Das Messer im Herz der vertrauten Lüge
Heiner Müller wäre heute 75 geworden
Müller und die Deutschen. Eine Unbeziehung. Gar nicht so selten in diesem Lande der ausgekühlten Wintermärchen. Bei Müller aber war es immer eine Reise zu sich selbst. Er schloss sich mit ein in den Verhängniszusammenhang, reagierte mit überfeinertem Sensorium. Ein Untergangsseismograph. Müller war beides zugleich: Symptom und Diagnose des Unheils.
Einer aus der Flakhelfergeneration. Die Eltern, SPD (Mutter) und Sozialistische Arbeiterpartei (Vater). Der Vater kommt wiederholt kurzzeitig ins KZ und ins Gefängnis. Das Gymnasium in Waren wird 1944 geschlossen, Reichsarbeitsdienst. Nach dem Krieg - ebenfalls nur kurz - in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Mitarbeiter im Landratsamt Waren und Beendigung der Schule. Heiratet 1950 seine Mitschülerin Rosemarie Fritzsche und nimmt an einem Schriftstellerlehrgang in Bad Saarow teil. Erfolglos bemüht er sich um die Mitarbeit am Berliner Ensemble, schreibt für den »Sonntag« und »Neue Deutsche Literatur«. Hier im Heft 1/1956 lesen wir Müllers Erzählung »Das Eiserne Kreuz« (hinter einem Beitrag von Peter Huchel und vor zwei Texten von Franz Fühmann und Rüdiger Syberberg - das war sie, die bis heute gesamtdeutsch so verkannte große Bühne bester deutscher Literatur in dieser Zeitschrift, gerade im ersten Jahrzehnt). Eine deutsche Parabel vom Kriegsende, das kein wirkliches Ende des Krieges war. Hier haben wir schon den ganzen Heiner Müller, in seiner rigoros-lapidaren Abgründigkeit. Die bündige Fabel: Ein fanatischer Nazi erschießt im April 1945 vor der heranrückenden Roten Armee seine Frau und Tochter. Es gibt kein Leben nach der Niederlage, hatte die Nazi-Propaganda verkündet. Als er aber die Pistole auch an den eigenen Kopf gesetzt hat, zögert er, wirft sie dann fort und läuft davon. Er lebt heute mitten unter uns. Er ist ein Deutscher, der nun der neuen Propaganda folgt - der lästigen Zeugen seines früheren Lebens entledigt. Dieser wie unbeteiligt und kühl wirkende Zeuge unter Deutschen wollte Müller sein. Sie haben ihm sein nietzscheanisches »Pathos der Distanz« oft verübelt. Dieser notorische Geschichtenerzähler wusste: die Geschichte ist einem großen Schlachthaus ähnlicher als einem gemütlichen Literaten-Café. Dass das eine das andere nicht verhindern kann, das war ihm zeitlebens das größte Faszinosum. Die Neu-Gier des Künstlers kommt aus der Zugleich-Existenz des Unvereinbaren. Etwa: Geist und Trieb. Oder: Barbarei und Fortschritt. Im Gespräch mit Alexander Kluge (»Ich schulde der Welt einen Toten«) sagt Müller: »Gier ist etwas Positives in der Kunst, geradezu eine Voraussetzung für Kunst.« Der Ort, wo diese Gier reflexiv wird, ohne Papier zu sein: das Theater. In diesem Sinne wird ihm das Theater zum Ort der Geschichtsschreibung.
