Im Hauptquartier von Al-Sadr
Die heilige Stadt Nadschaf ist der Ausgangspunkt der schiitischen Demonstrationen für freie Wahlen
Sorgen des Bäckers Ali Hussein
Hinter der Geschäftsfront ein Labyrinth aus Gassen und Treppen. Dort gibt es neben schiefen Steinhäusern und kleinen Geschäften auch Hotels und Werkstätten. Es wird viel gebaut. In einer solchen Seitengasse hat Suphei Ali Hussein seine Bäckerei, in die man einige Stufen hinunter steigen muss. Seit 30 Jahren habe er diese Bäckerei, sagt Ali Hussein lächelnd, lesen und schreiben hat er nie gelernt.
Während Ali Hussein erzählt, schlagen seine Hände unermüdlich die Teigkugeln zu tellergroßen Fladen, die blitzschnell an den inneren Rand des heißen Ofens geworfen werden. Nur wenige Sekunden, dann zieht er mit einer Kelle die gebackenen Brote, Chubus genannt, hervor und schleudert sie in eine Steinwanne unter der Verkaufstheke.
Das Leben sei durcheinander heute, entgegnet er auf die Frage, wie es ihm gehe. Eine achtköpfige Familie hat er zu ernähren und alles sei teurer geworden, sogar das Brot. Früher habe er für 250 Irakische Dinar zehn Brote verkauft, heute nur noch sechs. An einem Arbeitstag von bis zu 11 Stunden backe er 500 bis 600 Brote, Helfer hat er nicht. Seine Informationen bezieht Ali Hussein von den arabischen Satellitensendern »Al Dschasira« und »Al Arabija«, und manchmal liest ihm seine Tochter aus der Zeitung vor. »Sie ist Lehrerin«, erzählt er stolz.
Nahe des Haupteingangs der Imam-Ali-Moschee haben sich viele Gläubige vor der Mauer versammelt, an der noch die Spuren des schweren Bombenanschlags zu sehen sind, dem Ende August 80 Menschen zum Opfer fielen. Bilder des prominenten Ayatollah Mohammed Bakr al-Hakim, langjähriger Vorsitzender des Obersten Rates der Islamischen Revolution in Irak (SCIRI), hängen an der Wand. Auch er war damals unter den Opfern. Nur wenige Schritte entfernt führt eine enge Gasse mit kleinen Bücherstuben in die verwinkelte Altstadt. Hier herrscht emsiges Treiben. Die Auslagen bieten jede Art von religiösen Schriften an, Jahreskalender und Hochglanzposter liegen neben Tageszeitungen, CDs und Kassetten mit Reden der schiitischen Gelehrten.
Hier ist das Nadschafer »Hauptquartier« des jungen Schiitenführers Muktada al-Sadr, um den es eine Zeit lang auffällig still geworden war. Während Großayatollah Ali Sistani die schiitische Kraft wohl dosiert und medienwirksam als Druckmittel gegen die Pläne der USA-geführten Besatzungsverwaltung in Irak (CPA) einsetzt, die den Irakern zum 1. Juli wiederum eine ernannte und nicht gewählte Übergangsregierung verpassen wollen, hüllte sich Muktada al-Sadr lange in Schweigen - bis er gestern in Bagdad ebenfalls zur Demonstration für baldige freie Wahlen aufrief.
Vor der schmalen Tür zu seinem Büro stehen junge Männer Schlange. »Stecken Sie Ihr Haar richtig unter das Kopftuch«, mahnt der Wächter am Tor. Dann heißt es erst mal warten. Kommen und Gehen, unzählige Male öffnet und schließt sich die Tür, bevor der Bürochef endlich bitten lässt.
Offenbar ist Frauenbesuch in diesem Büro nicht vorgesehen, das Gespräch findet in einer kleinen Kammer statt, die voll gestopft ist mit Papierkartons, zwei Kopiergeräten, zwei nagelneuen Computern und Videokameras. Da es nicht genügend Stühle gibt, werden Kartons gestapelt, auf denen es sich Büroleiter Said Mustafa bequem macht. Scheich Muktada gebe derzeit überhaupt keine Interviews, sagt der Büroleiter. Ihm gehe es nicht darum, ständig im Rampenlicht der Öffentlichkeit zu stehen und Ruhm einzuheimsen, er wolle auf andere Weise an der Seite der Iraker für ihre Rechte streiten. Seine Meinung sei im übrigen jeden Freitag in der Moschee von Kufa zu erfahren.
