich

  • Dr. CHRISTINA MATTE (Text) und JOACHIM FIEGUTH (Bild)
  • Lesedauer: 9 Min.

Sozialarbeiterin Frauke Postel

Bataillonskommandeur Walter Ludwig

Bürgermeisterin Gabriele Baum

Pastor Johann-Christoph Tiedeke

verlottert aus, wie er damals im Februar aussah, als sie die Dinge in die Hand nahm. Nur daß jetzt zwischen den Grasbüscheln Schafgarbe und Kamille blühn.

Sie hat die Gabe der Vision: guten Jshr werden eihenhäuser stehn,r 34 Sozialwohnungen, in denen Ausländer und Deutsche junge Leute, die sonst keine Wohnung finden, Kinderreiche, Behinderte - eine große Familie bilden. Junge Deutsche werden dafür gemeinsam mit Ausländern Steine schleppen, und wer gemeinsam Steine schleppt, wird sich nicht mit Steinen bewerfen. Für die 15 Mann starke Gruppe, die während der Bauphase die Chance hat, eine Lehre zu beginnen und danach auch fortzuführen, hat sie bereits zehn rekrutiert, darunter drei Flüchtlinge aus Bosnien, die im hiesigen Flüchtlingsheim wohnen. Und einen fünfzehnjährigen Deutschen, der im Herbst vor zwei Jahren dabei war, als eine Horde Neonazis im Sowjetischen Ehrenmal die kleinen, fünfzackigen Sterne von den Obelisken riß und als scharfe Wurfgeschosse in die dunklen, schläfrigen Fenster der Asylbewerber schmiß.

Selbst an diesem festlichen Abend ist Frau Postel in ihre Jeans und das bequeme T-Shirt gestiegen. „Anti-Establishment-Klamotten“, weiß Herr Joachim zu berichten, „die tut nur so, als wollte sie nich, diese Typen, die geben bloß an, weil sie in Wirklichkeit nich können.“ Hier freilich irrt sich Herr Joachim. Frau Postel kann. Deshalb macht sie ja das, was sie will. Den Job im mobilen Beratungsteam der Ausländerbeauftragten des Bundeslandes Brandenburg hat sie mit jeder Faser gewollt. Weil sich nachts in den Wäldern um Storkow die rechte Jugend zusammenzieht, hat sie sich hier eingenistet. Um Strukturen aufzubauen, die Widerstand ermöglichen. Für sie ist das Antirassismusarbeit.

Die Berlinerin aus dem Wedding, frühere AL-Funktionärin, ist über Chile nach Storkow gekommen. Sie war einem Freund nach Chile gefolgt, vier Jahre lang hat sie dort gelebt, und dort, in der Fremde, haben sie Berichte über das mittlerweile vereinigte Deutschland Entsetzen gelehrt: Hoyerswerda, Rostock, Mölln - klar gibt es auch im Westen Nazis. Doch im Westen verstecken sie sich, denn die Leute klatschen nicht. Frauke Postel glaubt, daß im Westen eine breite, demokratische Mittelschicht, seit '68 stetig gewachsen, das öffentliche Klima bestimmt. Diese Schicht fehlt ihr im Osten. Zwar hat sie Verbünde-

te gefunden wie Bürgermeisterin Gabi Baum oder Pastor Tiedeke oder auch den netten Herrn König, der mal NVA-Oberst war. Den König bewundert sie sogar. „Der nimmt all die Sanktionen hin, die extra für Leute wie ihn gemacht sind, doch sein Mäntelchen hängt er nicht in den Wind.“ Nur die wenigsten sind wie König.

In den Wochen und Monaten, die diesem Abend vorangingen, hatte sie Gelegenheit, eine „schier unglaubliche, soziale Ängstlichkeit“ zu registrieren, „eine Autoritätsfixiertheit, viel zu wenig Bereitschaft, Verantwortung für eigenes Handeln zu übernehmen, dafür die Bereitschaft, sich zu drücken!'. Kurz, der Weg nach rechts beginnt an den heimischen Küchenti-

sehen. Deshalb wird der erste Spatenstich zugleich ein Stich ins Wespennest sein: Von den Anwohnern rund um den Sportplatz sind bloß Einzelgänger erschienen.

