Wehe über die Juden, so da festhalten an ihrem Judentum und wollen über unser Volkstum und Deutschtum spotten und schmähen!« riefen die deutschen Studenten, die im Oktober 1817 der Bücherverbrennung am Rande des Wartburgfestes beiwohnten. Nicht nur restaurative, sondern auch Schriften aus dem Kontext der Aufklärung gingen in Flammen auf. Darunter die »Germanomanie«, eine Polemik gegen die aufkommende »Deutschtümelei« aus der Feder des Berliner Buchhändlers, Philosophiedoktoren und Aufklärungsschriftstellers Saul Ascher. Der Ausgelöschte wehrte sich: »So verbrannten sie z.B. die Schrift: die Germanomanie; etwa weil ich darin behauptet, daß jeder Mensch ebenso organisiert wie der Deutsche ist; daß das Christentum keine deutsche Religion ist, dass Deutschland nicht vorzugsweise den Urdeutschen zum Wohnsitz, und der Schöpfer einem Jeden, der da thut was Recht ist vor Gott und Menschen ein Fortkommen darin nicht versagt hat?«
Saul Aschers (1767-1822) Stellenwert für die deutsche Geistesgeschichte besteht zum einen darin, dass er - anders als noch Moses Mendelssohn - als erster jüdischer Philosoph für eine radikale Reform der jüdischen Religion eintrat, die er in einer mit »Leviathan oder über Religion in Rücksicht des Judenthums« betitelten Schrift letztlich nicht auf göttliche Fügung, sondern mit Kant auf die Mündigkeit der Menschen zurückführte. Aus heutiger Sicht ist Ascher aber vor allem als scharfzüngiger deutschsprachiger Gegner des Antijudaismus und Antisemitismus im 19. Jahrhundert interessant. 150 Jahre irrte Ascher als Prügelknabe der deutschen Geistesgeschichte über die Buchseiten. Obwohl er nicht eigens erwähnt wird, entzündete sich zum Beispiel der von dem Historiker Heinrich von Treitschke (»Die Juden sind unser Unglück«) um 1880 forcierte »Berliner Antisemitismusstreit« auch an seiner Person. Insbesondere seine Kritik an der Romantik wurde ihm nie verziehen. Zu dieser Abneigung gehörte auch, was Ascher in einem Artikel über die »Deutsch-Christliche Tischgesellschaft« geschrieben hatte, der Romantik-Protagonisten wie Clemens Brentano, Achim von Arnim oder Heinrich von Kleist angehörten: »Indeß enthalten ihre Statuten einige Curiosa, die über den Geist der zeitigen deutschen Kultur einige Winke zu geben vermögen. Eins ihrer Statute setzt nämlich fest, daß kein Jude, kein getaufter Jude und kein Nachkommen eines getauften Juden sogar, als Mitglied aufgenommen werden soll. Weiter kann doch wahrlich die Reinheit nicht getrieben werden!«
Böse schallte es noch lange zurück: »Ascher kennt nur den einen Wunsch, in hassender Feindschaft den und die Gegner zu vernichten. Er verhütet äußerlich, daß er als Jude erkannt werde, und spielt sich als Deutschen auf.« Diese Sätze des Kulturhistorikers Reinhold Steig wurden 1901 geschrieben, fast 80 Jahre nach seinem Tod. Ascher musste, je länger sein Ableben zurücklag, desto mehr als Stereotyp des aggressiven, des um- und aufrührenden Juden herhalten. Als besonders gefährlich galt er seinen Gegnern gerade wegen seiner Reformations- und Integrationsbestrebungen. Denn er verlangte nicht nur von den deutschen Juden den Abschied von Talmudismus und rabbinischen Traditionen, sondern auch von den deutschen Christen die Abkehr von antijüdischen Ressentiments und nationalem »Reinheitsstreben«. Bis 1940 tauchte Saul Ascher in Büchern über die »Judenfrage« als »freches jüdisches Element« auf. Danach begann das große Schweigen, das für ein breiteres deutsches Publikum erst 1991 endete, als Peter Hacks vier Ascher-Texte - darunter die »Germanomanie« und die »Wartburg-Feier« - neu herausgab. Eine Ascher-Monografie hat die deutsche Geistesgeschichte dagegen bis heute noch nicht zu Stande gebracht.
