• Kultur
  • Reportage - Nicaragua

Der Pate von Solentiname

Die Inseln im Großen See von Nicaragua - das verlorene Paradies des Dichters, Priesters und Revolutionärs Ernesto Cardenal

  • Uwe Stolzmann
  • Lesedauer: ca. 7.0 Min.
Manchmal, bei Sonnenlicht schräg von der Seite, kommt Bewegung in das Bild. Die Figuren regen sich, es raschelt in den Bäumen und Wellen gehen über den See... Ich sitze daheim am Schreibtisch. Vor mir dieses Bild, Öl auf Leinwand, ein Meisterstück naiver Malerei. Im Vordergrund eine Halle, weiß verputzt, das Dach aus Stroh - die Kirche von Solentiname. Davor ein gedeckter Tisch. Von den Rändern kommen Menschen ins Bild, Bauern und Fischer. An der Tafel steht ein Mann mit weißem Haar und Barett: Der Padre, Ernesto Cardenal, geboren 1926 in Granada am Großen See von Nicaragua. Ich schaue auf das Bild und reise zurück in der Zeit...
Herbst 2002. Cardenal wird nach Deutschland kommen, um einen Band Memoiren über die Jahre in Solentiname zu präsentieren. Ich schicke eine E-Mail nach Managua, bitte vorab um ein Gespräch. Rasch kommt Antwort. »Verehrter Freund«, wie wäre es Mitte November? Gruß, Ernesto.
Managua, 15. November 2002, im Büro des Poeten. Wie war das damals auf Solentiname? Cardenal erzählt von der Abgeschiedenheit des Archipels - »Wunderschön. Fast wie das Paradies.« - und von der Basisgemeinde, die er, der Priester, in den 60er Jahren dort gegründet hat - eine Kommune als Ort der Solidarität mit den Armen. Erzählt von Bibelgesprächen, die immer radikaler wurden und die er mit einem Tonbandgerät aufnahm, um ein Buch daraus zu machen (»Das Evangelium der Bauern von Solentiname«). Erzählt von der Revolution der 70er (er, der Lehrer, ging ins Exil, seine Schüler kämpften gegen Somoza; einige wurden gefangen, gefoltert, ermordet).
Herr Cardenal, lebten Sie nach der Revolution erneut auf Solentiname? »Nein, nie wieder.« Doch habe er als Kulturminister der Sandinisten dafür gesorgt, dass seine Anhänger aus der Inselkommune wichtige Posten ihrer Heimatregion besetzen konnten: Alejandro Guevara, der Intimus des Padre, wurde 1980 Gouverneur der Provinz Río San Juan. Seine Schwester Gloria wurde Bürgermeisterin der Provinzhauptstadt San Carlos. Alejandros Schwager Bosco Centeno wurde Kommandeur aller Truppen der Provinz.
Cardenal erzählt, wie er mit Alejandro 1982 einen Verein zur Entwicklung Solentinames gründete, der in den 80ern deutsche Spendengelder auf die Inseln zog, über 500000 Dollar. Gebaut und erworben wurden ein Dorf auf der Hauptinsel Mancarrón (»El Refugio« - Zuflucht), zwei Generatoren für das Dorf, eine Mole am See, das Landungsboot »El Danto«, ein Passagierschiff, eine Bauernschule, eine Möbelfabrik (geleitet von Alejandro) sowie zwei Pflanzungen, die Avocados für den Export produzierten.
1990 verloren die Sandinisten unter Daniel Ortega die Macht. Er habe die Partei wenig später verlassen, erzählt Cardenal. Denn Ortega, sagt er, sei korrupt und kriminell, ein Betrüger. Was Ernesto nicht erzählt: dass er selbst und Solentiname seit Ende der 90er regelmäßig in die Schlagzeilen geraten.
dpa (Januar 1998): »Cardenal droht Gefängnis«.
»Berliner Zeitung«: »Cardenal wird Landfriedensbruch, Diebstahl, Sachbeschädigung und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen.«