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FREMDER BLICK:
ABSCHIED VON BERLIN
Aus meiner Zelle vor dem leeren Blatt
Im Kopf ein Drama für kein Publikum
Taub sind die Sieger die Besiegten stumm
Ein fremder Blick auf eine fremde Stadt
Graugelb die Wolken ziehn am Fenster hin
Weißgrau die Tauben scheißen auf Berlin
14.12.1994
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Mit derartigen Ambitionen avancierte Müller in den sechziger Jahren folgerichtig zum Störfall der Politik. Das lag daran, dass er das Scheitern im Banalen zum Wesen der Politik erklärte. (Dass er, gerade er, 1989 von der untergehenden DDR noch den Nationalpreis bekam, und sogar »Erster Klasse«, ist eine tiefe Ironie des Weltgeistes.) Und noch etwas war unannehmbar (und dürfte es heute unter braven Linken immer noch sein): sein fatalistisches Bild vom Intellektuellen, flankiert von Ernst Jüngers »Ästhetik des Schreckens«. Schock durch Bilder, nicht Belehrung mittels Kommentar. Heidegger als missglückter »Prinzenerzieher Hitlers«, so Müller, das sei symptomatisch für die Misere der deutschen Intellektuellen, auch die in der DDR. Immer, wenn sie sich außerhalb ihres eigenen Gebietes stellen, scheitern sie kläglich, weil sie vergessen haben, dass ihre Macht nur eine eingebildete ist. So etwas zu hören, schmerzt. Genau das soll es auch, denn wozu es sonst überhaupt sagen. Rilke schrieb, nichts meine ein Gedicht weniger als in dem Leser den möglichen Dichter anzuregen. Gottfried Benn zitiert das genussvoll in seinem Aufsatz: »Soll die Dichtung das Leben bessern?« Ich weiß nicht, ob Müller diesen Text überhaupt je gelesen hat, aber er hätte ihn genauso schreiben können. Immer steht die Frage am Pranger, immer liegt die Beweislast bei dem, der verändert. Das ist angesichts des existenten Unrechts höchst ungerecht, aber genauso unvermeidlich. Müller will nicht anregen, eher Geschichte schockgefrieren. Der Geschichtsforscher als Pathologe? Natürlich produziert er dabei doch Hitze. Er war - auch das ein Paradox - der intellektuelle Anreger schlechthin für eine ganze 80er-Jahre-Generation - ausgenommen immer die, die sich durch nichts anregen lassen. Immer ist es die eine Frage, ob man den Riss spürt. Den, der durch die Zeit geht - und dann durch einen selbst.Darum das zentrale Thema: Hamlet/Hamletmaschine.
Was von Müller zu lernen war (ist): Zweifel, Immoralismus, Chaos. Hat, wer die nicht in sich trägt, denn überhaupt etwas zu sagen? Fragen sind nicht echt, wenn man die Antworten schon zu wissen meint. Das mündet dann in die Dummheit geschlossener Weltbilder. Und deren erbitterter Feind war Müller, notfalls bis zum sprachlichen Exzess gehend. Dabei hat gerade Müller den Traum vom Kommunismus sehr intensiv geträumt - ohne sich davon dumm machen zu lassen. Die Anti-Utopie steht bei ihm direkt neben der Utopie von der »frohen Zukunft«.
Seit Mitte der 50er Jahre war Müller mit Inge Schwenkner verheiratet, die als Dichterin Inge Müller heute gerade wiederentdeckt wird. Heiner Müller ist der falsche Mann für die psychisch labile Frau, die mit seinen Zynismen (und der ernüchternden DDR-Wirklichkeit) schwer umgehen kann. Heiner Müller wird jetzt erfolgreich, bekommt Preise, ist Dramaturg am Gorki-Theater. 1961 kommt es zum großen Zusammenstoß mit der Staatsmacht. Seit »Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande« (Regie: B.K. Tragelehn) gilt Müller als Staatsfeind, der der Macht Sorgen bereitet, weil er sich nicht abschieben lässt und - auf seine Art - diese DDR liebt. Ein Zeugnis jener unglücklichen Zweierbeziehung ist »Krieg ohne Schlacht«, dieses wunderbar unideologische Buch, das man immer dann lesen sollte, wenn man gerade dabei ist zu vergessen, welches Kleid der DDR-Alltag trug. Grau? Sicher, aber wie leuchtend in den verborgenen Falten!
1966 nahm sich Inge Müller, lange schon an Depressionen leidend, das Leben. Seit 1970 war Müller mit der bulgarischen Regisseurin Ginka Tscholakowa verheiratet. Müller und die Frauen, ein noch zu schreibender Endlosroman! Vieles davon kann man nachlesen in der guten Biographie von Jan-Christoph Hauschild »Heiner Müller oder Das Prinzip Zweifel«. Hier erfahren wir etwas vom geistigen Dynamit, das diese Flakhelfergeneration in sich birgt, die eine Generation der vom Nationalsozialismus zum Sozialismus Bekehrten war, mit allem Eifer und allem latenten oder offenen Selbsthass der Konvertiten. Hauschild zitiert Wolf Biermann: »Der wirkliche Antipode von Müller war nicht die Parteiführung in all ihrer Dummheit und Brutalität, sondern die parfümierte Literatenleiche Hacks. Konkurrenten waren sie allemal, beide wollten Theater beliefern mit Stücken, beide wollten gespielt werden, beide maßen sich an Brecht. Jeder Maulwurfshügel misst sich am Matterhorn.« Biermann vergaß nur, sich selbst dazu zu zählen - und dass er die letzten Sätze von Hacks geklaut hatte, der das (wichtige) Buch »Von Sophokles zu Sartre« von Käte Hamburger auf die Formel brachte: »Vom Montblanc zum Maulwurfshügel«. Zählt man Wolfgang Harich noch dazu, dann hat man die ganze - heillos zerstrittene aber zeitweise höchst produktive - Szene derer, die Friedrich Dieckmann einmal »Opponenten der Opposition« genannt hatte.