»Sie brauchen nur Holz, einen Hammer und Nägel«
Die Forderung nach landesweiten Wahlen habe Scheich Muktada schon von Anfang an erhoben, erläutert Said Mustafa die Position seiner Organisation, die er selber als Strömung innerhalb der schiitischen Glaubensschulen einordnen will. »Alle Iraker wollen Wahlen.« Der Provisorische Regierungsrat sei nicht vom irakischen Volk autorisiert, sondern von den Amerikanern eingesetzt worden.
Warum sollten Wahlen nicht durchführbar sein, fragt er gereizt. »Sie brauchen nur Holz, einen Hammer und Nägel, und schon ist die Wahlurne fertig«, sagt er spöttisch. Sogar Saddam Hussein habe das geschafft. Ernst fügt er dann hinzu, dass alle Iraker durch die Verteilung der Lebensmittelkarten erfasst seien, und Iraker im Ausland könnten sich bei den Botschaften registrieren lassen. Technische Probleme seien nur ein Vorwand, die Wahlen immer weiter hinauszuschieben. Die Rückkehr der Vereinten Nationen würde er begrüßen, doch müssten sie dann auch über ausreichende Macht verfügen. »Sie dürfen nicht von den USA dominiert werden.« Sollte Bush nicht einlenken und die Iraker ihre eigene Regierung wählen lassen, werde er den Druck schon noch zu spüren kriegen. Bisher seien die Demonstrationen friedlich gewesen. Ob
die von Muktada al-Sadr aufgestellte Mehdi-Miliz gegen die Besatzungsarmee auch zu den Waffen greifen würde? »Die Mehdi-Armee ist nicht für Kämpfe vorgesehen«, sagt Said Mustafa. Sie habe ausschließlich ordnende Funktion und helfe den Menschen im Alltag. »Eigentlich sind sie wie die japanischen Soldaten, die jetzt nach Irak kommen. Die leisten humanitäre Hilfe und unterstützen den Wiederaufbau.« Aber man wisse nicht, wie lange die Geduld der Iraker noch reichen werde. »Sie haben viel gelitten und waren immer geduldig, doch es gibt keine sichtbaren Erfolge.« Und man wisse nie, ob den Menschen nicht eines Tages der Geduldsfaden reißt. Vier führende Scheichs seien seit vier Monaten in Haft, berichtet Said Mustafa bitter. »Inzwischen wissen wir wenigstens, wo sie sind, in Abu Ghraib, das Gefängnis kenne man ja noch aus der Zeit von Saddam Hussein. Immerhin konnten die Eltern sie schon einmal besuchen.« Eine Anklage aber gibt es bis heute nicht.
Der Großayatollah empfängt nicht
Folgt man der Gasse weiter in dass Innere des Häuserlabyrinths, gelangt man schließlich zum Stiftungsdomizil von Großayatollah Ali Sistani, der die Kampagne gegen die US-Amerikaner losgetreten hat. Der Zugang ist mit Absperrgittern verstellt, aus Sicherheitsgründen. Ein bewaffneter Wächter achtet darauf, dass kein Unbefugter dort hindurch kommt. Für die Presse sei niemand zu sprechen, sagt der junge Mann und lässt sein Mobiltelefon von einer Hand in die andere gleiten, die Kalaschnikow hängt locker über seiner Schulter. Als zwei Scheichs die Gasse herunter kommen flüstert er, die beiden seien aus der Stiftung, vielleicht sollte man sie einfach mal ansprechen?
»Nein«, wehrt einer der beiden Scheichs gestenreich ab, »mit Journalisten haben wir schlechte Erfahrungen gemacht. Sie schreiben, was sie wollen oder was ihre Auftraggeber wollen.« Da gebe es keinen Unterschied zwischen arabischen und ausländischen Journalisten, fügt er hinzu. Wer Fragen habe, könne sie per E-Mail schicken, dann werde entschieden, ob sie beantwortet werden. Immerhin erhalte ich eine Botschaft des Großayatollahs per Plakat an einer Säule nahe seinem Domizil: »Wahlen sind die Türen zur Demokratie, ein fundamentales Element für den Erfolg der Freiheit für alle Menschen auf der Welt«.
Anders als die Scheichs nehmen die einfachen Leute von Nadschaf Journalisten gegenüber kein Blatt vor den Mund. Auch Meinungsverschiedenheiten bleiben nicht verborgen. »Ich wünsche mir freie Wahlen und eine islamische Regierung«, sagt Kudhem Juat (32), der von einem Karren Ringe und farbige Gebetsketten verkauft. Sein Freund, der Lehrer Abdul Emir Menem (56), widerspricht. »Nein, wir brauchen keine islamische Regierung, sondern eine Demokratie«, sagt er mit Nachdruck. »Wer wirklich Muslim ist, kann das auch unter einer demokratischen Regierung sein.«
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