- Politik
- Der Terror und seine Folgen
Powells »bedächtige Linie« durchzieht die Talkshows
Streit in Bush-Administration über Charakter und Ausmaß von »Americas New War«
Die offizielle Trauerzeit ist vorbei, und die Kriegsvorbereitungen gehen in die letzte Phase. Über das Ausmaß der Vergeltungsschläge in Afghanistan und die langfristigen Strategieerwägungen für den Mittleren Osten wird weiter spekulkiert. Kriegsgegner bemühen sich weiter um Gehör.
USA-Präsident George W. Bush persönlich beendete offiziell die 12-tägige Trauerzeit, die seit den verheerenden Terroranschlägen in Pennsylvania, Washington und New York am 11. September das gesamte Land in einen Ausnahmezustand versetzt hatte. In Camp David legten Präsident und First Lady Laura Bush die Hand aufs Herz, während ein Marine-Orchester die Nationalhymne spielte und eine Eliteeinheit der Marines die Nationalflagge vom Halbmast nahm und wieder voll aufzog. Doch von »Normalität« kann weiterhin keine Rede sein. Trauer und Wut in New York sind weiterhin überwältigend: Bürgermeister Giuliani teilte mit, die Zahl der seit den Anschlägen vermissten Menschen betrage mindestens 6453. Dutzende von Straßenblöcken um das zerstörte »World Trade Center« bleiben weiterhin abgeriegelt, die Bergungs- und Aufräumarbeiten in den mehreren Hunderttausend Tonnen Schutt gehen angesichts der Insellage und der engen Straßen nur schleppend voran. Das Gefühl von Alltag und Geschäftigkeit will sich einfach nicht einstellen: das »World Trade Center«, für Hunderttausende täglich der geographische Orientierungpunkt in der Straßenschluchten von Manhattan, ist verschwunden, und wenn sich dieser Tage an der U-Bahnstation »Wall Street« die Türen öffnen, dann setzt sich nicht selten ein entsetzlicher Leichengestank in der Nase fest. Tausende von Toten sind immer noch nicht geborgen. Hinter vorgehaltener Hand wird von Seuchen gemunkelt, die die Ratten in die gesamte Stadt schleppen könnten. Unterdessen richten sich jenseits von Show und Agonie alle Blicke auf Washington. Obwohl bislang kein einziger Beweis vorgelegt wurde, geht inzwischen selbst die Restlinke wie selbstverständlich davon aus, dass die Anschläge auf jenes ominöse Netzwerk Osama bin Ladens zurückgehen. Bis zum Beweis auf dem Prinzip der Unschuldsvermutung zu beharren, verbietet sich offenbar angesichts des Schocks und der nationalistischen Welle. Während der Transport von US-Waffensystemen und -Einheiten in an Afghanistan grenzende Länder weiterging, bemühte sich das Weiße Haus, zwischen zwei traditionell im Clinch stehenden Fraktionen in der herrschenden Elite die Balance zu halten - Unilateralisten versus Bündnisbefürworter. Der Streit um den Charakter und das Ausmaß von »Americas New War«, des »Kriegs gegen den internationalen Terrorismus«, war nach der Bush-Rede in die Öffentlichkeit gelangt. Auf der einen Seite steht das Pentagon mit dessen Chef Donald Rumsfeld, seinem Stellvertreter Paul Wolfowitz und Vizepräsident Richard Cheney, die einen groß angelegten regionalen Feldzug befürworten, der neben Afghanistan mindestens auch »ihre alte Nemesis wie Iraks Saddam Hussein in die Schlacht miteinbeziehen« soll, so das konservative »Wall Street Journal«. In dieser Fraktion ist aber auch die rabiate Politik des Unilateralismus verankert, derzufolge US-amerikanische Hegemonie weltweit nur im Alleingang und selbst gegen die Interessen der engsten Verbündeten durchzusetzen sei. Auf der anderen Seite steht Außenminister Colin Powell, der vor elf Jahren als Generalstabschef anfänglich gegen einen Irak-Krieg und später gegen eine Entsendung von Bodentruppen plädiert hatte. Aus dieser Zeit stammen die Animositäten zwischen beiden Fraktionen der alten Golfkriegergarde. Dazu zählen auch Condoleezza Rice, Richard Armitage, Robert Zoellick und Lewis Libby, allesamt mit hohen Positionen bei Bush Senior und heute bei Bush Junior. Vier-Sterne-General Powell befürwortet den Einsatz von Militär nur unter der Bedingung, dass US-amerikanische Soldaten nicht oder minimal gefährdet sind, er beharrt auf möglichst breiten internationalen Bündnissen sowie auf einer restriktiven Medienpolitik, wenn es zum Kriegsfall kommt. Beide Elemente gehen auf die Erfahrungen aus dem Vietnamkrieg zurück. Denn ein Krieg kann auch an der Heimatfront verloren werden, wenn die Opposition zuhause angesichts der Bilder getöteter US-Soldaten wächst - so die Auffassung Powells. Jüngster Beweis: Als die jugoslawische Armee im Jugoslawienkrieg drei US-Soldaten gefangen nahm, ging ein Aufschrei durch das ganze Land, die US-Armee nicht in ein zweites »Vietnam-Desaster« zu verwickeln. Über das Wochenende dominierte Powells Ansatz die Medien, was gleichzeitig dem Willen und der Medienpolitik des Weißen Hauses entsprechen dürfte. Powell sagte im Fernsehsender NBC, die Bush-Regierung werde »in naher Zukunft« Beweise für die Täterschaft bin Ladens und seiner Al-Qaida-Organisation vorlegen. Die bedächtige Linie zogen weitere Regierungsbeamte in den Wochenend-Talkshows. Sie seien »Teil des Versuches, eine ruhige, methodische Antwort auf die Terroranschläge zu zeichnen, und der Bush-Regierung etwas mehr Zeit zu geben angesichts einer US-amerikanischen Öffentlichkeit, die nach Rache schreit«, analysierte dazu die gestrige »Washington Post«. In mehreren Interviews warnten Experten in Radio und Fernsehauftritten sogar davor, die islamische Welt mit einem Angriff auf Afghanistan gegen die USA aufzubringen. Der Aufbau eines internationalen Bündnisses gegen Terrorismus müsse Vorrang haben vor Schnellschüssen, die nach hinten losgehen. Unterdessen gingen auch die Bemühungen um den Aufbau einer landesweiten US-Friedensbewegung weiter. Am Wochenende demonstrierten an fast 150 Universitäten und Schulen mehrere zehntausend Schüler und Studenten gegen die Kriegsvorbereitungen unter dem Motto »Gerechtigkeit, nicht Rache«. Der nationale Kirchenrat mit über 1200 Mitgliedsorganisationen plädierte gegen einen Krieg. Fast eine halbe Million US-Amerikaner haben Angaben eines Friedensbündnisses zufolge bis zum Wochenende eine Petition »Action for Justice, not War« unterschrieben. An der West- und Ostküste sind zwei große Konferenzen geplant, auf denen Antikriegsaktivitäten besprochen werden sollen. Das Kriegsgeschrei ist innerhalb weniger Tage bei Teilen...Zum Weiterlesen gibt es folgende Möglichkeiten:
Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.