Herrn Joachim und Frau Steffi ist das ebenfalls nicht entgangen. „Wenn ich hier so'ne Villa hätte, mit Garage und Rosen im Garten, war' ich ooeh stinkig“, sagt Herr Joachim. Andererseits bedauert er es, daß die Nachbarschaft sich rar macht. „Wenn ich so eene Villa hätte, hätt' ich hier Gewehr bei Fuß jestanden!“ Frau Steffi war' nur vielleicht stinkig. „Immerhin steckt der Stolpe mit drin und die Bundeswehr baut mit. Da werden die das doch durchdacht ha-

ben.“ Andererseits kann sie .nachfühlen, daß die Leute hier Schiß haben. „Wenn das Dorf erstmal steht und die Schläger anrücken, dann fragen die doch nicht danach, ob ihr Stein ein Ausländernaus oder ein deutsches Fenster trifft.“ Sie ahnt nicht, daß sie von Feigheit spricht. Daß sie es in der Hand hätten, einen Wall der Verbundenheit um das Friedensdorf zu errichten und sie sich nur dann preisgeben, wenn sie auf diesen Wall verzichten. Herr Joachim meint, es sei „kriminell, so ein Dorf hier hinzusetzen. Leute, die so was mitmachen, sind kreuzgefährliche Idealisten“.

Hier irrt sich Herr Joachim wieder. Oberstleutnant Wal-

ter Ludwig, Kommandeur des hiesigen Pionierbataillons der Bundeswehr, ist schon deshalb kein Idealist, weil er ein waschechter Bayer ist. Was er übrigens bestreitet, denn „gegen Hamburg ist München ein Dorf, ifch Wüfde> ; sofort nach! Hamburg-'ziehen.“ ?> Leider steht ihm “das nicht frei,''als/ Generalstabsoffizier weilt er derzeit in Storkow zur Truppenverwendung. Dem Festakt wohnt er als Ehrengast bei.

Es ist nicht der Charme der Uniform, dem Frau Steffi sofort erliegt, sondern der Charme des ganzen Mannes. Geschmeidige Muskeln unter dem Hemd, sie weiß nicht, daß Ludwig, sooft er kann, gemeinsam mit der Truppe trainiert. Wüßte sie es, wäre sie hin: 30 Kilometer Einsatzmarsch mit den Unteroffizier ren, der erste ging eine halbe Stunde nach dem Oberstleutnant ins Ziel.

Psychische und physische Leistungskraft gehören für Ludwig zu den Dingen, die den Soldaten ausmachen. Neben der Fähigkeit, Menschen zu führen. Auch an diesem Abend beweist er, daß er sich nicht zu schade ist, mit den Rekruten zu parlieren, die er natürlich im Schlepptau hat: „Sehen Sie, ein Bataillonskommandeur, hinter dem die Truppe nicht steht, ist der absolute Depp. Unabhängig vom Lametta.“

Walter Ludwig wird mit seinen Männern die Bauphase des Dorfs unterstützen. Er wird einen Unteroffizier, zehn Männer und schwere Technik rausrücken. Zwei überwiegend pragmatische Gründe haben Ludwig überzeugt. Erstens: Seine Männer werden solche Tätigkeiten trainieren, die sie ohnehin lernen müssen. „Pioniere müssen ein Dorf nach einem Erdbeben wieder aufbauen können. Oder ein Flüchtlingslager errichten. Das können sie hier am besten üben. Sonst würden sie in der Kaserne bauen, und ich müßte das Ergebnis nach zwei Tagen wieder abreißen lassen.“ Macht Ludwig sein Pionierbataillon für kommende Auslandseinsätze fit? Das schließt er nicht aus, doch er wertet es nicht: „Mein Auftrag ist, Männer auszubilden. Kriege ich den Einsatzbefehl, brauche ich die Sicherheit, 90 Prozent zurückzubringen.“

Zweitens: Ludwig hat in der Truppe eine zwar unterschwellige, doch latente Gewaltbereitschaft bemerkt. „Verstehen Sie mal, die Bundeswehr tut sehr viel für ein gutes Verhältnis ihrer Leute zu Ausländern. Doch wir kriegen Zwanzigjährige, denen die Gesellschaft versäumt hat, einige Grundwerte beizubringen. Ich weiß nicht, ob nicht eine Korrelation zwischen

Wehrdienstverweigerern und Intelligenz bei der Jugend besteht.“ Von der Arbeit am Friedensdorf verspricht er sich einen Bildungseffekt. Zwar glaubt er nicht, daß die jungen Männer dabei die „Herzeriswärme entwickeln, die in Kinderverwahranstalten blieb“ (Ludwig läßt doch den Bayern raus), doch hofft er, beim nächsten Kneipengang könnten sie so viel Reife entwickeln, daß sie ihrem ausländischen Gegenüber wenigstens keins auf die Nase geben. Als die Märkische Kapelle den Gästen einen feurigen Marsch bläst, plauscht Ludwig mit Ex-NVA-Oberst König.