Was nimmt Müller eigentlich von Brecht? Die Gewissheit, dass Theater zur »wissenschaftlichen Herstellung von Skandalen« da sei. (Man beachte die Heimtücke im Wort wissenschaftlich.) Und die Gewissheit, dass Brecht immer dann groß war, wo er ganz Spieler blieb, was hier nur ein anderes Wort für eine Dialektik ohne Dogma ist. 1970 wird Müller Dramaturg am Berliner Ensemble. Manfred Wekwerth, so Müller in »Krieg ohne Schlacht«, wollte die Weigel stürzen, aber stürzte darüber selbst und erhielt Hausverbot. Unter Ruth Berghaus hatte nicht nur Müller, sondern auch das Berliner Ensemble seine beste Zeit. Der Brecht-Erbin Barbara Schall gefiel das nicht, sie wollte Ekkehard Schall zum Intendanten, was Hager aber entschieden zuviel Macht bei der Brechtfamilie war. Der Kompromiss hieß: Wekwerth. So erinnert es Müller. 1977 verließ er das Brecht-Theater und urteilt: »Bei Wekwerth wurde es ein geschlossener Raum, in dem Kirchengeschichte stattfand.«
Müllers große Liebe: das Theater. Wie jede Liebe, die wirklich groß ist, enthielt sie ihm die letzten Erfüllungen vor. Als Dramaturg an der Volksbühne inszenierte er 1982 »Macbeth« - und entdeckte dabei Ulrich Mühe. In der Wendezeit Regisseur am Deutschen Theater (1988 inszenierte er dort »Der Lohndrücker«), setzte er gegen die schnelle politische Vereinigung einen Anachronismus: siebeneinhalb Stunden »Hamlet/ Hamletmaschine«. Das schrieb Theatergeschichte, war aber kein Publikumserfolg. Müller, der große Whiskey-Trinker und Zigarrenraucher war ausgepfiffener Redner am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz, als er einen Zettel verlas, den ihm andere in die Hand gedrückt hatten: einen Aufruf zur Bildung unabhängiger Gewerkschaften. Müller fand beides in Ordnung. Den Aufruf und dass ihn die Masse auspfiff. Was sollte die Masse mit einem Intellektuellen, der ihr sagt, was sie nicht hören will, auch sonst tun? (Pfeifen liegt immerhin eine ganze Kulturstufe über Lynchen.)
Müller war fast immer der richtige Mann am falschen Ort zur falschen Stunde. Als letzter Präsident der Akademie der Künste (Ost) aber war er ein würdiger Glücksfall. Der Provokateur als Moderator, der seine zahlreichen Verletzungen nicht mit kleinlichen Abrechnungen zu kompensieren versuchte. Der viel zu viel Freude an den Absurditäten des Lebens hatte, um sie moralisierend abzuurteilen, wenn sie ihn selbst betrafen. 1992 eine letzte neue Ehe mit der Fotografin Brigitte Maria Mayer und die Geburt seiner Tochter Anna. Sein Leben sieht nach lauter hektischen Fluchten aus und ist doch ein großes Beharren. Der Mut zum Abseits. Als Lyriker (Werke Bd.1, Suhrkamp Verlag, Hg. Frank Hörnigk) wird man ihn erst noch entdecken. Über deutsche Nachkriegsgeschichte sprach er mit Alexander Kluge, ohne das verbreitete Ritual, sich selbst zuvor zum Opfer zu erklären. Seltenes Schauspiel zweier freier Geister in diesem Land.