Nicaraguanische Medien berichten vom »Machtmissbrauch des Poeten« auf Solentiname, von der Furcht der Einwohner, vertrieben zu werden, und von einer zugesperrten Kirche. Der Padre hatte das Türschloss wechseln lassen, Messen durften nicht mehr stattfinden. Die Kirche aber steht auf Kirchenland...
Herr Cardenal, welche Bedeutung hat die Zeit auf Solentiname für Sie in der Rückschau? »Es waren die glücklichsten Jahre meines Lebens, aber das erzähle ich alles in meinen Memoiren« Wann sind Sie das letzte Mal auf den Inseln gewesen? »Ich bin gerade zurück. Ich fahre häufig hinüber.« Konflikte erwähnen Sie in Ihrem Buch nicht »Ich werde auch in diesem Interview nichts dazu sagen. Sie sind doch nicht aus Deutschland gekommen, um mich so was zu fragen!?«
Der Padre steht auf. Was haben Sie weiter vor? will er noch wissen. Nach Solentinamo zu reisen, sage ich. Cardenal wendet sich ab und verlässt den Raum.
16. November 2002. San Carlos am Großen See von Nicaragua. In der Abenddämmerung fahre ich mit einem alten Mann über das Süßwassermeer. In der Ferne: blaurote Wolken, blasse Uferlinien, die Konturen der Vulkane. Später die buschigen Schatten der Inseln. Tropennacht, Leuchtkäfer, Zikaden. Willkommen auf Solentiname!
Auf dem Pfad hinauf zum einzigen Hotel: Plötzlich Macheten. Knüppel. Der Lauf einer Waffe. Verschwinde! brüllen zwei Campesinos am Tor. Hau ab! Sie drohen, stoßen, schlagen. Wer sind diese Leute? Wir sind, sagt einer, die Männer des Padre. - Wir fahren zurück über den nächtlichen See.
San Carlos, Sonntag, 17. November. Am Morgen bin ich bei der Polizei. Der Ermittler hört den Bootsführer, dokumentiert Verletzungen, elf Seiten umfasst der Akt. Am Nachmittag sagt mir Carlos Orlando García, Anwalt und Notar: »Auf Solentiname sieht es aus, als hätte es die Revolution nie gegeben. Dort herrscht Feudalismus, die Willkür eines Clans.« Cardenals Verein sei durch die Revolution zum Grundbesitzer geworden. Gibt es Belege? frage ich. Natürlich, meint García. »Der Verein bezahlt eine Schlägertruppe. Das ist wiederholt angezeigt worden, die Behörden sind aber nicht sehr interessiert. Denn Bosco Centeno, der Statthalter des Herrn Cardenal, hat immer noch gute Beziehungen.« Centeno sei 1990 aus der Armee entlassen worden. Er soll geschmuggelt haben, Waffen, Vieh und Treibstoff nach Costa Rica. Gouverneur Alejandro Guevara, so der Anwalt, wusste davon; es gab Streit. Nach dem plötzlichen Tod Alejandros im Jahr 93 (ein Unfall) machte Cardenal den Oberstleutnant Centeno zum Vizepräsidenten seines Vereins.
In den Papieren des Anwalts finden sich Kopien von Urkunden aus dem Katasteramt. Vor 40 Jahren kaufte Cardenal Land für die Gründung der Kommune. Und der Verein kaufte Land für »El Refugio«. Andere Dokumente betreffen das Jahr 1990, als der Verein dank Gouverneur Guevara und Militärchef Centeno eine Handvoll willkürlich konfiszierter Landgüter zum Geschenk erhielt. Im Mai 2001 verkaufte der Verein (vertreten durch Bosco Centeno) vier dieser Güter (170 Hektar) für umgerechnet 30000 Dollar an eine Privatperson: Ernesto Cardenal.
