„Es wird sich nur ändern, was die Bürger selbst ändern
In den letzten Wochen und Monaten hat eine Vielzahl von Veranstaltungen aus dem linken politischen Spektrum zum 100. Todestag (5. August) und 175. Geburtstag (am 28. November) von Friedrich Engels das reiche geistige Erbe des engsten Kampfgefährten von Karl Marx auf die Nutzanwendung für die Gegenwart untersucht. Dem galt auch ein Kolloquium des Marxistischen Arbeitskreises zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung bei der Historischen Kommission der PDS und der Geschichtskommission der DKP in Berlin.
Es zeigte sich erneut, daß bei solchen Unternehmen mit weitgespannter Thematik die Kunst in der Beschränkung liegt. So konzentrierte sich Prof. Dr Erich Hahn (Berlin) in seinem Vortrag „Wissenschaftlicher Sozialismus - 100 Jahre danach“ - auf Engels“ Aussagen in der populär gehaltenen kleinen Schrift „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“, eine Arbeit, die nächst dem Kommunistischen Manifest die weiteste Verbreitung
in der damaligen internationalen Arbeiterbewegung fand. In dieser Schrift, so Erich Hahn, habe Engels die wesentlichen Merkmale des neuen, des wissenschaftlichen Sozialismus in Abgrenzung vom utopischen Sozialismus allgemeinverständlich, ausgehend von der materialistischen Geschichtsauffassung entwickelt und als „theoretischen Ausdruck der sozialistischen Bewegung“ festgeschrieben.
Für den späteren Umgang mit dem wissenschaftlichen Sozialismus in der DDR wie in den anderen Ländern des realen Sozialismus hob Hahn als zwei folgenschwere Abirrungen hervor: die Vorstellung, im Besitz eines untrüglichen Kompasses zu sein, mit dem uns keine wesentlichen Fehler passieren könnten, und den Umstand, daß die Wissenschaft ihre eigenständige Rolle gegenüber der Politik nicht wahrgenommen habe. Diese Defizite
bedeuteten aber keineswegs, auf die bleibende Leistung von Marx und Engels, auf das von ihnen erarbeitete Instrumentarium des wissenschaftlichen Sozialismus zu verzichten, nicht in schematischer Anwendung gewonnener Erkenntnisse, sondern mit Blick auf die neuartigen Anforderungen der veränderten gesellschaftlichen Gesamtsituation.
In ähnlichem Sinne äußerte sich auch Prof. Dr. Hans Heinz Holz (Groningen) über das Erbe von Friedrich Engels in den geistigen Auseinandersetzungen der Gegenwart. Holz nannte Engels den „Hauptgrundrißzeichner“ des Systems einer wissenschaftlichen Weltanschauung, die auf die Gesamtheit der Anschauungen ausgeht, und definierte die Dialektik als Wissenschaft vom Gesamtzusammenhang. Er verwies u. a. darauf, daß bereits in der „Dialektik der Na-
tur' von Friedrich Engels viele Fingerzeige zur Bewältigung ökologischer, sich damals bereits abzeichnender Probleme enthalten sind. Während Erich Hahn, wie erwähnt, die Eigenständigkeit der Wissenschaft gegenüber der Politik betont hatte, plädierte Holz für eine enge Verbindung zwischen Theorie und praktischer Politik. Doch kam es zu dieser interessanten unterschiedlichen Auffassung im Rahmen des Kolloquiums leider zu keinem Meinungsstreit.
Aus der Sicht seiner Bonner Erfahrungen als Mitarbeiter der parlamentarischen Gruppe der PDS behandelte Prof. Dr Ekkehard Lieberam (Leipzig) das Thema außerparlamentarische Gegenmacht und parlamentarische Opposition. Als Spezifikum der bürgerlichen Demokratie in der BRD benannte er die flexiblere Gestaltung des Systems, mit dessen Hilfe Konflikte gedämpft
und domestiziert werden könnten, wobei sich Unterhöhlung und Umarmung der Opposition als Doppelstrategie der politischen herrschenden Klasse besonders wirkungsvoll erweisen. (Lieberam verwies hier auch auf Anpassungstendenzen in der PDS.) Es gelte andererseits, Opposition als Gegenmacht zu begreifen, wie es in der PDS-Wahllosung von 1994 „Veränderung beginnt mit Opposition“ gut zum Ausdruck gebracht worden sei. Massiver Druck von links, bei illusionslosem Herangehen an diesen Kampf, müsse nun den wegfallenden Druck des realen Sozialismus ersetzen. „Es wird sich in der BRD nur ändern“, so das Fazit Lieberams, „was die Bürger selbst ändern.“
In einer gedankenreichen „Tour d'Horizon“ behandelte Prof. Dr Helmut Bock das Thema Krieg und Frieden bei Marx und Engels von deren Gewaltbejahung in der 48er Revolu-
tion über den gravierenden gedanklichen Einschnitt in der Inauguraladresse der I. Internationale 1864 bis zur Stellungnahme des alternden Engels 1893 in seinen Artikeln „Kann Europa abrüsten?“ Abschließend führte Prof. Dr. Heinrich Opitz an Hand der Spezifik der französischen, englischen und deutschen Ausgabe der Schrift von Engels „Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ die Vielfalt marxistischen Denkens vor, im Widerstreit zu monolithischen Auffassungen, wie sie von so „genialen Vereinfachern“ wie Stalin verbreitet wurden.
Die Aussagen des Kolloquiums bestätigten jene Feststellungen, die zu Beginn der Veranstaltung von Prof. Dr. Hans-Joachim Krusch getroffen worden waren: Wider den Strom anzugehen, geht ohne Nutzung der geistigen Quellen des wissenschaftlichen Sozialismus nicht. Die Formierung einer Aktionsgemeinschaft der sozialistischen Linken berührt Theorie und Praxis gleichermaßen.
WERNER MULLER
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