Quantenphysik ohne Beobachter
Mathematikerteam entwickelt »klassische« Theorie der Mikrobewegung
Die Debatte um die philosophische Interpretation der Quantentheorie geht in eine neue Runde. Nicht nur die Gründerväter der modernen Physik hatten große Mühe, sich mit den vermeintlichen Widersinnigkeiten des nichtklassischen Weltbildes anzufreunden. Auch am Beginn des 21. Jahrhunderts ist die Frage, was Quantentheorie eigentlich bedeutet, unter Wissenschaftlern umstritten.
Erst kürzlich hat eine Forschergruppe um Detlef Dürr vom Mathematischen Institut der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität in der Fachzeitschrift »Physical Review Letters« (Bd. 93, 090402/ 2004) ein physikalisches Modell vorgestellt, das die Vorgänge in der Mikrowelt realistischer und anschaulicher beschreiben soll als herkömmliche Modelle. Anschaulicher vor allem als die so genannte Kopenhagener Deutung der Quantentheorie, die auf Niels Bohr und Werner Heisenberg zurückgeht und im Kern besagt, dass eine Beschreibung der Mikrowelt »an sich«, das heißt unabhängig von Beobachtung und Messung, nicht möglich ist. Das wiederum hat zur Folge, dass im Reich der Quanten der Zufall regiert. Doch anders als in der klassischen Physik ist der Zufall hier nicht Ausdruck unseres Unvermögens, etwa den Anfangszustand eines Teilchens exakt zu bestimmen, sondern eine Eigenschaft der Quantenobjekte selbst, für die es keine noch so verborgene Erklärung gibt.
Gegen diese, wie er meinte, Unvollständigkeit der Quantentheorie, setzte Albert Einstein seinen berühmten Spruch: »Gott würfelt nicht!« Darüber hinaus ersann er in den 20er und 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts mehrere raffinierte Gedankenexperimente, um die Kopenhagener Deutung ad absurdum zu führen. Ohne Erfolg, wie man weiß, jedes Mal konnte Bohr die Einwände entkräften. Gleichwohl ging die Suche nach alternativen Beschreibungen der Mikrowelt weiter. 1952 veröffentlichte der amerikanische Physiker David Bohm eine Theorie atomarer Prozesse, die weitgehend auf klassischen Vorstellungen beruht und ganz im Sinne Einsteins den Zufall als ein Problem des Anfangszustandes interpretiert. Auch Dürr und seine Kollegen bedienen sich der so genannten Bohmschen Mechanik, um eine Art klassische Quantenfeldtheorie zu entwickeln. Die Quantenfeldtheorie ist eine Erweiterung der Quantenmechanik, die insbesondere die Entstehung und Vernichtung von Teilchen berücksichtigt.
Und von Teilchen handelt auch die Bohmsche Mechanik, sogar von »realen« Teilchen, die man sich ganz konkret als winzige Kugeln vorstellen kann, deren Bewegung auf exakt vorherbestimmten Bahnen erfolgt. Wellen sind dagegen nur theoretische Hilfsmittel zur Berechnung einer neuen physikalischen Größe, des so genannten Quantenpotentials, das wie ein Führungsfeld die einzelnen Teilchen lenkt und leitet. Auch Einstein hatte gelegentlich die Existenz von »Gespensterwellen« ins Kalkül gezogen, die den Teilchen gewissermaßen vorschreiben, wie sie sich bewegen sollen. Bohm war daher überzeugt, den berühmten Kollegen für seine neue Mechanik begeistern zu können. Doch zu seiner großen Enttäuschung bezeichnete Einstein diese als »zu billig«.
Nicht so Dürr. Für ihn beweist die Bohmsche Theorie »die Möglichkeit objektiver mikroskopischer Vorgänge in der Quantenmechanik« und somit die Möglichkeit einer Physik, die sich mit einer beobachterunabhängigen Realität befasst. Demnach sei die Abkehr vom klassischen Determinismus eine metaphysische Entscheidung und keine physikalische Notwendigkeit. Nur leider hat die Bohmsche Theorie nach Meinung anderer Physiker zwei Schwachpunkte. Erstens ist der von ihr postulierte Determinismus fiktiv, da die Anfangszustände der Teilchen prinzipiell unbekannt und deren Bahnen somit immer unscharf sind - genau wie im »orthodoxen« Modell. Und zweitens ist die Theorie extra so angelegt, das sie die gleichen Vorhersagen macht wie die Quantenmechanik und daher durch Experimente nicht zu widerlegen ist.
Damit verstoße die Bohmsche Mechanik gegen das seit langem bewährte philosophische Prinzip, wonach kein Forscher Dinge, Größen oder Entitäten erfinden soll, für die es keine Notwendigkeit gibt, meint der österreichische Physiker Anton Zeilinger. Seiner Meinung nach reicht die Quantenmechanik völlig aus, um die Quantenmechanik zu verstehen. Mit einer Ausnahme vielleicht, wie das 1935 von Erwin Schrödinger diskutierte Katzenparadoxon veranschaulicht: Angenommen, man sperrt eine Katze in eine Metallkiste, mitsamt einer Apparatur, die beim Zerfall eines radioaktiven Atoms ein tödliches Gift freisetzt. Geschieht dies, stirbt die Katze. Zerfällt das Atom hingegen nicht, bleibt die Katze am Leben. Solange niemand weiß, ob der radioaktive Zerfall bereits stattgefunden hat oder nicht, und vorausgesetzt, dass die Quantenmechanik auch für so große Systeme wie eine Katze gilt, ist diese tot und lebendig zugleich. Erst wenn jemand die Kiste öffnet und hineinschaut, wird das Schicksal des Tieres offenbar.
Man könnte sonach glauben, dass die Beobachtung gleichsam rückwirkend über Leben oder Tod der Katze entscheidet. Die Bohmsche Mechanik umgeht dieses Problem, indem sie annimmt, dass die Katze ganz »real« tot oder lebendig ist, je nachdem, in welchem zunächst unbekannten Anfangszustand das zerfallende Atom sich befunden hat. So leicht macht Zeilinger es sich nicht. Er stellt vielmehr die Frage: Wo endet die quantenmechanische und wo beginnt die klassische Beschreibung eines physikalischen Systems? Genau an dieser Stelle nämlich könnten sämtliche Quantensuperpositionen zerstört werden, darunter gegebenenfalls auch die bizarre Überlagerung »tot-lebendig«. Physiker bezeichnen dieses Phänomen als »Dekohärenz« und führen es in erster Linie auf die Wechselwirkung eines hinreichend großen Systems mit dessen Umgebung zurück. Sollte die Natur tatsächlich so beschaffen sein, wäre die Quantentheorie in ihrer gegenwärtigen Form vermutlich nicht zu halten und müsste an einigen Stellen korrigiert werden. Noch sieht Zeilinger dafür aber keine Notwendigkeit: »Künftige ...
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