Auferstehung des Totgesagten
Eindrücke von der Premiere des »Eingebildeten Kranken« von Molière in Neubrandenburg
Wäre ich Theaterkritiker, und Theaterkritiker übertreffen heutzutage bekanntlich die Theater an Sprachgewalt und Emphase (weshalb ich mich manchmal frage, weshalb Opern-Kritiker zum Beispiel immer noch schreiben und nicht singen), dann würde ich schreiben: Das sensationell angekündigte Theaterfest dieses Jahres fand nicht, wie erwartet, in Bayreuth statt, sondern in Neubrandenburg.
Doch ich bin kein Theaterkritiker und kann ich mich simpler ausdrücken: Kürzlich machte ein Theater etwas Seltenes, es spielte richtiges Theater. Es fand eine Auferstehung von längst Totgesagtem, da Totgeplagtem statt. Ort: Schauspielhaus Neubrandenburg.
Statt des gut durchtrainierten Dauer-Trübsinns, mit dem unsere Bühnen zumeist den Trübsinn der Welt zu vertreiben gedenken, indem sie ihn intensiv und gekonnt teilen, sah ich jene Unbekümmertheit, mit der Theater in ihren guten Zeiten die »Leidensstifter« über den Haufen warfen. Statt Spielerei, heute auch Event genannt (»Die größte Feindin des echten Spiels ist Spielerei« - Brecht), die alles auf die Schippe nimmt, weil sie es anders nicht mehr bewältigt, fand ich überwältigende Heiterkeit, die Ernst macht mit dem Sturm auf die Bastille der Ungereimtheiten dieser Welt.
Die kühne kluge Grobheit der Neubrandenburger, die, unterbrochen von großer Zartheit, noch bereichert wird durch Zitate großen Theaters vieler Zeiten, von der Commedia delarte bis zu Clownerien Brechts und Becketts - sie belichtete schlaglichtartig »Sitten und Gebräuche«, so dass das Stück von einer Theater-Marotte zu etwas wurde, zu dem ein »Spruch« des alten Brecht passt: »Und im Allgemeinen gilt wohl der Satz, dass die Tragödie die Leiden der Menschen häufiger auf die leichte Schulter nimmt als die Komödie.«
Das Schauspielhaus Neubrandenburg sucht der Ortsunkundige zunächst vergebens. Er findet es nach einigen Irrwegen versteckt in einem Winkel nahe der wehrhaften Stadtmauer. Nach außen eine ausgediente Lagerhalle. Doch dann die Überraschung, wenn man nach Durchqueren einer zu Rotwein einladenden Bar wirklich ein Schauspielhaus vorfindet. Amphitheaterartig ansteigende Sitze (mit guter Sicht von allen Plätzen); offene Beleuchtungstechnik, die das - vom Theatermaler geschaffene - idyllische Barock-Fresko an der Decke nur leicht verdeckt; vorn die Bühne wie ein breites Podest. In diesem Raum - das spürt man - wird mit Verstand und Geschmack gearbeitet.
Dann die offene Bühne mit vier nackten weißen Wänden im Karree. Sollte das vielleicht die Total-Askese sein? Das allerseits beliebte postmoderne Symbol für die Öde der Welt, an dem sich verödete Figuren mühsam entlang hangeln, um frontal an der Rampe in guter alter Opern-Manier dem Publikum ihre leeren Seelen auszuschütten?
Nach der Ouvertüre (Musik souverän von Roberto Rivera), mit pulsenden Herztönen und endlich schrillem Dauerton des Exitus, dann die Bestätigung: Auf der Bühne herrscht Total-Askese. Aber nicht die der Welt, sondern die jenes Argan, der so viel Geld hat, dass er sich neben Grundstücken und Aktien jede beliebige Krankheit leisten kann, die er sich einzubilden wünscht. Dazu die nötigen Untertanen, die ihn zu versorgen und zu bedauern haben: Dienstmädchen, Ärzte, Notare, Apotheker, Frau und Töchter.