Am 30.12. 1995 starb er an den Folgen seines Speiseröhrenkrebses. Sein Bild ist mir heute ebenso gegenwärtig wie seine rauchige, sich ewig räuspernde Stimme. Immer, wenn jemand besonders dumm moralisierend daher kommt, frage i...
Einer aus der Flakhelfergeneration. Die Eltern, SPD (Mutter) und Sozialistische Arbeiterpartei (Vater). Der Vater kommt wiederholt kurzzeitig ins KZ und ins Gefängnis. Das Gymnasium in Waren wird 1944 geschlossen, Reichsarbeitsdienst. Nach dem Krieg - ebenfalls nur kurz - in amerikanischer Kriegsgefangenschaft. Mitarbeiter im Landratsamt Waren und Beendigung der Schule. Heiratet 1950 seine Mitschülerin Rosemarie Fritzsche und nimmt an einem Schriftstellerlehrgang in Bad Saarow teil. Erfolglos bemüht er sich um die Mitarbeit am Berliner Ensemble, schreibt für den »Sonntag« und »Neue Deutsche Literatur«. Hier im Heft 1/1956 lesen wir Müllers Erzählung »Das Eiserne Kreuz« (hinter einem Beitrag von Peter Huchel und vor zwei Texten von Franz Fühmann und Rüdiger Syberberg - das war sie, die bis heute gesamtdeutsch so verkannte große Bühne bester deutscher Literatur in dieser Zeitschrift, gerade im ersten Jahrzehnt). Eine deutsche Parabel vom Kriegsende, das kein wirkliches Ende des Krieges war. Hier haben wir schon den ganzen Heiner Müller, in seiner rigoros-lapidaren Abgründigkeit. Die bündige Fabel: Ein fanatischer Nazi erschießt im April 1945 vor der heranrückenden Roten Armee seine Frau und Tochter. Es gibt kein Leben nach der Niederlage, hatte die Nazi-Propaganda verkündet. Als er aber die Pistole auch an den eigenen Kopf gesetzt hat, zögert er, wirft sie dann fort und läuft davon. Er lebt heute mitten unter uns. Er ist ein Deutscher, der nun der neuen Propaganda folgt - der lästigen Zeugen seines früheren Lebens entledigt. Dieser wie unbeteiligt und kühl wirkende Zeuge unter Deutschen wollte Müller sein. Sie haben ihm sein nietzscheanisches »Pathos der Distanz« oft verübelt. Dieser notorische Geschichtenerzähler wusste: die Geschichte ist einem großen Schlachthaus ähnlicher als einem gemütlichen Literaten-Café. Dass das eine das andere nicht verhindern kann, das war ihm zeitlebens das größte Faszinosum. Die Neu-Gier des Künstlers kommt aus der Zugleich-Existenz des Unvereinbaren. Etwa: Geist und Trieb. Oder: Barbarei und Fortschritt. Im Gespräch mit Alexander Kluge (»Ich schulde der Welt einen Toten«) sagt Müller: »Gier ist etwas Positives in der Kunst, geradezu eine Voraussetzung für Kunst.« Der Ort, wo diese Gier reflexiv wird, ohne Papier zu sein: das Theater. In diesem Sinne wird ihm das Theater zum Ort der Geschichtsschreibung.
