Das Märchen ihres Lebens

Begegnung mit Muck-Darsteller Thomas Schmidt und Regisseur Peter Podehl

  • Joachim Giera
  • Lesedauer: ca. 12.0 Min.
Ihn kennt jeder. Im Osten. Nein, nicht wegen seines Auftritts vor Wochen in der »DDR-Show« bei RTL, als ihm »unsere Gold-Kati« mit schnellem Händchen noch schnell das Blaue Halstuch verpasste und er es geschehen ließ. Wir haben nicht gesehen, wie die ehemalige Gruppenkassiererin Katharina Witt flink und flott ein neues Mitglied akquirierte. Der Sender hat es nicht gezeigt - rausgeschnitten. Als er dann im Bild war, gehörte er schon dazu. So einfach ist das. »Ich bekenne, dass ich mich nicht gewehrt habe, zu DDR-Schulzeiten war ich standhafter.«
Thomas Schmidt war nie ein Junger Pionier. Als Einziger in seiner Klasse in Potsdam - damals. Er war nie »einer von uns« und begleitete uns doch durch die Jahrzehnte. Einer, der sich auf den Weg begibt, um nach dem »Kaufmann, der das Glück verkauft«, zu suchen, den nicht findet, weil es ihn nicht gibt, aber zu Selbstständigkeit findet jenseits jeglicher Vereinnahmung, der einzige Weg. Der kleine Muck - unser Traum vom Leben, unser Traum vom Glück? »Noch heute, nach fünfzig Jahren, bekomme ich ab und zu rührende Briefe«, freut er sich. »Die Geschichte vom kleinen Muck« wurde zum Märchen seines Lebens.
Treff an einem Novembernachmittag im Café eines bekannten Berliner Kulturkaufhauses. Prof. Dr. Thomas Schmidt ist aus Hannover angereist, kommt gerade von einer Bundespressekonferenz, wo der Präventiv- und Verhaltensmediziner seine Forschungsarbeit vorstellen wollte, die verlief nicht glücklich. Nun telefoniert er mit erregter Stimme, aber sie bleibt dabei irritierend sanft. Er hat ein spezielles Gerät zum Nasespülen erfunden. Alle wollen es haben, aber keiner will zahlen. Auf meine Bemerkung hin, verschnupfte Politiker seien doch nichts Besonderes, er solle etwas zum Ohrenspülen erfinden, damit die besser hören, was das Volk so spricht, muss er lachen. Und da sitzt er vor mir, der kleine Muck, mein Freund aus Kindertagen, ein halbes Jahrhundert später. Dieses Lachen habe ich nicht vergessen und diese Stimme auch nicht. Er erinnert sich: »Den Erfolg des Films habe ich als Kind nicht registriert. Am Bahnhof Drewitz in der Nähe des Studios ging ich mit meinen Freunden ins Kino, um ihn anzuschauen. Als der Filmvorführer mitbekam, dass der kleine Muck da war, hat er mir eine Tafel Schokolade geschenkt. Das wars, das Ganze hielt sich in Grenzen. Dann bestellte mich mein Lehrer aus der Beethoven-Schule in Babelsberg wieder zu sich, ob ich nun nicht doch den Jungen Pionieren beitreten wolle. Ein sehr netter Mann, der hat den Auftrag gekriegt. Ich sagte, ich habe ja keine Zeit, ich muss Klavier spielen, Orgel üben, wann soll ich denn da hinkommen? Das hat ihm schon gereicht, er hatte seine Pflicht getan.«

