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  • Der Petersburger „Blutsonntag“ vor 90 Jahren / Als der Zar in sein Tagebuch schrieb: „Mein Gott, wie schmerzlich und schwer...“

Für viele ein Bittgang ohne Wiederkehr

  • Lesedauer: 4 Min.

Petersburger „Blutsonntag

Am Abend des 21. Januars (8. Januar alten Stils) 1905 drängte sich eine Gruppe angesehener Wissenschaftler und Schriftsteller in das Empfangszimmer von Innenminister Swjatopolk-Mirski, um wie sich Maxim Gorki, Teilnehmer dieses für Rußland ungewöhnlichen Vorgangs, erinnert - ein „mögliches Gemetzel abzuwenden“ Für die Intellektuellen hatte der Minister indes keine Zeit. Er befand sich in einer dringenden Regierungsberatung, wo es darum ging, wie mit dem für den nächsten Tag avisierten Demonstrationszug hauptstädtischer Arbeiter zum Winterpalais zu verfahren sei...

Am Morgen des 22. (9.) Januars, einem Sonntag, machten sich etwa 140 000 Petersburger Arbeiter, viele von ihnen mit ihren Frauen und Kindern, unter Kirchenfahnen und Ikonen und unter Absingen frommer Lieder aus den Arbeitervierteln in mehreren Marschzügen auf den Weg. Sie wollten dem Zaren in einer Bittschrift die Verbesserung ihrer schlimmen Lage abverlangen. All dies geschah vor dem Hintergrund von Massenstreiks, die das Leben der Riesenstadt faktisch lahmgelegt hatten und die im ganzen Land Widerhall fanden. Eingerührt hatte den Bittgang ein Kirchenmann - der Pope Georgi Gapon. Unter den Arbeitern war er kein Unbekannter, leitete er doch seit über einem Jahr den polizeilich genehmigten „Verein der Petersbur-

ger Fabrik- und Werksarbeiter“ Mit solchen Einrichtungen wollte die zaristische Administration die wachsende Aktionsbereitschaft der Werktätigen kanalisieren und namentlich die aufmüpfigen hauptstädtischen Arbeiter „ruhigstellen“ Auch in Rußland fand man dafür frühzeitig die Bezeichnung „Polizeisozialismus“

Gapons Idee war auf einen fruchtbaren Boden gefallen. In stürmischen Versammlungen formulierten die Arbeiter ihre Forderungen, wobei sozialdemokratisch orientierte, obwohl

von der Zwecklosigkeit eines solchen Schritts überzeugt, ihre Gedanken einbrachten: Herabsetzung der Steuern, Achtstundentag, Beendigung des Russisch-Japanischen Xriegs (Mit einem „kleinen siegreichen Krieg“ wollte die Selbstherrschaft die innenpolitische Lage in den Griff bekommen; er endete jedoch für Rußland mit immensen Verlusten und schließlich einer schweren Niederlage. Schon 1904 erreichten die Kriegskosten die sagenhafte Höhe von zwei Milliarden Goldrubeln!), politische Freiheiten, allmähliche Über-

gabe des Grund und Bodens an diejenigen, die ihn selbst bearbeiteten, allgemeine, gleiche und geheime Wahlen zu einer konstituierenden Versammlung. Forderungen, die an den Grundfesten des Regimes rüttelten. Und dennoch behinderten die Behörden nicht die Abfassung der Bittschrift, ja ließen sogar die Übergabe an verschiedene Ministerien zu. Namentlich der Innenminister erblickte in der Federführung Gapons bei der ganzen Angelegenheit eine hinreichende Garantie, daß alles im Interesse der bestehen-

den Ordnung verlaufen würde.

Auf den „Empfang“ der Bittsteller bereitete man sich allerdings generalstabsmäßig vor In aller Eile wurden rund 40 000 Soldaten und Gendarmen in der Hauptstadt zusammengezogen, darunter zwei Bataillone des „Preobrashenski-Regiments“, in dem Nikolaus II. einst sein Offizierspraktikum absolviert hatte. Sorgfältig wurden die Punkte fixiert, an denen die Kolonnen aufzuhalten waren. Im „Prawijelstwenny Westnik“ (Regierungsbote) erschien eine

unmißverständliche Erklärung: Im Falle von „Massenunruhen“ würden die Truppen Waffengewalt anwenden...

Zum Schloßplatz gelangte denn auch keiner der Marschzüge. Mit Kartätschen und Kosakensäbeln wurde ihnen der Weg zum Zarensitz versperrt. Die schneebedeckten Petersburger Straßen färbten sich rot vom Blut der wehrlosen Opfer des Gemetzels, das humanistisch gesonnene Intellektuelle hatten verhindern wollen. Gapon, entsetzt über das Massaker, erklärte: „Wir haben keinen Zaren mehr Ein Strom von Blut trennt Zar und Volk.“

Journalisten erfaßten die Namen von 4 600 Toten und Verwundeten; späterhin wurde die Zahl von insgesamt 1 000 Todesopfern, die dieser „Blutsonntag“ kostete, genannt. Der Zar, genauestens in die Vorbereitungen des Massakers eingeweiht, ersparte sich den Anblick der Opfer Er hatte sich vorsorglich in seine Vorstadtresidenz Zarskoje Selo zurückgezogen. In sein geliebtes Tagebuch schrieb er- „Ein schwerer Tag. In Petersburg ereigneten sich ernsthafte Unruhen infolge des Wunsches der Arbeiter, zum Winterpalais zu kommen. Die Truppen mußten in verschiedenen Stadtteilen schießen; es gab viele Tote und Verwundete. Mein Gott, wie schmerzlich und schwer... Mama kam zu uns aus der Stadt direkt zur Messe. Habe mit allen gefrühstückt...“

SONJA STRIEGNITZ

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