Alles klar?
Neulich stand ich wartend am Aufzug. Ein Bekannter kommt auf mich zu und ruft: »Na, alles klar?« Und was antworte ich? »Ja, alles klar«. Das antworte ich eigentlich immer, wenn dieser putzmuntere Überraschungs-Angriff erfolgt, automatisch, und mit möglichst optimistischem Gesichtsausdruck: »Alles klar«.
Alles klar? Was ist damit bloß gemeint? Was - Alles? Was ist - klar? Wen interessiert das eigentlich? Und wieso direkt - Alles? Warum nicht zunächst mal ein bisschen? Vielleicht das Befinden gerade heute: Ist es ganz gut, ist es auszuhalten, mit der Arbeit, mit dem Freund, mit der Wohnung, mit den Schmerzen im Rücken... Jedoch ist es ja beileibe nicht so, dass so ein »Alles klar?« mir noch nie über die Lippen gekommen wäre. Auch ähnliche Sätze wie »Geht's gut?«, »Und sonst?«, die meistens nur Antworten zulassen, wie »Es muss«, oder »Und selbst?« - sind auch aus meinem Mund nicht unbedingt eine Rarität. Aber »Alles klar?«, das ist besonders »angesagt« in unübersichtlichen Zeiten wie diesen. Das ist kaum ein persönlich ernst gemeintes Erkundigen, Erkunden der Befindlichkeit des Nachbarn, des Kollegen, viel eher eine supercoole Nötigung, ausgerufen von dynamischen Leuten, die schon während sie lauthals ihr Gegenüber antrompeten, eigentlich schon wieder unterwegs sind, weg von demjenigen, den sie mit ihrer »Gute-Laune« -Attacke eher auf Abstand halten. Der - oder die - soll nämlich bloß nicht auf den Gedanken kommen, etwa ausführlicher zum aktuellen Zustand des vielleicht ziemlich unklaren, vielleicht gar traurigen Gemüts sich zu äußern. Bloß das nicht. Kein zögerliches »Ja, aber...«, wo man dann stehen bleiben müsste und gar zuhören.
Es soll offenbar zugehen wie in jedem knallbunten Werbespot: kurze und bündige Botschaften. Bitte nichts Umständliches, komplizierteres Antworten, das hält doch nur auf. Tja, und vor allem: Was sagt man dann dazu? Wenn es dem Anderen nun wirklich eher schlecht, ja echt mies geht, wenn dieses verbale »Auf-die-Schulter-Hauen« nicht im Sinne der unausgesprochenen Regel - lockere Frage verlangt lockere Antwort - bedient werden kann?
Scheinbar helfen solche flotten Floskeln im Alltag, ein allgemeines Klima der Harmlosigkeit aufrecht zu erhalten. Keiner tritt dem Anderen zu nahe. Als wäre eine reibungslose Atmosphäre an sich schon ein Gewinn. Man ist freundlich, und man zwingt sich so gegenseitig auf Distanz. Eine Inszenierung von Dummies, schön leblos. Der unverbindliche Abstand dient der Absicherung, möglichst nicht behelligt zu werden. Der Umgangston gibt sich unverstört, als sei das wirklich persönliche Interessiertsein eine Quelle der Gefahr. Und vor allem: es darf nicht viel Zeit kosten, bloß keine Umstände, denn das hält auf, wenn es dann womöglich ins Detail geht, wenn es statt der beschworenen Klarheit Betrübnis zu bemerken gilt.
Tja, aber wohin führen diese inflationären Instant-Begegnungen der Marke »Alles Klar!« auf Dauer? Wohin mit dem schalen Geschmack, wenn man mal wieder tapfer gute Miene zum elenden Spiel des ach so munteren Verstellens hingekriegt hat? Wann findet Echtheit noch statt? Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir bei solchen Gelegenheiten demnächst mal wieder unsere Fantasie ins Spiel bringen, und wenn es nur die überraschende Antwort wäre bei...
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