Muttermilch der Zivilisation

  • Reinhard Renneberg, Hongkong
  • Lesedauer: ca. 2.0 Min.
»Es ist bekannt seit altersher, wer Sorgen hat, hat auch Likör...« Gab es außer Wilhelm Buschs humorvoller Weisheit noch andere gute Gründe für die Erfindung des Alkohols? Biotechnologen und Historiker sind zunehmend dieser Meinung. Schon vor 6000 bis 8000 Jahren beherrschten die Sumerer in der Wiege der Zivilisation Mesopotamien, dem Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris, die Kunst des Brauens. Der nahrhafte Saft stand bei ihnen so hoch im Kurs, dass Bierbrauer bei Schlachten zu Hause bleiben mussten. Die Babylonier, Nachfolger der Sumerer, konnten immerhin schon zwischen 20 verschiedenen Biersorten wählen. Das Brauen war auch ihnen eine wichtige Staatsangelegenheit. So ließ z.B. ihr bedeutendster König Hammurapi in Stein meißeln, dass Brauer, die ihr Bier mit Wasser verdünnten, in ihren Fässern zu ersäufen sind oder sich an dem eigenen Gebräu zu Tode trinken sollten. Alkohol ist vergorener Zucker, ein Stoffwechsel-Endprodukt der Hefen, und bietet deshalb anderen Mikroben (außer Essigsäurebakterien) keine rechte Nahrung. Das babylonische Bier hatte einen leicht säuerlichen Geschmack, der durch eine nebenher ablaufende Milchsäuregärung entstand. Die Milchsäure-Bakterien erhöhten die Haltbarkeit des Bieres zusätzlich, weil viele Mikroben im sauren Milieu nicht gedeihen können. Nahrungsmittel-Konservierung durch Milchsäuregärung - man denke nur an Gewürzgurken, Sauerkraut und Oliven. Im heißen Klima des Orients war die Mikrobenhemmung mittels Gärung eine vorteilhafte Eigenschaft, wenn nicht gar die entscheidende. Wegen des Ackerbaus wuchs die Bevölkerung dramatisch. Sauberes Trinkwasser wurde plötzlich zum Problem, übrigens auch in Europa bis ins 19. Jahrhundert hinein. Fehlende Kanalisation, keine oder schlechte Abwasserbehandlung - tierische und menschliche Fäkalien verseuchen und verschmutzen in manchen Gegenden heute noch das Trinkwasser. Nur fünfProzent des Wassers Chinas sind noch »sicher«, (hier liegt die Hauptschuld allerdings bei der boomenden Industrie). Auch rituelle Waschungen (z.B. im Ganges) sind problematisch. Wasser kann hochgefährlich sein! Die Gärungsprodukte Bier, Wein und Essig waren dagegen frei von gefährlichen Keimen. Selbst leichtverschmutztes Trinkwasser konnte man damit aufbereiten, weil nicht nur Alkohol, sondern auch organische Säuren vorhandene Erreger abtöten. »Ich saufe nicht, ich desinfiziere mich!« - der berühmte Spruch der Alkoholliebhaber ist demnach nicht völlig verkehrt. Alkohol war übrigens bis vor hundert Jahren das einzige Analgetikum: Branntwein zur Narkose! Nicht gefährliches Wasser löschte also den Durst unserer Altvorderen, sondern Bier, Wein und Essig - die »Muttermilch der Zivilisation«. Diese älteste Biotechnologie der Welt war nahrhaft, anregend und auch sicher - ein Fortschritt, der sich einfac...

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