Ein Stachel der Erinnerung
Im Herbst 1989 machte ein Vortrag des Historikers Dr Karl Teppe vor allem in der Presse des Ruhrgebiets Schlagzeilen. „Nazi-Mediziner mordeten Kinder in Apierbeck“ titelte die „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“, „Historiker bringt Staatsanwalt auf Kindermordspur“ überschrieb die „Neue Westfälische“ ihren Bericht. Dr. Teppe war bei Forschungen über die Euthanasieverbrechen in sieben Krankenhäusern rein zufällig auf Belege dafür gestoßen, daß in der Psychiatrischen Heilanstalt Dortmund-Aplerbeck planmäßig Menschen ermordet wurden, die nach dem „Gesetz über die Verhütung erbkranken Nachwuchses“ von 1933 und den mit Kriegsbeginn geltenden Regeln des Mordprogramms der „Euthanasie“, der Vernichtung „lebensunwerten Lebens“, zu erfassen und aus
dem „Volkskörper auszuscheiden“ waren. Teppe hatte über seine Forschungen vor dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe mitgeteilt, daß bis 1941 in der Kinderfachabteilung Marsberg 36 Säuglinge ermordet worden sind und dann von 1941 bis Kriegsende in der nach Dortmund-Aplebeck verlegten Fachabteilung mindestens 229 Kinder mittels Injektionen; oder man ließ sie einfach verhungern.
Fünf Jahre danach ist auf dem Gelände der Westfälischen Klinik für Psychiatrie Dortmund eine Ausstellung zur Erinnerung an die Kindermorde und weitere Untaten, im Raum Dortmund und vor allem in der Klinik begangen, eröffnet worden. Ihre Gestalter stützten sich auf die umfang-
reiche Forschungsarbeit „Lebenswert“ des Dortmunder Journalisten und Historikers Dr Uwe Bitzel, die Etappen der Nazi-Rassenpolitik in der Stadt nachzeichnet. Neun „Erbgesundheitsgerichte“ und ein „Erbgesundheitsobergericht“ wurden nach der Verabschiedung des Gesetzes zur „Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Westfalen geschaffen. Sie fällten 3000 Urteile zur Sterilisation. In 36 000 Verfahren wurden sie im Sinne dieses Gesetzes tätig. In der Aplebecker Klinik wurden 360 Zwangssterilisationen durchgeführt. Einige hundert Klinikpatienten gingen von hier den Weg in die zentrale Tötungsanstalt Hadamar
„Ein Stachel in unserer Erinnerung“ solle diese Ausstel-
lung sein, sagt der ärztliche Klinikleiter Prof. Paul Janssen. Dr. Pittrich vom Landschaftsverband Westfalen spricht von einem „Anfang der Auseinandersetzung für die Zukunft“ Die Medizin sei auch heute noch durch Bürokratie und Seelenlosigkeit Gefährdungen ausgesetzt, „manche Gedanken zur Euthanasie“ noch lebendig.
Meine Fragen an Prof. Janssen und Dr Bitzel nach dem Stand der staatsanwaltlichen Ermittlungen in Sachen Kindermord in Apierbeck werden mit einem resignierten Schulterzucken beantwortet. Die mit der Untersuchung beauftragte „Zentralstelle für die Verfolgung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen“ in Dortmund war gleich nach Be-
kanntwerden der ersten Forschungen eingeschaltet worden. „Wir müssen erst einmal prüfen, ob sich alles tatsächlich zugetragen hat“, hatte Oberstaatsanwalt Klaus Schach im August 1989 verlautbart. Als ich im Herbst 1990 bei Oberstaatsanwalt Dr Greise, stellvertretender Leiter dieser Behörde, nachfragte, sah dieser noch kein.Ende der Ermittlungen. Das sei alles sehr schwierig, weil die Sache so weit zurückliege und einen größeren Personenkreis erfasse. Die Verbrechen qualifizierte er als „nicht verjährten Mord“ Warum jetzt immer noch keine Ermittlungsergebnisse vorliegen, konnte kein Dortmunder Gesprächspartner ergründen.
Tatsache ist allerdings, daß bereits im November 1946 in
einem Schreiben an die Dortmunder Oberstaatsanwaltschaft von einem ehemaligen Pfleger der Kinderfachabteilung auf die Morde aufmerksam gemacht worden war, recht ausführlich und mit Nennung der verantwortlichen Ärzte. Der hauptverantwortliche Dr. Wernicke wurde als „Mitläufer“ und „ohne Beschäftigungsbeschränkung“ entnazifiziert, wäre fast wieder als Direktor oder Medizinalrat eingestellt worden. Er konnte sich unbehelligt nahe Dortmund als Arzt niederlassen. Sein Assistent Dr. Niebel, Oberarzt der Kinderfachklinik, blieb bis zu seiner regulären Pensionierung in der Anstalt beschäftigt.
Euthanasiegeschädigte gelten in Deutschland immer noch nicht als Nazi-Opfer. Ihre Rehabilitierung steht noch aus.
HANS CANJE
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