Die Gründe für diese lange Missachtung liegen einerseits in heutigen Befindlichkeiten - dem Bedürfnis etwa, auf den philosophisch-literarischen Kanon des 19. Jahrhunderts nichts kommen zu lassen. Andererseits liegen sie in der Geschichte. Noch heute ist unser Denken stark von den Strömungen des 19. Jahrhunderts geprägt. Und diese gedanklichen Vorräte wurden in einer Zeit angelegt, in der in Deutschland zwar die formale Emanzipation der Juden Fortschritte machte, aber dennoch immer wieder antisemitische Wellen auftraten, die das Jüdische aus der deutschen Kultur herausdefinierten. Diese Selbstamputation war umso folgenreicher durch den Umstand, dass der deutschsprachige Raum in der Neuzeit Spaniens Erbe als geistiges Zentrum des Diaspora-Judentums angetreten hatte.
Ascher ist nur einer von etwa 150 Denkern, die das im Metzler Verlag neu erschienene »Lexikon jüdischer Philosophen« vorstellt. Das Lexikon umfasst einen Zeitraum vom Beginn unserer Zeitrechnung bis fast zum heutigen Tag. Besonders interessant aber ist es für die Zeit des späten 18. und des 19. Jahrhunderts. Da die Herausgeber Andreas B. Kilcher und Otfried Fraisse sowohl von »jüdisch« als auch von »Philosoph« eine breite Definition verwendet haben, finden sich auf den 480 Seiten gerade auch die »Reformjuden« des vorvergangenen Jahrhunderts, die nicht nur im deutschen geistesgeschichtlichen Kanon, sondern auch in enger auf das religiös Jüdische zugeschnittenen Überblicken fehlen - etwa in Heinrich und Marie Simons »Geschichte der jüdischen Philosophie« (1999). Da ist zum Beispiel Isaak Markus Jost, der sich in den 1830ern an einer »Universal-Kirchenzeitung für die Geistlichkeit und gebildete Weltklasse des protestantischen, katholischen und israelitischen Deutschland« versuchte. Oder Salomon Maimon (1753-1800), der sich als erster europäischer Jude zu einer nicht-religiösen jüdischen Identität bekannte. Andere, wie etwa Lazarus Bendavid (1762-1832), wollten zwar auch die Reform, äußerten aber Verständnis für den jüdischen Traditionalismus als Reaktion auf eine immer wieder feindliche Umwelt. Und wer kennt heute noch den jüdischen Historiker Heinrich Graetz (1817-1891), der seinerzeit als Anlass des »Antisemitismusstreits« herhalten musste? Vor allem wegen dieser über dem weiteren unheilvollen Verlauf der deutsch-jüdischen Geschichte weitgehend vergessenen jüdischen Philosophen des 19. Jahrhunderts lohnt das neue Lexikon. Denn wenn Deutschland, wie mittlerweile allerorten zu hören ist, nach 1989 eine »neue Identität« braucht, sollte es an seinen als Juden exkommunizierten Denkern nicht noch einmal vorbeigehen.
Figuren wie Hannah Ahrendt, Walter Benjamin, Max Horkheimer oder Ernst Bloch sind dagegen auch ohne ein neues Lexikon präsent genug. Überflüssig sind die Artikel über sie trotzdem nicht. Sie versuchen, speziell die Verbindung dieser Philosophen zum Judentum herauszuarbeiten. Karl Marx dagegen fehlt - vielleicht hätte er den Rahmen des Lexikons, aus dem man auch zwei oder drei Bände hätte machen können, einfach gesprengt.
Andreas B. Kilcher / Otfried Fraisse (Hg.): Lexikon Jüdischer Philosophen, Stuttgart 2003 (Metzler), 476 Seiten, 65 EUR.
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