Der sicherste Ausbruchsort Deutschlands
In Sachsen-Anhalt sitzen schwere Jungs kaum länger als „selbstverordnet“ hinter Schloß und Riegel
Von HANS-DIETER VATER
Nach einer Information aus dem Landesjustizministerium sind seit 1991 aus Sachsens-Anhalts Haftanstalten 23 Insassen aus der Strafhaft und 42 aus der Untersuchungshaft ausgebrochen. Als sicherster Ausbruchsort scheint Halle zu gelten; Jüngst befreiten vier maskierte Männer den 24jährigen U-Häftling Sergio Panichi, der als ein Kopf im Drogenhandel gilt, auf offener Straße vor einer Klinik. Statt einer vorgesehenen ärztlichen Behandlung des Häftlings mußten die Wachleute klinisch versorgt werden. Panichi ist über alle Berge und bis heute nicht gefunden.
Als beim letzten Spiel der deutschen WM-Fußballmannschaft alles gebannt in die Röh-
re glotzte, nutzten zwei in der Jugendvollzugsanstalt Halle wegen Gewalttätigkeit einsitzende Häftlinge die Gunst der Stunde. Sie zersägten die Gitterstäbe, ließen sich vom Fensterrahmen an einer Decke in den Innenhof des Gefängnisses abseilen und verschwanden.
Damit reißt die Kette der Ausbrüche, scharenweise vor allem auch aus diesem Gefängnis, das sinnigerweise in einem Stadtteil mit der Bezeichnung „Frohe Zukunft“ liegt, nicht ab und trägt dazu bei, daß Sachsen-Anhalt auch in der Ausbruchsquote aus Strafvollzugsanstalten vor Brandenburg wieder an der Spitze aller Bundesländer liegt.
Unter öffentlichem Druck bewilligte das Justizministerium schon vor einem Jahr fast
10 Millionen Mark, um wenigstens das eine Gefängnis sicherer zu machen. Für fast 5 Millionen sollten bis zum Sommer dieses Jahres neue elektronische und mechanische Außensicherungen eingebaut werden. Die Effizienz dieser Maßnahme erscheint fragwürdig. Mindestens 100 Millionen Mark wären notwendig, um alle Gefängnisse des Landes mit neuer Sicherheitstechnik auszustatten, davon 40 Millionen DM allein, um die veralteten Zellenschlösser auszuwechseln.
Die Ausbruchsmethoden entsprechen den Modellvorlagen amerikanischer Krimis: Gitter zersägen und abseilen. So gelang dem Doppelmörder Heiko Böhme die Flucht aus dem angeblich ausbruchsiche-
ren halleschen Untersuchungsgefängnis. Beim Freigang Sprung über die Gefängnismauer ist eine spezifisch Dessauer Methode, bewies der wegen Totschlags einsitzenden Frank Plantikow Bei zwei Wächtern auf einen Gefangenen, wie es der statistischen Situation in Sachsen-Anhalt entspricht, ist freilich die Frage zu stellen, ob Fähigkeiten und bestehende Vorschriften zur Bewachung von Objekten und Insassen ausreichen. Kritisch sollte man auch die Fahndungserfolge sehen. Die Ergreifung besagten Doppelmörders in Halle war nur einem Zufall zu verdanken, und der wegen Totschlagsverdachts verhaftete und dann in Dessau flüchtig gewordene Kriminelle hatte auf seiner Flucht sogar Zeit, Interviews zu geben, weil
der über den Aufenthaltsort des Ausbrechers durch die betreffende Redaktion informierte Polizeibeamte Feierabend gemacht hatte und der neue Diensthabende sich „in den Vorgang erst einlesen“ mußte.
Während es einerseits die Menschen in dieser Region stark beunruhigt, daß es zumeist gefährliche Gewalttäter sind, die sich mit relativ simplen Methoden befreien, nehmen andererseits Fragen nach der Situation in den Gefängnissen zu. Modernste Sicherheitsvorkehrungen und strikte Einhaltung der Vorschriften sind nur die eine Seite der Medaille. Die andere verlangt Auskunft über die Resozialisierung und Betreuung der Gefangenen. Und gerade darüber ist kaum etwas zu erfahren.
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