Montag, 18. November. Wieder nach Solentiname, bei Tageslicht, mit zwei Polizisten. Am Hoteleingang die Männer mit den Macheten. Dahinter Bosco Centeno. Er ist erregt, er ruft »Spion! Söldner der internationalen Medien!« Ich frage ruhig: Können wir reden? Mmhm. Wann? Heute Abend. Wo? An der Kirche; dort, wo die Kommune des Padre Cardenal gewesen ist.
Am Nachmittag gehe ich hinauf ins Dorf, die zweihundert Schritte bis »El Refugio«. Bunt bemalte Holzhütten in einer Parklandschaft. Vor allen Hütten sind Schnitzer am Werk. Man sieht Tukane, Kolibris und Papageien, tropische Fauna in Balsaholz und fröhlichen Farben.
Zeugnis des Schnitzers Emilio René Oporta: »Im September 2002 kam eine Gruppe Touristen, Gringos. Ich half ihnen, die Koffer raufzubringen. Männer von Cardenal und Bosco Centeno stellten sich in den Weg. Am Hotel fielen sie über uns her. Einer mit Pistole zischte mich an: Stell den Koffer ab oder ich bring dich um. Und dann, pamm!, hat er geschossen. Ein Streifschuss, hier, an der Schläfe.« Nichts habe der Verein für das Dorf getan, fügt Emilio hinzu. »Wer anderes sagt, der lügt. In dem Gebäude hinter uns befanden sich die Generatoren für die Stromversorgung. Sie sind fort.«
Zeugnis der Lidia Castillo, Schnitzerin und Besitzerin eines Kramladens: »In der Möbelfabrik unten standen dreizehn Maschinen, die hat der Verein auch verkauft. Das Geld? Verschwunden.«
Zeugnis von Manuel Alvarado, Koch und Landwirt: »Einmal ließ Cardenal die Einwohner zusammenrufen und sagte: All diese Dinge haben sie nicht euch gegeben, sondern mir! Mir! Klar haben sie es ihm gegeben - einem Priester, einem anständigen Menschen. Aber nicht für sich!«
Zeugnis des Pablo Antonio Aguilar, Tischler und Schnitzer: »Cardenal droht, Familien mit Kindern aus ihren Hütten zu werfen. Denn das Land gehört dem Verein. Und wenn du nur ein Wort gegen den Padre sagst, gehst du ins Gefängnis. Wie ich. Man bekommt eine falsche Anzeige, noch eine und noch eine.«
Und was sagt der Priester zu den Vorwürfen? Er sagt immer wieder: »Alles Lüge und Verleumdung.«
Wir sitzen an der Kirche, eingehüllt in den Mantel der Tropennacht. Frage an Bosco Centeno: Wie kann der Konflikt entschärft werden? »Indem die anderen fortgehen.« Würden Sie Gewalt anwenden? »Wir nicht. Aber wir werden uns verteidigen!« Besitzen Sie eine Waffe? Er lacht. »Nein, ich habe... nichts. Das heißt: Ich habe natürlich die Pistole, die mir zusteht, die ich hatte, als ich aus der Armee entlassen wurde.« Haben Sie Kontakt zum Padre in Managua? »Natürlich«, sagt Bosco, »wir sind gut informiert. Auch über Sie.«
Am nächsten Morgen gehe ich hinunter zur Mole, vorbei an der zerfallenen Möbelfabrik und am zerstörten Schiff »Danto«, vorbei an der Kirche, die auf Anordnung des Padre drei Jahre lang zugesperrt war. - Zeit für die Heimkehr.
Sommer 2004. Cardenal, höre ich, wird nach Deutschland kommen. Er will den dritten Band seiner Memoiren präsentieren. Deutscher Titel: »Im Herzen der Revolution«. Der Originaltitel traf es besser: »La Revolución Perdida« - die verlorene Revolution.

Vom 27. September bis 14. Oktober ist Ernesto Cardenal unt...

Wenn Sie ein Abo haben, loggen Sie sich ein:

Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.

Bitte aktivieren Sie Cookies, um sich einloggen zu können.

- Anzeige -
- Anzeige -