Was wurde aus Paul und Willi?
Paul Gallasch und Willi Jordan auf dem „Gut Winkel“
Foto: Archiv d.A.
nierter Schuldirektor, Jahrgang 1922. Der Hobbyhistoriker und Dorfchronist hat zum Thema „Jüdisches Leben und Leiden zwischen Spree und Oder“ bereits über tausend Seiten wertvoller Informationen zusammengetragen. Alle Seiten säuberlich in Ordnern gesammelt, die Dokumente zwischen Folien sorgfältig verwahrt.
Seine Erfahrung: Das ehemalige „Judenlager“ ist kein Gesprächsthema mehr in Spreenhagen. Die Ältesten im Dorf, zumeist peinlich berührt, schweigen darüber. Schweigen auch darüber, daß der im Dorf nach 1945 sechs Jahre praktizierende Arzt Dr Fischer einer von der SS war, der in Auschwitz bei der Selektierung der Häftlinge mit über Leben und Tod entschied. Überlebende von Auschwitz entlarvten den Mörder. Die Staatsanwaltschaft der DDR machte ihm dem Prozeß und verurteilte ihn zu lebenslänglicher Haft.
Auch Stief hat sich bereits bemüht, den weiteren Lebensweg von Paul und Willi zu verfolgen. Er forschte in den Akten der Standesämter, in Katholischen Kirchenbüchern, in Unterlagen der Kreisstadt. Aus unserem Buch kennt er nur ihre Vornamen. Die Nachnamen waren uns leider nicht bekannt, gleichwohl einer der Beiden uns half, Verbindung mit gleichgesinnten Illegalen wir gehörten der Widerstandsgruppe um Marianne und Herbert Baum an - in Stettin und anderswo zu halten...
Heinz Stief ist fündig geworden. Der Aufwand, sagt er, hat sich gelohnt. Willi hieß mit Nachnamen Jordan und Paul Gallasch. Beide wurden später zur Wehrmacht eingezogen und fielen im Hitlerkrieg. Auch
über die Frau von einem der Beiden hat er etwas in Erfahrung gebracht. Sie ist heute 98 Jahre alt und soll in Hennikkendorf bei Strausberg leben. Bisher fand er nicht den Mut, sie aufzusuchen und zu befragen.
Im Dorf lebt auch noch eine Frau, die als junges Mädchen mit den Kindern des Gutsdirektors Gerson, teils jüdischer Abstammung, spielte. Ein Foto von ihr, als sie etwa sechs Jahre alt war, ist in die Dorfchronik einbezogen worden. Die Gersons hätten sich als „Mischlinge“ vielleicht retten können. Doch sie gingen mit ihren letzten Schützlingen nach Theresienstadt. Von dort gingen auch sie bald „auf Transport“ Es wäre gut, wenn ihrer - auf welche Weise auch immer - in Spreenhagen gedacht wird.
Mit dem Chronisten fahren wir zu der Stelle, wo sich das Gut erstreckte. Wo einst blühende Äcker und weite, Erdbeerfelder waren, stehen heute eine Tankstelle und ein Gebäude der Zollbehörde für die Abfertigung der Laster nach
Polen. Wagenkolonnen auf unseren ehemaligen Gemüsefeldern. Der Dorfchronist ist glücklich darüber Er erklärt es uns:
Spreenhagen war schon immer ein Hühnerdorf. Auch Gut Winkel hatte seinerzeit mit etwa hundert Legehennen dazu beigetragen, die Gegend mit Ejern zu versorgen. Zu DDR-Zeiten gab es hier die größte Hühnerfarm Europas, die von KIM. Das Dorf lebte davon. Zwei Drittel der jährlich in der DDR geschlüpften 20 Millionen
Kücken wurden hier ausgebrütet. Dann kam die Wende, die Treuhand, ein Käufer aus Schleswig-Holstein und das Aus. Moderne Maschinen und Ausrüstungen für die Kückenund Eiergroßproduktion gingen nach Schleswig in die dor-
tige Fabrik, qie nun zur größten in Europa wurde. Die Spreenhagener erhielten eine Abfindung. Die reichte für ein neues Auto, aber nicht für den Aufbau einer neuen Existenz. So sind viele hier arbeitslos haben Zeit, ihr Auto zu putzen, es auch zu fahren aber nicht. Benzin ist teuer für eine Familie ohne ausreichendes Einkommen. Die Fernkraftfahrer lassen etwas Geld im Ort...
Vom einstigen jüdischen „Gut Winkel“ zeugen nur noch ein paar heruntergekommene
leere Ställe und Scheunen. Verfallene Zäune und Autowracks aus DDR-Produktion zieren die einst schöne Landschaft, die zur „East-side“ der Mark Brandenburg verkommen ist. Das einzig bewohnbare Haus auf dem Gut ist das frühere Verwaltungsgebäude. Das ehemals schmucke Haus aus der Gründer-Zeit mit großzügig angelegter Veranda ist jetzt mit trostlosem grauem Kalk verputzt. Die von der Treuhand eingesetzte Betriebsgesellschaft Stadtgüter Berlin GmbH kassiert von den wenigen Bewohnern die Miete.
Amtsdirektor der Gemeinde ist Herr Schröder Ob eine Tafel zur Erinnerung an das Gut und den Leidensweg seiner einstigen jüdischen Bewohner angebracht wird, machte er von der Antwort auf die Eigentumsfrage abhängig. Die ist 1 ungeklärt.
Wir stehen auf dem verschlammten Gutshof, damals unser Appellplatz. Hier, erinnern wir uns, wurde in der Frühe das erste Lied gesungen und die Arbeit des Tages von Gutsinspektor Guggenheim eingeteilt. Auf dem Gutshof wurden Pferde, Kühe, Schafe, Hühner u.a. andere Nutztiere gehalten.
Wir bedauern, daß nichts an das jüdische Gut, an das Schicksal seiner Bewohner erinnert. Man mag einwenden, daß die Spreenhagener derzeit andere Probleme haben. Und es wäre zu verstehen, wenn da nicht eben diese Vergangenheit heute in den Köpfen und Hirnen bei nicht wenigen erschreckende Auferstehung findet. Hakenkreuzschmierereien und NS-Parolen auch an Häuserwänden in Spreenhagen. Von Besorgten werden sie stillschweigend beseitigt. Aber, genügt das? Wäre da nicht mehr zu tun? Aufklärung an einem konkret-historischen Ort, beispielsweise?
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