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Von ANJA SCHINDLER

  • Lesedauer: 4 Min.

Martha Ruben-Wolf, Walter, Sonja und Lothar Wolf; Moskau 1935

des Jahres begrüßt man Familienangehörige in Moskau: Hans und Lisa Linde (Löwisohn) mit ihrem Töchterchen Wera. Auch sie, Kommunisten und Juden, suchen in der UdSSR Zuflucht vor den Nazis. Die Familie Wolf erhält ein neues Daheim im „Weltoktober“ Die Kinder gehen zur Schule, die Eltern arbeiten; man pflegt freundschaftliche

Kontakte insbesondere zu den Mitbewohnern Anne und Karl Schmückle; unter den Freunden sind auch der Arzt Alfred Boss, Herwarth Waiden, Dr. Walter Dehmke, Dr. Leo Friedländer u.a. Dennoch: Bereits bei ihrer Einreise spürte Martha, daß sich hier seit den 20er Jahren viel verändert hat. Ihr schweigender Skeptizismus provoziert Lothar Wolf immer wieder zu Lobgesängen auf die lichte Zukunft des Sowjetkommunismus: „Staunen wirst du noch, Martel - staunen!“ Mit der Prophezeiung „Und zuletzt marschieren wir mit der .Internationale' durch das Brandenburger Tor“ versucht er seine Frau umzustimmen. Während dies die Kinder begeistert, bleibt Martha skeptisch. Zu vieles begegnet ihr, was sie nicht für richtig hält, was ihren Vorstellungen von

Sozialismus nicht entspricht und dann auch noch ein Gesetz zum Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen. Martha ist empört: „Nicht mal einen Rat wagt man ihnen (schwangeren Frauen) zu geben, auch das ist ungern gesehen. Bitte schön, da steht es schwarz auf weiß: zehn Jahre Arbeitslager kann eine unerlaubte ärztliche Einmischung kosten. Die Augen

muß man sich ja aus dem Kopf schämen!“

Mit den beginnenden Prozessen gegen sogenannte Verräter, Trotzkisten, Abweichler wächst ihre Resignation, sie zieht sich immer mehr zurück. Groß ist der Schock über das „Verschwinden“ der Verwandten Lisa und Hans Linde. Beide werden im Juni 1936 vom NKWD verhaftet und wegen „Verbindung mit parteiund klassenfeindlichen Elementen und Begünstigung ihrer Verbrechen infolge mangelnder politischer Wachsamkeit“ aus der KPD ausgeschlossen, Ihre Spuren verlieren sich.

Martha und Lothar Wolf arbeiten noch an dem „Arbeitsprogramm der deutschsprachigen KP-Ärzte“ mit, das u.a. beinhaltet: Studium der Sowjet-Medizin, Auseinanderset-

zung mit der kapitalistischen Klassenmedizin, Arbeit unter den parteilosen deutschsprachigen Ärzte-Emigranten sowie Arbeitern und Spezialisten. Wenig später wird jedoch den im Moskauer Thälmannklub aktiven Emigranten mitgeteilt, daß sie ihre Arbeit einzustellen haben. Lothar Wolf wendet sich mit einem Brief an Wilhelm Pieck und Philipp

Dengel, in dem er Rechenschaft über die geleistete Arbeit ablegt, aber auch Kritik an der „Intellektuellenpolitik der Partei“ übt. Viele Stellen in dem 12seitigen Brief - von Wolf mit „kommunistischem Gruß“ gezeichnet - sind (von Pieck?) unterstrichen worden; ein handschriftlicher Vermerk empfiehlt die Weiterleitung an Dimitroff. Ist es dieser Brief, der Lothar Wolf zum Verhängnis wird?

Sonja, die Tochter, schreibt in ihren Erinnerungen über das Jahr 1937- „Wer hätte dies... für möglich gehalten?... In unserem Haus wimmelte es nur so von Schädlingen und Trotzkisten. Schon mindestens die Hälfte aller unserer Nachbarn waren verhaftet, und doch entdeckte das NKWD immer wieder neue Volksfeinde im .Weltoktober'... Josef

Schneider, Dr. Alfred Boss, Dr. Bär, Dr. Leo Friedländer, Bruno Schmitzdorf und Ernst Mannefeld, der Rumäne Moisessko, die Amerikanerin Kelly, der deutsche Jungkommunist Joseph Lichtenstein, das Ehepaar Heymann aus Ungarn, der Genosse Stamm, der alte Engländer John Miller...“

Und dann auch der Vater. In der Nacht vom 28. zum 29. November 1937 wird Lothar Wolf vom NKWD verhaftet.

Martha verliert ihre Arbeit im Ambulatorium; monatelang sucht sie vergeblich nach einer neuen. Immer nur sind es vorübergehende Tätigkeiten, man entläßt sie unter fadenscheinigen Erklärungen. Martha sucht ihren Mann. Er, der ihr stets Halt gab, sich bemühte, ihr etwas von seiner Zuversicht und Kraft abzugeben - er ist nicht mehr da. Nun zweifeln auch die Kinder an dem Siegesspruch „Zuletzt marschieren

ir^roiuder^Jntermtipnale' durch das Brandenburger Tori?;; Nach ? einem.! Besuch i bei der deutschen Sektion der Komintern erleidet Martha einen Zusammenbruch...

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