Kleine Gesprächsgruppen bilden sich. Lösen sich auf, formieren sich neu; der Sportplatz wird zum Ort der Kontakte. Herr Joachim bemerkt erstaunt, daß sich trotz mangelnden Interesses der sterblichen Storkower Bürgerschaft eine durchaus bemerkenswerte Gesellschaft zusammengefunden hat. Die meisten Gäste kennt er nicht. Damen in Pumps und Herren im Anzug, Offizielle und Halboffizielle, Amtsträger des Kreises, der Stadt, Sponsoren, Mitglieder des Fördervereins, Architekten, Journalisten. Ihre Karossen säumen den Platz, Nobelkarossen, Schrottkisten, mittendrin Tiedekes Trabi. Tiedeke kennt Herr Joachim natürlich. Bis vor kurzem ist Tiedeke amtierender Pfarrer in Storkow gewesen. Jetzt ist Tiedeke kein Pfarrer mehr: „Die Kirche hat ihn rausgeschmissen.“ Tatsächlich hat Pastor Tiedeke im Juni sein Pfarramt niedergelegt. Damit hat er einem Wunsch seiner Kirchengemeinde entsprochen. Herr Joachim macht soeben seine schwarze Windjacke neben der Bürgermeisterin aus, und er sieht: „Mein Gott, der lacht.“

Tiedeke lacht Bitterkeit weg. Die letzten Wochen hat er genutzt, sich zu besinnen und zu entspannen. Zu wenig Zeit, um die letzten Jahre, die er im Galopp durchquert hat, noch einmal im Schritt zu durchwandern - der Runde Tisch, den er moderiert hat, die^UmsJteJlungen in,dei,Kir-, ehe, beginnende Arbeitslosig-; keit, Verunsicherung und Seelsorge, die Diakonie mußte ' aufgebaut werden, schließlich die erste Schuldnerberatung. Viel Kraft hat Tiedeke gelassen, als über Nacht Asylbewerber ins Storkower Neubauviertel kamen. Vorverlegte Friedensgebete, persönliche Briefe, Lichterketten. Dann die Nacht des Überfalls, die Tiedeke Storkows Kristallnacht nennt. Eine kleine Gruppe hat mit ihren Körpern das Heim geschützt. Vierzehn Nächte lang, danach stand Tiedekes Telefonkette. Der erste Anruf galt immer ihm. Rein in den Trabi, ab ins Heim, Seelsorgä bis früh um drei.

Den Trabi hält Tiedeke seitdem fast so heilig wie eine Reliquie. Er hat ihm das Leben gerettet: Eines nachts jagte ihn ein weißer Porsche vom Heim kreuz und quer durch die Storkower Gassen, bis er auf den alten Übungsplatz der seligen GST abbog. Ideales Trabigelände, Tiedekes Glück, der Porsche saß auf... Die Gemeinde wünscht sich einen Pfarrer; der sich nicht um alles mögliche kümmert, sondern sich auf seine Pflichten bei Gottesdiensten, Beerdigungen und bei der Altenbetreuung besinnt.

Gerade gibt Tiedeke zum Besten, wie er mit dem Trabi bis Old Oak fuhr, zu einer Gemeinde der Methodisten, wo ein alter Indianer die Bibeln verteilte, eine Chinesin wie aus Porzellan schwierige Bibelstellen* erklärte, ein Afrikaner assistierte und er die Leute segnete, was „einfach himmlisch“ für ihn war, da zieht Neudeck unter Beifall die Flagge des Friedensdorfes auf, „die wahrscheinlich friedlichste Fahne, die je über der Stadt Storkow geweht hat“ Selbst Frau Steffi applaudiert, der Fahnenmast, hat man ihr erklärt, stammt aus den Beständen der Bundeswehr.

Dann der erste Spatenstich. Ein Junge aus Frau Posteis Team setzt ein Bäumchen in den Boden. „Die Eiche soll wachsen wie unser Projekt“, wünscht sich Bürgermeisterin Baum. Und das entspricht dem Wunsch des Jungen, der seit zwei Jahren arbeitslos ist. Wenig später löst sich die Runde auf. Auch Herr Joachim geht nach Haus. „War nicht mal so schlecht“, sagt er, „aber das Bier war warm und pißrig.“

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