Zauber des
Humanismus

Am 23. Dezember 1953 spurtet Muck wie seinerzeit Emil Zatopek, nur viel schneller, sozusagen als frühe ICE-Version der »tschechischen Lokomotive«, das erste Mal über die Leinwand. Das war im Berliner Kino »Babylon«. 72 Stunden später zählt der zweite DEFA-Märchenfilm nach Wilhelm Hauffs »Die Geschichte vom kleinen Muck«, an den sich ganze Kino-Generationen erinnern werden, landesweit schon 50000 Besucher. Als Jahresabschlusserfolgsmeldung (!) von ADN gleichmäßig verbreitet, kommt sie zur rechten Zeit. Wenigstens eine. Wirkliche. Das Jahr 1953 war kein Glücksjahr.
Gedreht wird seit Februar. Auf dem Gelände ist eine kleine orientalische Stadt aufgebaut, für die Wüste wird tonnenweise Sand hingekarrt, das Haus der Katzenfrau Ahavzi steht im Studio, den Nachbau des Brunnens am Sultanshof - wir erinnern uns an den Wettlauf - kann man heute noch bewundern. An einem Junitag soll Muck gegen den Oberleibläufer Murad antreten. Schwierige Arbeiten, sowohl der Kinderdarsteller als auch einer von Mucks Pantoffeln müssen von der Wasserfontäne empor getragen werden. Es herrscht Konzentration. Die allerdings wird immer wieder durch »Traktorenlärm« von der Straße her gestört. Regisseur Wolfgang Staudte bittet darum, dies abzustellen. Das aber ist nicht möglich. Russische Panzer lassen sich nicht einfach umleiten. Es ist der 17. Juni 1953. Einbruch der Wirklichkeit in die Traumfabrikation. Siegfried Hartmann erinnert diese Anekdote.
Treff an einem anderen Novembertag mit Peter Podehl in seinem Haus in München. Zuerst allein, dann zusammen mit Staudte schreibt er das Drehbuch und wird später mit Hartmann und Hanna Bark einer der drei Regie-Assistenten. An jenen Tag hat er eine andere »merkwürdige Erinnerung, die mir nie so gefallen hat. Staudte reagierte in dem Sinne wie: Na ja, jetzt nehmen das die Russen in die Hand, die wissen ja damit umzugehen. Also, das hat mir nicht gefallen, da war er sehr Pro-Sozialismus, oder er hatte nicht begriffen, was sich da abspielte, dass das ein Aufstand war. Staudte war ja im Grunde ein Träumer, auch politisch. Er träumte vom Sozialismus. Die Realität des Sozialismus war ihm sehr fern. Diesen Traum hat er in seinen späteren Filmen immer wieder versucht zu realisieren und dabei furchtbare Schulden gemacht. Er war ein heller, ein leichter, ein witziger, ein bissiger, ein ironischer Macher, aber er war kein linientreuer Sozialist, das war er nie.« Er passte in keine Schublade.
Ende 1952, vor Beginn der Dreharbeiten, bekennt der Regisseur: »Wer mir einen solchen Auftrag gibt, der muss wissen, dass ich ein Entzauberer bin.« Er wendet sich gegen die »Folgen einer falschen Pädagogik«, gegen die »Dämonie und das Brutale«, meint aber, dabei »dürfen wir nicht die Poesie zerstören«. Ein doppelter Wink mit dem Zaunpfahl im ersten Jahre des realen DDR-Sozialismus und sieben Jahre nach dem großen Krieg. Die Verhinderung eines Krieges mit Hilfe des kleinen Muck im Film, einer Episode, wie sie bei Hauff nicht steht, assoziiert denn auch deutsche Vergangenheit; die unmittelbare Gegenwart muss außen vor bleiben. Ein Märchenfilm ist kein Transportband. »Realistisch wollte er sein, und das war er«, erinnert Podehl. »Verzauberung kommt, wenn man den Film gesehen hat, nicht von Zaubereien, sondern - jetzt traue ich mich, was zu sagen - vom Zauber des Humanismus, der im Film steckt, und der von Hauff vorgegeben ist.«
Das Projekt, so schreibt die Filmgeschichte, ist »nur eine Art Verlegenheitslösung«. Nach der in aller Welt erfolgreichen Heinrich-Mann-Adaption »Der Untertan« (1951) soll Staudte Brechts »Mutter Courage und ihre Kinder« verfilmen. Die Realisierung scheitert an Kontroversen zwischen dem Dichter und dem Regisseur. Man will den Westberliner Künstler, der 1946 »Die Mörder sind unter uns« drehte und damit den Ruhm der Studios mit begründete, nicht verlieren. Ein anderes Angebot muss her. Podehl: »Als ich an den Stoff gesetzt wurde, hieß es bereits, Staudte wird ihn inszenieren. Und Staudte hat sich da reingekniet. Der konnte, glaube ich, nicht ohne Reinknien, war voll und ganz bei der Sache. Es gab bei ihm keine Spur von "Ach na ja, dann mache ich das mal eben nebenher..." Nichts dergleichen, sondern volle Pulle!, wie man in Berlin sagt.«
Diese Anstrengung ist nötig. Denn als die »Verlegenheitslösung« zum Ernstfall gerät, gibt es Probleme. Staudte schwebt vor, den jungen Westberliner Schauspieler Horst Buchholz mit der Rolle des Guten Prinzen zu besetzen. Buchholz lehnt ab. »Wenn Sie das machen, dann geht Ihr Engagement am Schillertheater in die Binsen«, heißt es. Ein gutes Jahr zuvor noch hofft der Regisseur in einem Interview mit »Neues Deutschland«: »Die Filmkünstler kann man nicht einfach durch eine Grenze trennen. Jedes Kind, das ein wenig Geschichte gelernt hat, weiß, dass man kein Land mit Erfolg auf die Dauer so zerteilen kann. Ich kenne keinen ost- und keinen westdeutschen Film. Ich kenne nur einen guten deutschen Film.« Die Hoffnung als vager Traum. Der Kalte Krieg ist längst schon auch im Studio angekommen. »Der kleine Muck« zwischen den Fronten, das erste Mal.

