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Labour übt Schulterschluss
In der Bevölkerung mehren sich die Zweifel an uneingeschränkter Bündnistreue
So sehen die Sieger nach einem zweiten Wahltriumph normalerweise nicht aus: gramzerfurchten Gesichts schlichen Tony Blair und seine Kollegen an den Polizeihundertschaften vorbei ins Konferenzzentrum.
Der Parteitag wurde am Sonntag mit zwei Schweigeminuten für die Opfer der Terrorangriffe auf Washington und New York eröffnet. Die 7000 Toten - davon über 200 Briten - sowie die bevorstehenden US-amerikanischen Kriegsmaßnahmen in Afghanistan überschatten überall im Lande die Gemüter. Sofort übte der Premier den Schulterschluss mit George W. Bush. Als die Luftwaffenbomben auf London niederregneten - wer hat denn Seite an Seite mit Britannien gestanden, fragte Blair und antwortete pathetisch: Die US-Amerikaner. Genau so stünden wir in Treue fest zu den USA in deren Stunde der Not. »W« dankte gerührt. Dass die USA anderthalb Jahre lang neutral blieben und erst nach Pearl Harbor und Hitlers Kriegserklärung an unserer Seite kämpften, ist dabei beiden Politikern entgangen. Eine hurrapatriotische Stimmung, wie etwa vor und nach dem englischen Fußballsieg in München, will nicht aufkommen. Zu groß scheint Menschen, die einem jahrelangen Bombenkrieg der katholischen IRA-Untergrundkämpfer trotzten, die real existierende Gefahr, die von den Handlangern Osama bin Ladens ausgehen könnte. Die Times bringt Artikel über mögliche Terrortaten mit biologischen und chemischen Waffen, der Absatz von Gasmasken steigt rapide. Nicht nur Angst und Beklommenheit, sondern auch Logik beflügeln die von den meisten Zeitungen totgeschwiegenen Friedensfreunde. Was nützt es, Afghanistan in die Steinzeit zurückzubomben, fragen die Zweifler: nach Russen- und Bürgerkriegen befindet sich das Land dort ohnehin. Sollen weitere unbeteiligte Zivilisten im Hindukusch ihr Leben lassen, um die Unschuldigen von New York zu rächen? Glenys Kinnock, Europaabgeordnete und Ehefrau eines früheren Labourführers, und die schwarze Abgeordnete Oona King, in deren Ostlondoner Wahlkreis viele Muslime aus Bengalen wohnen, wehren sich vehement gegen eine britische Kriegsbeteiligung: auch eine Kabinettskollegin, die linke Entwicklungshilfeministerin Clare Short, warnt Blair eindringlich vor allzu übertriebener Nibelungentreue. Werden die handverlesenen Parteitagsredner es wagen, diese im Lande weit verbreitete Skepsis auszudrücken? Oder werden, wie üblich, die Zweifler von den Großkopfeten niedergeschrien? Andere Sorgen lasten auf Parteimitgliedern und Ministern: Die Weltwirtschaft, die schon vor dem 11. September auf der Kippe stand, taumelt in Richtung Rezession. Mag Finanzminister Gordon Brown noch so tapfer wiederholen, Britanniens Wirtschaft befinde sich in einer günstigeren Lage als die meisten Konkurrenten: Das entscheidende Argument beim erneuten Wahlerfolg, dass Labour die Wirtschaft besser steuern könne als Konservative oder Liberaldemokraten, droht durch die Kamikaze-Angriffe auf die USA stumpf zu werden. Höhere Ausgaben fürs Militär könnten nicht nur den angespannten Haushalt sprengen, sondern dem sparsamen Schotten den guten Ruf ruinieren. Dabei möchte Brown den Freund Blair eines Tages als Premier beerben. Brighton hält den Atem an. Vor fast zwanzig Jahren explodierte eine von der IRA gelegte Bombe im Grand Hotel, Premierministerin Thatcher entging nur knapp dem Tod als politische Märtyrerin. Das Polizeiaufgebot vor dem abgesperrten Konferenzzentrum, das Blair von angereisten Globalisierungsgegnern trennen soll, ist in diesen Tagen unvermeidlich. Andererseits fördert es eine Bunkermentalität bei den Regierenden. Denn der nächste Schlag geht wohl nicht von den im Dauerregen patschnassen linken Demonst...Zum Weiterlesen gibt es folgende Möglichkeiten:
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