Die „Wende im Bosnien-Krieg“ war eine Illusion
Die aktuellen Kämpfe um die „Moslem-Enklave“ im Nordwesten Bosniens haben ihre Vorgeschichte Von MARKO WINTER
Immer noch wird in der Region Bihac im Nordwesten Bosniens erbittert gekämpft. 180 000 Menschen leben derzeit noch in der „Moslem-Enklave“, einem Gebiet von etwa 30 mal 40 Kilometern, dessen größte Stadt Bihac an der Una ist.
Moslems, die vor den Izetbegovic-Truppen in die Kra ina geflohen sind
Foto: Reuter
Im zweiten Weltkrieg war die Region Bihac ein Zentrum des Widerstands gegen die deutschen Faschisten und die Ustascha von Ante Pavelic, Hitlers Statthalter im sogenannten Unabhängigen Staat Kroatien. So war es kein Zufall, daß am 26727 November 1942 in Bihac die erste Tagung des Volksbefreiungsrates stattfand, die den Grundstein für das neue Jugoslawien legte, das Jugoslawien Titos. Zugleich wurde damals die Grundlage für die Bildung einer Republik Bosnien und Herzegowina im Rahmen der Föderation geschaffen, einer Republik, in der Menschen verschiedener Nationalitäten und Religionen nach dem Kriege zusammenlebten.
Erst 1970 jedoch wurden die Bosnier islamischen Glaubens bzw Hintergrunds zur eigenständigen „Nation“ erklärt, um - wie es hieß - dem Prinzip der Gleichberechtigung aller Bürger Jugoslawiens Geltung zu verschaffen. Aus heutiger Sicht erweist sich diese Erklärung als einer der Schritte, die von nationalistischen Politikern aller Seiten genutzt wurden, um die Idee von der Einheit zu untergraben und Jugoslawien zu zerschlagen.
In der Stadt Bihac selbst lebten vor dem Krieg 35 000 Einwohner, davon 61 Prozent Moslems, 16,9 Prozent Serben, 8,9 Prozent Kroaten und immerhin 11,2 Prozent, die sich als Jugoslawen bekannten. Der Zensus von 1991 ergab für die Region insgesamt fast 240 000 Menschen, darunter 30 000 Serben und 6500 Kroaten. Vier
Jahre später schätzt man unter 180 000 Zivilisten noch ganze 1000 Serben und 5000 Kroaten. „Ethnische Säuberungen“ - Flucht und Vertreibung - haben ihre Wirkung getan.
Daß die Bevölkerung selbst, unabhängig von Nationalität und Religion, weiterhin friedlich zusammenleben wollte, erwies sich im September 1993, als mehr als 80 Prozent die Ausrufung des Autonomen Gebietes Westbosnien unter dem ehemaligen Mitglied des bosnischen Staatspräsidiums Fi-
kret Abdic unterstützten. Abdic sicherte dem autonomen Gebiet durch Vereinbarungen mit Kroaten und Serben fast ein Jahr lang relativen Frieden. Gestört wurde der von Anfang an aus der inzwischen von der UNO zur Schutzzone erklärten Stadt Bihac heraus: vom 5. Korps der bosnischen Regierungsarmee. Denn die Abdic-Politik widersprach dem militanten Kurs Alija Izetbegovics, der auf einen moslemisch dominierten Einheitsstaat Bosnien-Herzegowina zusteuert.
Im August 1994 gelang es den Regierungstruppen, den Widerstand der Abdic-Anhänger zu brechen. Nachdem auf Druck der USA Kroaten und Moslems eine - bis heute nicht
funktionierende - Föderation eingegangen waren, brach Zagreb seine Vereinbarungen mit Abdic und entzog ihm jede Unterstützung.
Im Ergebnis flohen etwa 60 000 bosnische Moslems in die Republik der Serbischen Krajina. Den Flüchtlingen wurden nicht nur die Einreise nach Kroatien bzw die Weiterreise in westeuropäische Länder, sondern auch dringend benötigte humanitäre Hilfe versagt. Dabei bestand ihr einziges Vergehen darin, daß sie Frieden statt der auf Krieg setzenden Politik Izetbegovics wollten.
Im Rausch ihres „Sieges“ über die Abdic-Truppen bei Velika Kladusa im Norden des Gebietes startete das Korps des
dafür zum Brigadegeneral beförderten Atif Dudakovic eine Offensive gegen die bosnischen Serben. Statt diesem selbstmörderischen Tun Einhalt zu gebieten und die damit verbundene Vertreibung Tausender - diesmal serbischer - Zivilisten zu verhindern, verbreiteten westliche Politiker und Medien die Illusion von einer „Wende im Bosnien-Krieg“, was in Sarajevo als Ermunterung aufgefaßt wurde.
Von der UNO-Schutzzone und dem Einsatz von NATO-Kampfflugzeugen war erst wieder die Rede, als die Serben zur Gegenoffensive ansetzten. Im Prinzip wiederholte sich das Szenarium der Kämpfe um Gorazde im Frühjahr. Nur die geografische Lage von Bihac und Uneinigkeit in der NATO verhinderten diesmal die völlig einseitige Parteinahme für die moslemischen „Verteidiger“ Wie sehr dadurch die Erwartungen Sarajevos enttäuscht wurden, zeigen die Ausfälle von Ministerpräsident Haris Silajdzic gegen den UNO-Beauftragten Yasushi Akashi und General Michael Rose.
Nichts rechtfertigt Artillerieangriffe auf Städte und Dörfer, auf Krankenhäuser und Wohnungen - von wem sie auch immer unternommen werden. Die Ereignisse um die Enklave Bihac machen lediglich ein weiteres Mal deutlich, daß der Krieg in Bosnien mit militärischen Mitteln nicht zu beenden ist. Nur Waffenstillstand, tatsächliche Entmilitarisierung der Schutzzonen (von der jetzt auch UN-Generalsekretär Boutros-Ghali spricht), Gleichbehandlung der Parteien und die sofortige Aufnahme von Verhandlungen über einen Friedensvertrag führen zu einer Wende. Eine Aufhebung dos Waffenembargos führt dagegen zur Katastrophe.
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