Vierzig Jahre und ein bißchen weise
Künstler ziehen im Rathaus Schöneberg Bilanz über ihre Jahrzehnte Welterfahrung
Die „Argo 1994“ ist direkt vor einem gestrandet, wenn man die lichtdurchflutete Ausstellungshalle im Rathaus Schöneberg betritt. Ob als Schiffswrack, Flugobjekt oder Phantasieruine interpretiert, besticht das meterlange wellenförmige Konstrukt aus Metall und Seidenpapier durch seine marode Schönheit. Der Apparat ist allerdings auch keine Zeitmaschine. Damit hätte die Künstlerin Annette Hilbrecht gegen die Spielregeln der Ausstellung verstoßen. Der Titel „40 Jahre sind genug. “ bezieht sich auf die vier Jahrzehnte Welterfahrung, auf die sechs Bildhauer und Maler zurückblicken können. Gemeinsam haben sie, alle Anfang 50, die Ausbildung an der Hochschule der Künste. Wie unterschiedlich sich eine Generation an einem Ort entwickeln kann, dafür wird der Beweis angetreten.
Da ist David Lee Thompson, der schrillste, originellste und auch aufregendste Kunstautor des Sextetts. Er, 1951 in Fargo, USA, geboren, bastelt aus unterschiedlichsten Materialien und Gegenständen skurrilkonstruktivistische Plastiken. Aus Telefonhörer, Granitquader, Wurzelwerk, Pumps und Lichtsirenen wachsen die einzelnen Fundstücke zu homogenen Kompositionen. Als seien es Wundermaschinen, die blinken und leuchten, verkörpern die mit viel Fingerspitzengefühl nach dem Baukastenprinzip zusammengesetzten Skulpturen eine sehr ernstzunehmende Form von Humor. Ironie ist hier mehr als ein Spiel - vielleicht sogar eine Philosophie des Überlebens. Geradezu konventionell nehmen sich dagegen die Bilder von Klaus Schweier aus. In pastellene Farbwolken sind figürliche Konturen geritzt: sie
erinnern an archaische Hieroglyphen. Das ist Kunst, die sagt, daß sie etwas verschweigt, und die so mythischen Freiraum schafft.
Eva Paul, 1951 in Radebeul geboren, zeigt ein in grünem Nebel waberndes Stadtbild in Öl. Im vergangenen Jahr experimentierte sie mit Live-Malerei zu einer Theateraufführung der Freien Oper Berlin. Über Overheadprojektion lieferte der Malprozeß das Bühnenbild. Die Resultate und ein Video dokumentieren diese Begegnung der Bildenden mit der Darstellenden Kunst.
Im Kontrast zu Pauls Risikolust steht Thomas Bortfeldt, der dritte Maler im 40er Gespann. Er bedient sich einer Mischtechnik auf Holz und bietet Präzision. Schwelgend in warmen, beige-braunen Tönen, läßt er mit der Variation von Rundformen an Virilio denken: „Der Kopf ist rund, da-
mit das Denken die Richtung wechseln kann.“
Ganz und gar kompromißlos kommen die aus rostigen Schrottstücken geschweißten Schwermetalle von Klaus Duschat daher. Seine „T-Finger“ sind pilzartig geformte, ins Überdimensionale vergrößerte Trompetentasten. In ihrer Rauhigkeit wirken sie wie Stolpersteine. Das mag aber auch am räumlichen Aufbau der Ausstellung liegen. Sechs Künstler, sechs Konzepte werden so chaotisch angeordnet präsentiert, daß ihr Zusammenhang nicht ersichtlich ist. Den muß sich der Besucher denken und also doch (gedanklich) die „Argo“ besteigen - zwecks einer Reise in die Innenwelten, die die Kunstwerke vermitteln.
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