»Das Faszinosum Hitler«

Vor 15 Jahren musste Philipp Jenninger nach seiner Pogromnacht-Rede zurücktreten

  • Velten Schäfer
  • Lesedauer: ca. 5.0 Min.
»Die Jahre von 1933 bis 1938 sind selbst aus der distanzierten Rückschau und in Kenntnis des Folgenden noch heute ein Faszinosum insofern, als es in der Geschichte kaum eine Parallele zu dem politischen Triumphzug Hitlers während jener ersten Jahre gibt ... Statt Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit herrschten Optimismus und Selbstvertrauen. Machte nicht Hitler wahr, was Wilhelm II. nur versprochen hatte, nämlich die Deutschen herrlichen Zeiten entgegenzuführen? War er nicht wirklich von der Vorsehung ausgewählt, ein Führer, wie er einem Volk nur einmal in tausend Jahren geschenkt wird? ... Und was die Juden anging: Hatten sie sich nicht in der Vergangenheit doch eine Rolle angemaßt, die ihnen nicht zustand? Mussten sie nicht endlich mal Einschränkungen in Kauf nehmen? Hatten sie es nicht vielleicht sogar verdient, in ihre Schranken gewiesen zu werden?« Gedenkreden können ja so gefährlich sein. Vor fast genau 15 Jahren stürzte der mächtige Philipp Jenninger - damals Bundestagspräsident und Vertrauter Kohls - über Sätze wie die oben zitierten. Keine zwei Tage, nachdem er im Bonner Bundestag seine berühmte Rede zum 50. Jahrestag der Reichspogromnacht gehalten hatte, musste er zurücktreten. Er habe die Sprache der Täter benutzt, er habe dadurch die Opfer beleidigt. Die große Bühne hat Jenninger nach dem Rücktritt nie wieder betreten. Als Botschafter in Wien und beim Vatikan spielte er fortan kleinere Rollen. Vergangenes Jahr wurde er in aller Stille siebzig. Aus staatspolitischer Sicht war der Rücktritt unvermeidlich. Der außenpolitische Schaden, den die Rede anrichtete, war allenfalls noch mit dem Kohl-Reagan-Händedruck über den auch SS-Männer bergenden Gräbern von Bitburg vergleichbar. Die ausländische Presse griff den »Skandal« oft aus zweiter Hand auf und brachte bittere Kommentare. ND zum Beispiel stellte Jenninger in eine Reihe mit Filbinger und Globke. Die Rede sei kennzeichnend für die »Ordnung« der BRD. Verschärfend kam hinzu, dass Jenninger auf seiner Rede insistiert hatte - so dass an dem Gedenktag in Bonn ein Feuilleton-Skandal produziert wurde, während Heinz Galinski - damaliger Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland - erstmals an einer Ostberliner Veranstaltung teilnahm. Jenningers Rede war also ein peinliches Eigentor im deutsch-deutschen Erinnerungswettbewerb. Inhaltlich beruhte der ganze Skandal auf einem halben Missverständnis. Denn obwohl die umstrittene Passage mit dem »Faszinosum« zu viel Raum für Auslegungen ließ, hatte Jenninger alle diese rhetorischen Fragen nicht wirklich stellen wollen. In der Hauptsache hatte er wohl versucht, sich an einen Stammtisch der dreißiger Jahre zurückzudenken. In einer Dissertation über die Jenninger-Affäre wird diese immer etwas riskante rhetorische »Hineinversetzung« als »erlebte Rede« bezeichnet. Schon der Schriftsteller Gustave Flaubert, der in seinem 1857 erschienenen Roman »Madame Bovary« erstmals so geschrieben hatte, musste vor Gericht erscheinen. Was überwiegt nun: verstehen wollen oder Verständnis haben? Zwar funktioniert die Fehlinterpretation für manche bis heute - die obigen Passagen stehen auf einer offenbar antisemitischen Internetseite unter der Rubrik »bemerkenswerte Zitate«. Dennoch wurde Jenninger schon 1988 von den unaufgeregteren Zeitgenossen relativ schnell entlastet. Michael Fürst, damals Galinskis Stellvertreter, verteidigte ihn unmittelbar nach der Rede - und musste selbst seinen Hut nehmen. Galinskis Nachfolger Ignatz Bubis dagegen zitierte Jenninger später sogar zustimmend. Von ihm aus »hätte er nicht zurücktreten müssen«. Und auch die damals plakativste Illustration des Skandals entpuppte sich im Nachhinein als Ente: Die Schauspielerin Ida Ehre, die Mutter und