Günaydin und Schläge

Türkischer Ministerpräsident besuchte Kreuzberg

  • Andreas Fritsche und Peter Kirschey
  • Lesedauer: 3 Min.
Ein halbes Dutzend Männer steht vor dem geschlossenen Café eines Fanclubs der Fußballmannschaft Türkspor in der Manteuffelstraße. Als der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan kurz vor 13 Uhr das Eckhaus Paul-Lincke-Ufer 37 durch den Seiteneingang verlässt, heben sie die Arme in die Luft und klatschen. Im selben Moment stürzen drei Frauen und ein Mann vor. Sie skandieren Losungen und versuchen, ein rotes Transparent zu entrollen. Es sind Leute vom Tayad-Komitee. Es setzt sich für politische Gefangene in der Türkei ein und steht am Halleschen Tor im Hungerstreik. Die Polizei zerrt die Aktivisten weg, aber diese stemmen sich dagegen. Drei werden von den Beamten auf den Boden gedrückt. Eine schwarzhaarige Frau (siehe Foto) bleibt stehen und ruft weiter. Schließlich reißt ein Polizist sie mit Schwung um und kniet sich auf ihren Rücken. Ein Passant will beobachtet haben, wie der Beamte mit der Faust zuschlug. Der Frau tropft Blut aus Nase und Mund auf das Straßenpflaster. Ihr Blick ist verschleiert, der Kopf kippt vornüber. Drei Stunden zuvor hatte es an dieser Straßenecke nur freundliche Gesichter gegeben. Gegen 10 Uhr begrüßen Vertreter der Europäischen Akademie Berlin und des Türkischen Unternehmerverbandes TÜSIAD Journalisten, Geschäftsleute und Politiker wahlweise mit »Günaydin« und »Guten Morgen«. In der mit antiken Möbeln und moderner Kunst eingerichteten Wohnung des Bankiers Peter-Jörg Klein drängeln sich die Gäste. Klein ist Vorstandschef der Europäischen Akademie, die im Grunewald sitzt. Erdogan sollte jedoch in Kreuzberg empfangen werden, just in der Gegend, in der so viele Türken leben, übrigens auch am Paul-Lincke-Ufer 37. Von Kleins großzügiger Dachwohnung fällt der Blick auf Läden wie »Lale Döner« am Maybachufer. Als der Regierungschef endlich eintrifft, stürmen Kameraleute und Fotografen geradezu die Sitzgruppe, auf der Erdogan Platz nimmt. Wer ist dieser Mann, um den sich die Medien reißen? Recep Tayyip Erdogan kam 1954 als Sohn eines Seemanns im Istanbuler Armenviertel Kasimpasa zur Welt. Er mischte zunächst bei der rechtsgerichteten pro-islamischen Nationalen Heilspartei mit. 1994 übernahm er für die fundamentalistische Wohlfahrtspartei das Amt des Istanbuler Oberbürgermeisters. Seine Vision einer »sauberen Bosporus-Metropole«: keine Bordelle, extra Badestrände für Frauen und getrennte Schulbusse für Jungen und Mädchen. Heute gehört Erdogan der allein regierenden Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) an. Am 15. März 2003 kürte ihn das Parlament zum Ministerpräsidenten. Vorher musste ein Politikverbot kassiert werden, das Erdogan einst im Zusammenhang mit einer Haftstrafe erhielt, als er einen Dichter zitierte: »Die Minarette sind unsere Bajonette.« Inzwischen will Erdogan sein Land in die EU führen. »Wir wollen zur Familie Europa gehören«, erklärt der Premier am Paul-Lincke-Ufer. Darum verbürgt er sich für Meinungs- und Religionsfreiheit- gebetsmühlenartig. Der kurdische PDS-Abgeordnete Giyasettin Sayan erkennt an, dass Erdogan die Todesstrafe aussetzte und kurdische Sprachkurse erlaubte, wenngleich die Bürokratie letzteres noch vielerorts blockiere. Berliner mit türkischer Staatsbürgerschaft wünschten sich die Briefwahl, damit sie zur Abstimmung nicht mehr an die Landesgrenze reisen müssen. »Erdogan sagt ständig, dass er sich geändert hat. Ich habe da meine Zweifel«, meint Sayans türkischstämmiger Parlamentskollege Özcan Mutlu (Grüne). Die Berliner Türken freuten sich sicherlich, dass erstmals ein türkischer Regierungschef Kreuzberg besucht. »Euphorie« gebe es deswegen aber nicht. Bei den rund 126000 türkischen Berlinern wurde der Blitzbesuch des türkischen Ministerpräsidenten kaum registriert. Die gläubigen Moslems zogen pünktlich um 12 Uhr in die Sehitlik-Moschee am Columbiadamm zu ihrem Mittagsgebet, die türkische Botschaft an der Jannowitzbrücke lag im Winterschlaf und Türken in den Dönerläden rund um das Hallesche Tor wussten gar nichts von der Visite. Auch auf dem »Türkenmarkt« am Maybachufer war kein Platz für Politik.

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