Aus dem kleinen Muck wurde Prof. Dr. Thomas Schmidt Foto: privatPeter Podehl - siedelte 1955 mit der Familie nach München um Foto: Giera»Herr Staudte, da ist
der kleine Muck«

Eine weitere Schwierigkeit tut sich auf mit der Besetzung der Hauptrolle. Co-Autor und Regie-Assistent Podehl gesteht, damals »kleingläubig« gewesen zu sein, er war der Meinung: »Diesen Riesenapparat kann ein Kind nicht spielen, wir müssen einen Erwachsenen finden, der ein Kind spielen kann. Also haben wir es versucht, das ging nicht. Schließlich machten wir Probeaufnahmen mit meiner Frau, die klein war, und eine, so meine ich, sehr gute Schauspielerin. Bei der Gelegenheit nahm sie unseren Sohn Thomas mit, weil sie wohl dachte: "Na, ob da nicht was möglich ist?", setzte ihm den Turban auf, und einer sagte, das war Siegfried Hartmann, "Herr Staudte, da ist der kleine Muck". Das war von mir überhaupt nicht geplant, es ergab sich so.« Staudte ließ Probeaufnahmen für den 23. Februar ansetzen, das ist Thomas 11. Geburtstag. Ein Zufall. Und Staudte nimmt den Jungen - ein Glücksfall.
»Meine Mutter ist den Text mit mir durchgegangen am Abend vorher, die Aufnahmen waren kein Problem, weil wir als Kinder sowieso spielten. Wir verkleideten uns, spielten im Wald, bauten Bunker und schlüpften immer in andere Rollen. Das war unser normales Leben. Jetzt aber war das DEFA-Gelände ein Riesenabenteuerspielplatz für mich. Die Arbeit vor der Kamera lief fast nebenher ab. Staudte irritierte das wohl ein bisschen, und er sprach mit meinen Eltern drüber. Aber es funktionierte ja. So hat man gesagt, rühren wir nicht daran, lassen wir es so, es funktioniert doch wunderbar.« Nun leuchten die Augen des erwachsenen Thomas Schmidt: »Ich sage das, weil in gewisser Weise der kleine Muck auch eine letzte grosse Rolle meiner Mutter war. Ich habe ausgeführt, gespielt, wie wir als Kinder sowieso spielten, jetzt eben in einer neuen Situation - vor der Kamera.«
Was niemand ahnte, aus der »Verlegenheitslösung«, dem Ernstfall, dem Zufall und dem Glücksfall wird die Ausnahme, ein Erfolg, wie er den Babelsberger Filmstudios während ihrer 46 wechselvollen DEFA-Jahre nicht allzu oft beschieden war. Die Zuschauerzahlen übersteigen bald die Millionengrenze, in öffentlichen Fernsehstuben versammeln sich die Menschen knapp einen Monat nach der Premiere, um die erste, natürlich damals noch in Schwarz-weiß, von etlichen Ausstrahlungen zu begutachten. Mehr war bei den winzigen Kästchen wohl nicht drin. Im Kino sehen ihn im Laufe der Jahre fast 13 Millionen Zuschauer quer durch die Generationen. Podehl mutmaßt: »Der Film war für die Menschen eine wunderbare Geschichte, weil er unprätentiös war und unabsichtlich, das war Staudtes Handschrift. Wir waren ja alle von der DEFA Filme gewohnt, wo wir die Hände überm Kopf zusammenschlugen und sagten "Um Gottes willen!" Nicht prinzipiell, es gab ein paar sehr schöne, es gab hinterher noch ein paar sehr sehr schöne, aber in dieser Zeit wurde der "Muck" zum Erfolg, weil man sich amüsieren konnte, ohne das Gefühl zu haben, jetzt werde ich wieder sozialistisch belehrt. Davon war nichts drin.« Mucks Suche und Lauf, ein »Renner« würde man heute sagen, im wahrsten Sinne des Wortes. Insgesamt sollte er in 71 Länder verkauft werden.
In Westdeutschland darf er nicht gezeigt werden, bleibt er erst mal unter Verschluss. Das Ministerium für Gesamtdeutsche Fragen (!) verbietet generell die Aufführung von DEFA-Filmen in der Bundesrepublik Deutschland. Der vage Traum ist ausgeträumt, die Hoffnung zerstiebt als Illusion. Der Kalte Krieg im Vormarsch, auch »Der kleine Muck« in der Schusslinie. Die Macher ebenfalls, auch im Osten weht der Wind schärfer, »grundsätzlicher«. Staudte dreht noch einen - letzten - Film bei der DEFA, dann ist Schluss für ihn. Aus der Traum, nicht mal mehr eine Illusion. Podehl soll weiter Märchenfilme schreiben, Erfolg weckt Begehrlichkeiten. Er setzt sich hin, versucht, »Das tapfere Schneiderlein« der Grimms als »liebenswürdige Hochstapelei« zu entwerfen und wird nach Pankow einbestellt. »Nun war Pankow ziemlich eindeutig kein ästhetisches Problem, sondern ein politisches.« Zuvor hatte eine Gutachterin des Szenariums ganz offiziell bemängelt, dass »die Kennzeichnung einer gewissen klassenkämpferischen Rolle des Schneiderleins noch nicht ganz geglückt« sei. In Pankow wird die Kritik zur Forderung: »"Um Gottes willen, Herr Podehl, das ist völlig unmöglich, der Mann aus dem Volke, der König wird, wird niemals auch nur im Geringsten ein Hochstapler sein! Das tapfere Schneiderlein ist Wilhelm Pieck!!!" Und dann fuhr ich nach Hause und sagte zu Charlotte: "Pack die Koffer, das wird nischt mehr." Da war es für mich aus.«