Schwester in den Lagern verloren hatte, verlas vor Jenningers Auftritt Paul Celans Todesfuge. Während der Rede bedeckte sie ihr Gesicht mit den Händen - allerdings nicht wegen der Rede, wie sie später zu Protokoll gab. Von der hatte sie in ihrer Ergriffenheit nur wenig mitbekommen. Die Affäre ist inzwischen also weitgehend ausgeräumt. Die einen erklären sie durch Jenningers Rhetorik: Er habe den Zitat-Charakter der fraglichen Stellen deutlich gemacht. Dies habe die Abgeordneten, die sich ihre Meinung aus ein paar Satzbausteinen bildeten, schlicht überfordert. Andere betonen die politische Großwetterlage: Drei Jahre nach Bitburg und zwei Jahre nach dem Beginn des Historikerstreits seien viele dieser Richtung übersensibilisiert gewesen. Man kann die heftigen Reaktionen der westdeutschen Öffentlichkeit aber auch einmal ernst nehmen. Wenn Michael Fürst die Rede richtig verstanden hatte, zeigte sie auf, »dass alles, was Hitler gemacht hat, eindeutig von der ganzen Masse der Deutschen getragen wurde«. Auch wenn sich das so pauschal nicht vertreten lässt: Jenningers »Hineinversetzung« konfrontierte das Publikum mit der Tatsache, dass es einem Durchschnittsdeutschen jener Zeit alles andere als abwegig vorkam, den Nationalsozialismus zu unterstützen - solange zumindest, wie noch kein Krieg war oder nur die Städte der Nachbarn zerstört wurden. Hier hatte Jenninger Unaussprechliches berührt. Auch die westdeutsche Linke, die damals am lautesten gegen Jenninger mobil machte, hätte mit einem solchen Geschichtsbild nicht leben können. Im Unterschied zur rechten Mitte hatte sie sich zwar mit Nationalsozialismus und Holocaust auseinander gesetzt, sich dabei aber auf Opfer, Widerstand und Taten konzentriert - die Täter selbst auf eine kleine Gruppe herausragender Scheusale reduziert. Junker, Monopolkapital, »Verführte« - viel genauer wollte man es noch in den Achtzigern oft nicht wissen. Der Internationalismus der westdeutschen Linken trug Züge einer Flucht aus der Geschichte: Man bekämpfte den »Faschismus« in aller Herren Länder - um sich mit den dortigen Befreiungsbewegungen zu »identifizieren«. Der Sprachgebrauch ist vielsagend. Trotz aller Zweideutigkeiten: Wenn man Jenninger so verstehen will, wie Fürst ihn seinerzeit gelesen hat, war er damals seiner Zeit voraus. Denn heute, anderthalb Jahrzehnte später, ist diese Perspektive auf den Nationalsozialismus zwar in der Wissenschaft angekommen: Immer öfter wird - von der starren Totalitarismusdoktrin abweichend - der Nationalsozialismus »von unten« beschrieben. Dabei rücken die vielfältigen Formen von Unterstützung, Kollaboration und Nutznießerei in den Vordergrund. Andererseits aber hat jüngst die Studie einer Forschergruppe um den Wittener Sozialpsychologen Harald Welzer ergeben, dass in Deutschland neben dem detaillierten wissenschaftlichen Diskurs und dem erstarrten Staatsgedenken an »Krieg und Gewaltherrschaft« eine private, auf Bekanntschafts- und Familienebene gepflegte Erzählung über den Nationalsozialismus existiert, derzufolge kaum jemand mit dem »System« zu tun hatte. Ich bins nicht, Adolf Hitler ists gewesen. Diese Lücke zwischen offiziellem und inoffiziellem Kollektivgedächtnis ist nicht ungefährlich. Vielleicht wäre sie heute weniger klaffend, wenn auf Jenningers unglückliche Rede die eigentlich fällige Debatte gefolgt wäre. Durch Vereinigung, durch die Abrechnung mit der DDR und die Suche nach einer »neuen Rolle Deutschlands« auf der Welt unterblieb dieser Streit jedoch. Im vergangenen Jahr hat Jenninger selbst noch einmal Stellung bezogen: Er sei nicht verbittert über die Affäre - aber traurig darüber, dass »die Deutschen bisher noch nicht den Mut aufgebracht haben, sich mit ihrer Vergangenheit auseinander zu setzen«. Vielleicht sollte Jenninger seine Rede sogar noch einmal halten - diesmal allerdings im Rahmen einer Diskussion...

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