Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran
Die SPD bleibt bei ihrer Politik - sorgt sich im Wahljahr aber um deren Wirkung
Angesichts historischer Tiefstände in der Beliebtheitsskala und des bevorstehenden Wahlmarathons 2004 sucht die SPD noch den richtigen Ton für die Musik kommender Reformvorhaben.
An diesen Satz wird sich Olaf Scholz noch eine Weile erinnern: »Wir sind bei allen Reformschritten des letzten Jahres so weit gegangen, dass wir der Meinung sind, wir haben das Notwendige getan.« Jene Passage aus einem Interview mit dem SPD-Generalsekretär gab einer öffentlichen Diskussion erst den richtigen Drall, in der der Eindruck erweckt wird, die SPD würde bei der Umsetzung ihres so genannten Reformprogrammes zaudern.Seither haben die sozialdemokratischen Öffentlichkeitsarbeiter alle Hände voll zu tun. »Die Reformen gehen weiter«, hatte nicht nur Regierungssprecher Hans Langguth dieser Tage immer wieder zu erklären. Und langsam muss man sich fragen, ob all die Zweifel, die Opposition, Wirtschaft und der grüne Koalitionspartner am SPD-Reformwillen hegen, nicht von Schröders Mannen gewollt waren.
Immerhin gibt die öffentliche Diskussion über das »Tempo« und den »Mut« bei der Durchsetzung der Agenda 2010 den in Bedrängnis geratenen Sozialdemokraten eher eine Chance, das eigene Bild aufzumöbeln, als jede Diskussion über die sozialpolitischen Folgen des eigenen Tuns.
Eine solche hat Schröder nach den Protesten im Herbst 2003 nicht auf die Tagesordnung gesetzt - und sie wird dort auch nach den angekündigten Aktionen im März und April keinen Platz finden. Als habe man sich den Refrain eines Songs der Punkband Fehlfarben zu Eigen gemacht: »Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran«.Und so scheint ein Einlenken auch angesichts der miesen Umfragewerte wenig wahrscheinlich. Reformstopp? Ach was. Schließlich ist »in den letzten 20 Jahren zu viel liegen geblieben«, gab Regierungssprecher Hans Langguth die Linie vor. Man wolle nun wieder »die Menschen mitnehmen« und gehe wie verabredet »den zweiten Schritt«. Denn zur Agenda 2010 gehört auch, »dass wir in Forschung, Bildung und Entwicklung investieren«.
Jener zweite Teil der Agenda war schon lange bekannt. Dass man damit ausgerechnet zu Jahresanfang beginnt, hat aber seine Gründe: »Investieren« hört sich nun einmal besser an als »wegnehmen«, was im bevorstehenden Wahlmarathon durchaus eine Rolle spielen kann. Die SPD muss um die öffentliche Wirkung ihrer Politik besorgt sein, schließlich darf die Partei 14 Mal damit rechnen, vom Wähler abgestraft zu werden. Vor allem die Kommunalwahl in Nordrhein-Westfalen, dessen Landesregierung seit 1966 in SPD-Hand ist, macht der Partei Sorgen. Der Urnengang gilt als wichtiger Stimmungstest für die 2005 folgende Landtagswahl, die wiederum die Schlagzahl für das Bundestagswahljahr 2006 vorgeben könnte. Und so haben die Parteifreunde darauf gedrängt, die Menschen nicht »mit überzogenem Reformtempo zu erschrecken«.
Dabei geht es aber weniger um die Frage, ob und welche Neuerung sich Rot-Grün noch einfallen lässt, als um die Art und Weise, mit der die Bundesregierung ihr Programm in den letzten Monaten durchzog. Vom politischen Gegner und eigenen Anspruch zur Eile gedrängt, fabrizierte Rot-Grün einen Fehlschuss nach dem anderen. Und musste - vom Mautdebakel über die Gesundheitsreform bis zur Eindämmung der Schwarzarbeit in privaten Haushalten - laufend nachbessern.