Als wir im Traum
fliegen konnten

1955 siedelt die Familie Podehl nach München um. »Wir sind offiziell raus mit Möbeln, das war, glaube ich, drei Monate später schon nicht mehr möglich.« Der Film gerät, nein, nicht in Vergessenheit, er rutscht in den Hintergrund, wird zur Erinnerung. Dass er in aller Welt läuft, ihn in der DDR jede Kindergeneration im Kino oder Fernsehen neu entdeckt, davon ahnen sie nichts, hören nur manchmal davon. Das ändert sich erst nach 1989. Nun erreicht auch sie die Nachricht.
Im Berliner Café erzählt Thomas Schmidt staunend davon: »Ich bin mit Menschen aus Ostdeutschland in Kontakt gekommen. Immer wenn sie erfuhren oder merkten, dass ich "der Kleine Muck" war, fing ein Strahlen in den Augen an, und sie sagten: "Das ist mein Lieblingsfilm gewesen, ich hab ihn so oft gesehen!" Es ist auch ein schöner Film. Wer kann sich nicht mit der Rolle des kleinen Muck identifizieren? Jeder kommt mal in Situationen, wo das Leben nicht so angenehm ist für ihn. Jeder Mensch ist anders. Das ist ja gerade unser Reichtum! Das macht uns aber auch anfällig dafür, in die Rolle des Außenseiters zu geraten.« Wo er nicht dazu gehört, weil er sich nicht vereinnahmen lassen will. »Vielleicht hat sich deswegen dieser Film in Ostdeutschland in die Herzen der Menschen gespielt.«
Peter Podehl blickt versonnen durch das Fenster in den Vorgarten seines kleinen Münchener Hauses und zwinkert mir dann zu: »Ich bekam immer wieder einen Hinweis darauf, wie kräftig dieser Film gewirkt hat, wie er zu einem Kultfilm geworden ist. Aber wissen Sie, man setzt sich ja nicht hin und sagt, jetzt schreiben wir mal einen Kultfilm. Sondern man setzt sich hin und sagt, jetzt wollen wir mal ein gutes Drehbuch schreiben und versuchen, den so gut zu machen wie möglich. Man kann den Erfolg nicht reinschreiben. Manche können das vielleicht, wir haben es nicht getan. Für mich ist "Die Geschichte vom kleinen Muck" ein guter Film: ein guter Hauptdarsteller, ein wunderbarer Regisseur, ein gutes Drehbuch, Identifikationsmöglichkeiten für viele.«
Stimmt. Muck gehörte schon damals zu uns, auch ohne Pionierhalstuch. Zu unserer Kindheit, als wir im Traum fliegen konnten, ebenso schnell waren wie er, und an das Glück glaubten. Heute, 50 Jahre später, mit gestutzten Flügeln, erinnern wir uns immer noch an den kleinen-großen Mann, der hoffte, suchte und schließlich fand - sein Glück. Unter den Menschen. Mit den Menschen. Das wundersame Stöckchen und die rasenden Pantoffeln hat der Wind in de...

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