Wieder schrumpelt ein Jahrhundertprozeß
Anklage gegen „Paten“ Klaus Speer in wesentlichen Punkten zusammengebrochen
Klaus Speer (links) in bester Gesellschaft. Am Roulettetisch gab er der Kanzlergattm heiße Tips. Dritter von links in der ersten Herrenriege der CDU-Abgeordnete und Ex-Verteidigungsminister Rupert Scholz Foto: Peter Rondholz
Ob Klaus Speer zu Weihnachten wieder aus dem Knast kommt, ist noch nicht entschieden. Doch müßte er eigentlich eher heute als morgen entlassen werden. Denn seit über zwei Jahren sitzt der als „Pate von Berlin“ mit Gangster-Legenden umwobene Mann in U-Haft. Die voluminöse Anklage mit 530 Seiten, die zu Beginn des Prozesses im März 1993 noch 16 Straftaten aus dem Mafia-Milieu umfaßte, ist auf ganze drei geschrumpft.
Und so dürfte das zu erwartende Strafmaß keinen weiteren Hafttag rechtfertigen. Speer wäre auch schon freigelassen worden, hätte er sich mit einem richterlichen Deal, einer kleinen Verurteilung, einverstanden erklärt. Doch er will das juristische Trauerspiel nun bis zum Ende durchstehen. Aus seiner Sicht ist er im Sinne der Anklage unschuldig, und da gibt es nichts auszuhandeln. Erpressung, Wucher, Betrug waren die Hauptanklagepunkte. Es blieben unerlaubter Pistolenbesitz und die Beschaffung von Polizeiinformationen über einen „undichten“ Draht. ' Und das hatte Speer auch nicht abgestritten.-
Es war dennoch ein Millionending, doch nur für den Steuerzahler. Seit 1988 war die Soko „Spitze“ dem vermeintlichen Boß der Berliner Unterwelt auf den Fersen. Sie mietete Wohnungen, überwachte Telefone, baute kleine Gauner als Kronzeugen gegen Speer auf, war Tag und Nacht auf Achse und schlug in einer Kommandoaktion zu. Dann der Prozeß vor der 19 Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin, der sich seit 20 Monaten dahinquält. Ein Heer von Juristen, Justizbeamten, Zeugen und Beobachtern rangen
an bisher 127 Prozeßtagen mit- und gegeneinander.
Klaus Speer ist zweifellos eine schillernde Figur in diesem bundesdeutschen Panoptikum. Bei ihm stimmt das Klischee vom Tellerwäscher zum Millionär. Aus einfachen“ Verhältnissen stieg er im Berliner Nachtleben zu einer stadtbekannten Person auf. Nach einer Schießerei im Zuhältermilieu landete er hinter Gittern. Danach ein neuer Klaus Speer Er installierte eine Sportschu-
le, organisierte Boxkämpfe, wurde Geschäftsmann. Er schmückte sich mit Prominenz und die sich mit ihm. Doch wo Ober- und Unterwelt so dicht beieinander liegen und miteinander verfilzt sind, da mußte ein Mann wie Speer ins Fadenkreuz der Staatsmacht geraten. Er schien der Polizei und der Justiz das geeignete Objekt für den großen Schlag gegen das organisierte Verbrechen zu sein. Der Speer-Prozeß sollte dem durch Massenkrimina-
lität verunsicherten Bürger das Gefühl vermitteln, in Justitias Armen hätten große Gauner keine Chance. Das aber ist gründlich mißraten. Die Zeugen blätterten reihenweise ab, die polizeilichen Ermittlungsmethoden erwiesen sich als außerordentlich fragwürdig und hatten vor Gericht kaum Bestand. So wird dieses „Jahrhundertverfahren“ in den nächsten Tagen völlig unspektakulär austrudeln.
PETER KIRSCHEY
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