Das hat nicht zuletzt die Grünen auf den Plan gerufen, die im Gegensatz zur SPD seit dem Wahlherbst 2002 in Umfragen deutlich zulegen konnten. Nun fürchtet der Koalitionspartner, von einer schwächelnden SPD mit in die Tiefe gezogen zu werden. Eine Erfahrung, die die Partei bereits machen musste: Zwischen 1998 und 2002 verlor die Fischer-Truppe in 16 Landtagswahlen an Boden, riss aber bei der entscheidenden Bundestagswahl noch das Ruder herum.
Ob bei den kommenden Wahlen ein solcher Coup auch der SPD gelingt, bleibt abzuwarten. Viel dürfte von der oft beschworenen Konjunktur abhängen, die ein paar Leuten Arbeit bringen könnte und der Sozialdemokratie positive Schlagzeilen. Die Stimmung der von der Partei Enttäuschten wird aber auch das nicht bessern: »Schröder ist zum schlimmsten Kohl aller Zeiten mutiert«, begründete ein Ex-Genosse seinen Austritt. Den Kanzler ficht das nicht an. Die Fortsetzung seines Kurses stehe für ihn »außer Frage«.
Die Reformen...
Ein Teil der Agenda 2010 ist seit Jahresanfang bereits in Kraft:
Im Gesundheitsbereich bringen vor allem die Praxisgebühr von 10 Euro, die neuen Zuzahlungsregelungen für Medikamente und Hilfsmittel und die Streichung von Brillengläsern aus dem Kassen-Katalog Belastungen. Zudem hat sich die Einkommensgrenze der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung um 37,50 Euro erhöht; die Versicherungspflichtgrenze stieg um den selben Betrag auf 3862,50 Euro.
Erst im laufenden Jahr wirken sich die Einschnitte bei der Rente aus: Ab April müssen die vollen Beiträge für die Pflegeversicherung von den Rentnern übernommen werden - bisher zahlten die Rentenkasse die Hälfte. Zudem gibt es im Jahr 2004 keine Rentenanpassung.
Rot-Grün hat den Kündigungsschutz für Neueingestellte in Betrieben mit mehr als 10 Mitarbeitern gestrichen. Die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes wurde gesenkt, neue Zumutbarkeitskriterien wurden eingeführt. Die Senkung der Arbeitslosenhilfe auf das Sozialhilfeniveau ist schon beschlossen, kommt aber erst 2005.
Im Rahmen der Steuerreform wurden die Eigenheimzulage, die Förderung bei der Wohnungsbauprämie, der Werbekosten-Pauschbetrag und die Arbeitnehmersparzulage gekürzt, bei der Pendlerpauschale fallen 30 Cent je Kilometer weg. Eine Reihe von Steuersubventionen werden einmalig um 12 Prozent gekürzt, etwa der Sparerfreibetrag. Zum 1. März werden die Zigaretten teurer, später folgen zwei weitere Preisanhebungen.
...gehen weiter
Der zweite Teil der Agenda 2010 soll 2004 »entschieden« angegangen werden, vor allem bei Bildung, Forschung und Familie.
Für das Frühjahr ist ein Gesetz zum Ausbau der Kinderbetreuung geplant. Der Umbau der Bundesagentur für Arbeit geht weiter, neue Regelungen für Langzeitarbeitslose sind avisiert, ebenso eine Einigung beim Zuwanderungsrecht.
Im Streit um eine große Steuerreform will die Union im März einen Vorschlag, die SPD »zu gegebener Zeit« ein Konzept zur Steuervereinfachung vorlegen.
Im Bildungsbereich will die SPD Elite-Unis fördern und strebt eine »umfassende Bildungsreform« an. In der Forschung setzt Rot-Grün auf »besonders zukunftsfähige Bereiche« - etwa die deutsche Raumfahrt. Die Zentrale Vergabestelle für Studienplätze soll aufgelöst werden.
Beim Thema Pflegeversicherung will sich die Koalition noch in diesem Jahr auf Eckpunkte festlegen. Außerdem drängen nicht zuletzt die Grünen auf eine große Rentenreform. Die Regierung will zudem die Au...
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