- Kultur
- 2. Usedomer Gespräche des Friedrich-Bödecker-Kreises
Nicht mehr Spaltungsirrsinn und Einheitsfrust
Unter dem Motto „Nichts ist zu Ende erzählt, alles ist immer wieder möglich“ trafen sich kürzlich über siebzig Kinderund Jugendbuchautoren aus Ländern rund um die Ostsee in Zinnowitz. Es waren die 2. Usedomer Gespräche, für die von den Rostockern Piri und Klaus Meyer konzeptionelle Vorarbeit geleistet und Sponsoren gewonnen wurden.
Drei Professoren aus dem Westen hielten Vorträge zu Themen, über die sie besser als wir im Osten Bescheid wissen, da sie lange vor uns Erfahrungen gemacht haben, die Barbara von Fircks, Vorsitzende des Bödecker-Kreises in Mecklenburg-Vorpommern, in der Einladung so formulierte: „Wenn Kinder für die Hochleistungsgesellschaft potente Konsumenten, aber noch keine .vollwertigen' Menschen sind, was sind sie dann in den Köpfen und Büchern von Autoren?“
Professor Boesetzky von der FU Berlin forderte uns auf, mit Büchern Sturm zu laufen gegen das Gefühl des Verlassensems und der Entfremdung junger Menschen in der Ego-Gesellschaft. Der Soziologe zeichnete ein erschreckendes Bild von Kinderarmut, Normenlosigkeit und Sinnverlust in einer Welt, die offenbar nichts mehr im Innersten zusammenhält.
Professor Christa Berg von der Uni Köln sprach über pädagogische Umweltverschmut-
zung und „Verwohnungs-Verwahrlosurig“ Das Warenarsenal auf dem Spielzeugmarkt mit seiner Suggestion unisoner Kinderwünsche führe zu frühem Konsumdenken und zum Mangel an eigener Kreativität. Sie sprach von der „fürsorglichen Belagerung“ in Elternhäusern, von überfrachteten Kinderzimmern, von seelischer Grausamkeit.
Proiessor Krappmann aus Berlin schilderte beobachtetes Sozialverhalten von Kindern im Umgang miteinander. Beim Streiten und Aushandeln, mit selbstgefundenen Konditionen und Kompromissen werde Gerechtigkeit gesucht, Einigung, ohne das Eigene aufzugeben, und das Ergebnis müsse auf jeden Fall moralisch sein. Lehrreich für Erwachsene, vor allem für solche, die schrei-
Diese tauschten anschließend'ihre Gedanken aus, über Sprache zum Beispiel, ob sie modisch angepaßt oder ins Zeitlose übersetzt sein sollte, wie Uwe Kant fragte. Ob „Null Bock“ und „das fetzt“, nach Reimar Gilsenbach Begriffe aus der Romasprache, in Bücher gehören oder nicht. Regina Rusch aus Frankfurt/Main meinte, junge Leser wollten vor allem unterhalten sein, aber das heiße nicht, daß sie nicht ansprechbar seien für böse Sachen, sie erzählten in eigenen Geschichten viel über das, was ihnen Angst mache, Krieg, Gewalt. Tnd. Verlassenwerrien.
Wolfgang Pauls gab zu bedenken, daß wir die Welt, die wir beklagen, selbst geschaffen hätten. Wenn wir uns ausklammern aus der Kinderwelt - das glaubte er aus den Vorträgen entnommen zu haben -, können wir nicht über sie schreiben. Hans Bödecker, Sohn des Gründers der Stiftung, die Autorenlesungen für Schüler organisiert und finanziert, plädierte als Kenner der DDR-Kinderliteratur für den achtungsvollen Umgang mit diesem Erbe.
Drei Tage saßen Deutsche aus Ost und West mit Kollegen aus Polen, Estland, Rußland, Schweden, Dänemark, Norwegen und Finnland zusammen, sie hatten zuvor in insgesamt 400 Lesungen ihre anregenden Begegnungen mit Landeskindern, und wenn auch die graugrüne Ostsee vor den Fenstern des Hotels Baltic, ehemals Wismut-Erholungsheim, unfreundlich grummelte, so war doch die Stimmung freundlich.
Es ging nicht mehr vordergründig um Spaltungsirrsinn und Einheitsfrust der Deutschen, um das gegenseitige Beharken, was habt ihr auf dem Kerbholz und wir nicht, wer kann warum nicht mit wem, vielmehr machte sich gegenseitige Achtung bemerkbar, Neugier aufeinander Wir lernen, einander zuzuhören. Denn nichts ist zu Ende erzählt...
GISELA KARAU
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