Doch statt des üblichen Jammerlappens hier ein wirklicher »Held«, der einer ungerechten Welt die Stirn bietet. In seinem selbst verordneten Sterbezimmer zeigt Argan (Michael Meister erstaunlich in Wendungen und Artistik), welch Heroismus an Körper und Geist vonnöten ist, um seinen Besitz, die Krankheiten, zu verteidigen. Schweißgebadet, oft nackt bis auf den Lendenschurz, voll Aufbegehr und auch Verzweiflung, erinnerte mich dieser Argan merkwürdigerweise manchmal an den legendären »Standhaften Prinzen« des Jerzy Grotowski.
Der Spaß an diesem Spiel ist groß, gerade weil er aus tiefstem Ernst kommt. Und mir fiel noch etwas ein, was Robert Weimann einmal über den heutigen Umgang mit komischen Shakespeare-Helden sagte: »Nicht den Heroismus demontieren, sondern die Demontage heroisieren.«
Hier spielen Bühnenbild und Kostüme (Mathias Werner) der Regie geradezu Trümpfe zu. Betritt zum ersten Mal die »ungerechte Welt« in Gestalt des Dienstmädchens Toinette die Bühne (Karin Hartmann hinreißend plebejisch und majestätisch zugleich), klappen meterhohe schmale Türen aus den weißen Wänden auf, die mit dem leuchtenden Rot ihrer Innenseiten in die Askese einbrechen, als wollten sie den »Kranken« durch Lebenslust beim Sterben stören. Der Dr. Purgon, Hausarzt und Halbgott (Kai Roloff mit einem professoralen Kabinettstück) kommt gleichsam aus dem aufgeklappten tiefschwarzen Schlund der Hölle und bringt schwarze Wolken mit, die aus dem Schnürboden herabschweben, allmählich das Zimmer Argans füllen.
Bei den Kostümen vermied man das heute beliebte Klischee, das heißt, sie waren historisch und keine Kollektionen von JOOP! oder Lagerfeld. Doch in der schamlosen Übertreibung der barocken Details erzählen sie - fern von historischem Naturalismus - souverän über »Sitten und Gebräuche« der einzelnen Figuren. So trägt Bèraldes (Ralph Sählbrandt: ein clowneskes Denkmal), der »vernünftige« Bruder Argans, eine Perücke hoch wie ein gotischer Dom, denn seine »weltliche Vernunft« strebt in Wirklichkeit auch nur himmelwärts. In der Intelligenz der Übertreibung findet sich in dieser Inszenierung die Transparenz eines echten Realismus. So etwas verlangt große ästhetische Kultur. Auch der Regie (Alejandro Quintana).
Und hier war ein Meister am Werk. Ich finde es zu bequem, in Rezensionen das Ereignis dieses Theaterfestes, in das das Publikum derart mit hineingerissen wurde, nur der chilenischen Herkunft des Regisseurs zuzuschreiben. Die für Barock-Theater modische »Versöhnungs-Apotheose«, der selbst ein Lessing in seinem »Nathan« nicht entkam, wurde zwar auch hier voll ausgespielt, aber in die wirkliche Historie verlängert: Der eingebildete Kranke war Molières letzter Bühnenauftritt. Schon von Krankheit gezeichnet, spielte er den Argan bis zu Ende und starb hinter der Bühne. Der »Eingebildete Kranke« wurde so etwas wie sein Vermächtnis. Argan in Neubrandenburg unterbricht die Fröhlichkeit auf der Bühne und wendet sich an das Publikum, ihm Zeitpunkt und Art des Todes von Molière mitteilend.
Noch einmal bekommt der »Eingebildete Kranke« eine unerwartet neue Dimension. Doch bevor das Publikum in Traurigkeit verfällt, bittet Argan in den Hof des Theaters, wo bei Kerzen, Wein und Musik das Fest von einem glücklichen Ensemble (die in ihren Rollen alle erwähnt werden müssten) und einem glück...
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