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FREMDER BLICK:
ABSCHIED VON BERLIN
Aus meiner Zelle vor dem leeren Blatt
Im Kopf ein Drama für kein Publikum
Taub sind die Sieger die Besiegten stumm
Ein fremder Blick auf eine fremde Stadt
Graugelb die Wolken ziehn am Fenster hin
Weißgrau die Tauben scheißen auf Berlin
14.12.1994
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Mit derartigen Ambitionen avancierte Müller in den sechziger Jahren folgerichtig zum Störfall der Politik. Das lag daran, dass er das Scheitern im Banalen zum Wesen der Politik erklärte. (Dass er, gerade er, 1989 von der untergehenden DDR noch den Nationalpreis bekam, und sogar »Erster Klasse«, ist eine tiefe Ironie des Weltgeistes.) Und noch etwas war unannehmbar (und dürfte es heute unter braven Linken immer noch sein): sein fatalistisches Bild vom Intellektuellen, flankiert von Ernst Jüngers »Ästhetik des Schreckens«. Schock durch Bilder, nicht Belehrung mittels Kommentar. Heidegger als missglückter »Prinzenerzieher Hitlers«, so Müller, das sei symptomatisch für die Misere der deutschen Intellektuellen, auch die in der DDR. Immer, wenn sie sich außerhalb ihres eigenen Gebietes stellen, scheitern sie kläglich, weil sie vergessen haben, dass ihre Macht nur eine eingebildete ist. So etwas zu hören, schmerzt. Genau das soll es auch, denn wozu es sonst überhaupt sagen. Rilke schrieb, nichts meine ein Gedicht weniger als in dem Leser den möglichen Dichter anzuregen. Gottfried Benn zitiert das genussvoll in seinem Aufsatz: »Soll die Dichtung das Leben bessern?« Ich weiß nicht, ob Müller diesen Text überhaupt je gelesen hat, aber er hätte ihn genauso schreiben können. Immer steht die Frage am Pranger, immer liegt die Beweislast bei dem, der verändert. Das ist angesichts des existenten Unrechts höchst ungerecht, aber genauso unvermeidlich. Müller will nicht anregen, eher Geschichte schockgefrieren. Der Geschichtsforscher als Pathologe? Natürlich produziert er dabei doch Hitze. Er war - auch das ein Paradox - der intellektuelle Anreger schlechthin für eine ganze 80er-Jahre-Generation - ausgenommen immer die, die sich durch nichts anregen lassen. Immer ist es die eine Frage, ob man den Riss spürt. Den, der durch die Zeit geht - und dann durch einen selbst.Darum das zentrale Thema: Hamlet/Hamletmaschine.
Was von Müller zu lernen war (ist): Zweifel, Immoralismus, Chaos. Hat, wer die nicht in sich trägt, denn überhaupt etwas zu sagen? Fragen sind nicht echt, wenn man die Antworten schon zu wissen meint. Das mündet dann in die Dummheit geschlossener Weltbilder. Und deren erbitterter Feind war Müller, notfalls bis zum sprachlichen Exzess gehend. Dabei hat gerade Müller den Traum vom Kommunismus sehr intensiv geträumt - ohne sich davon dumm machen zu lassen. Die Anti-Utopie steht bei ihm direkt neben der Utopie von der »frohen Zukunft«.
Seit Mitte der 50er Jahre war Müller mit Inge Schwenkner verheiratet, die als Dichterin Inge Müller heute gerade wiederentdeckt wird. Heiner Müller ist der falsche Mann für die psychisch labile Frau, die mit seinen Zynismen (und der ernüchternden DDR-Wirklichkeit) schwer umgehen kann. Heiner Müller wird jetzt erfolgreich, bekommt Preise, ist Dramaturg am Gorki-Theater. 1961 kommt es zum großen Zusammenstoß mit der Staatsmacht. Seit »Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande« (Regie: B.K. Tragelehn) gilt Müller als Staatsfeind, der der Macht Sorgen bereitet, weil er sich nicht abschieben lässt und - auf seine Art - diese DDR liebt. Ein Zeugnis jener unglücklichen Zweierbeziehung ist »Krieg ohne Schlacht«, dieses wunderbar unideologische Buch, das man immer dann lesen sollte, wenn man gerade dabei ist zu vergessen, welches Kleid der DDR-Alltag trug. Grau? Sicher, aber wie leuchtend in den verborgenen Falten!
1966 nahm sich Inge Müller, lange schon an Depressionen leidend, das Leben. Seit 1970 war Müller mit der bulgarischen Regisseurin Ginka Tscholakowa verheiratet. Müller und die Frauen, ein noch zu schreibender Endlosroman! Vieles davon kann man nachlesen in der guten Biographie von Jan-Christoph Hauschild »Heiner Müller oder Das Prinzip Zweifel«. Hier erfahren wir etwas vom geistigen Dynamit, das diese Flakhelfergeneration in sich birgt, die eine Generation der vom Nationalsozialismus zum Sozialismus Bekehrten war, mit allem Eifer und allem latenten oder offenen Selbsthass der Konvertiten. Hauschild zitiert Wolf Biermann: »Der wirkliche Antipode von Müller war nicht die Parteiführung in all ihrer Dummheit und Brutalität, sondern die parfümierte Literatenleiche Hacks. Konkurrenten waren sie allemal, beide wollten Theater beliefern mit Stücken, beide wollten gespielt werden, beide maßen sich an Brecht. Jeder Maulwurfshügel misst sich am Matterhorn.« Biermann vergaß nur, sich selbst dazu zu zählen - und dass er die letzten Sätze von Hacks geklaut hatte, der das (wichtige) Buch »Von Sophokles zu Sartre« von Käte Hamburger auf die Formel brachte: »Vom Montblanc zum Maulwurfshügel«. Zählt man Wolfgang Harich noch dazu, dann hat man die ganze - heillos zerstrittene aber zeitweise höchst produktive - Szene derer, die Friedrich Dieckmann einmal »Opponenten der Opposition« genannt hatte.
Was nimmt Müller eigentlich von Brecht? Die Gewissheit, dass Theater zur »wissenschaftlichen Herstellung von Skandalen« da sei. (Man beachte die Heimtücke im Wort wissenschaftlich.) Und die Gewissheit, dass Brecht immer dann groß war, wo er ganz Spieler blieb, was hier nur ein anderes Wort für eine Dialektik ohne Dogma ist. 1970 wird Müller Dramaturg am Berliner Ensemble. Manfred Wekwerth, so Müller in »Krieg ohne Schlacht«, wollte die Weigel stürzen, aber stürzte darüber selbst und erhielt Hausverbot. Unter Ruth Berghaus hatte nicht nur Müller, sondern auch das Berliner Ensemble seine beste Zeit. Der Brecht-Erbin Barbara Schall gefiel das nicht, sie wollte Ekkehard Schall zum Intendanten, was Hager aber entschieden zuviel Macht bei der Brechtfamilie war. Der Kompromiss hieß: Wekwerth. So erinnert es Müller. 1977 verließ er das Brecht-Theater und urteilt: »Bei Wekwerth wurde es ein geschlossener Raum, in dem Kirchengeschichte stattfand.«
Müllers große Liebe: das Theater. Wie jede Liebe, die wirklich groß ist, enthielt sie ihm die letzten Erfüllungen vor. Als Dramaturg an der Volksbühne inszenierte er 1982 »Macbeth« - und entdeckte dabei Ulrich Mühe. In der Wendezeit Regisseur am Deutschen Theater (1988 inszenierte er dort »Der Lohndrücker«), setzte er gegen die schnelle politische Vereinigung einen Anachronismus: siebeneinhalb Stunden »Hamlet/ Hamletmaschine«. Das schrieb Theatergeschichte, war aber kein Publikumserfolg. Müller, der große Whiskey-Trinker und Zigarrenraucher war ausgepfiffener Redner am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz, als er einen Zettel verlas, den ihm andere in die Hand gedrückt hatten: einen Aufruf zur Bildung unabhängiger Gewerkschaften. Müller fand beides in Ordnung. Den Aufruf und dass ihn die Masse auspfiff. Was sollte die Masse mit einem Intellektuellen, der ihr sagt, was sie nicht hören will, auch sonst tun? (Pfeifen liegt immerhin eine ganze Kulturstufe über Lynchen.)
Müller war fast immer der richtige Mann am falschen Ort zur falschen Stunde. Als letzter Präsident der Akademie der Künste (Ost) aber war er ein würdiger Glücksfall. Der Provokateur als Moderator, der seine zahlreichen Verletzungen nicht mit kleinlichen Abrechnungen zu kompensieren versuchte. Der viel zu viel Freude an den Absurditäten des Lebens hatte, um sie moralisierend abzuurteilen, wenn sie ihn selbst betrafen. 1992 eine letzte neue Ehe mit der Fotografin Brigitte Maria Mayer und die Geburt seiner Tochter Anna. Sein Leben sieht nach lauter hektischen Fluchten aus und ist doch ein großes Beharren. Der Mut zum Abseits. Als Lyriker (Werke Bd.1, Suhrkamp Verlag, Hg. Frank Hörnigk) wird man ihn erst noch entdecken. Über deutsche Nachkriegsgeschichte sprach er mit Alexander Kluge, ohne das verbreitete Ritual, sich selbst zuvor zum Opfer zu erklären. Seltenes Schauspiel zweier freier Geister in diesem Land.
Am 30.12. 1995 starb er an den Folgen seines Speiseröhrenkrebses. Sein Bild ist mir heute ebenso gegenwärtig wie seine rauchige, sich ewig räuspernde Stimme. Immer, wenn jemand besonders dumm moralisierend daher kommt, frage i...
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