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Der Urmensch mit dem Cricketschläger

Nach 88 Jahren: Spektakulärster Schwindel der Wissenschaftsgeschichte ist aufgeklärt Von Martin Koch

  • Lesedauer: 3 Min.

Es geschah im Jahre 1908: In einer Kiesgrube nahe dem südenglischen Piltdown gräbt Rechtsanwalt Charles Dawson Schäu'elfragmente eines frühmenschlichen Wesens aus und dazu 1912 noch einen affenähnlichen Unterkiefer. Aus diesen Teilen rekonstruieren er und der Paläontologe Arthur Smith Woodward den vollständigen Schädel des 200 000 Jahre alten Eoanthropus. Dennoch bleiben einige Forscher mißtrauisch: Soll so der Urahn aller Briten ausgesehen haben? Menschlicher Schädel gepaart mit äffischem Kiefer? Niemals, meint Zoologe Martin Hinton vom Londoner Naturhistorischen Museum. Da muß sich jemand einen schlechten Scherz erlaubt haben. Also feilt er einen Elefantenknochen in die Form eines Cricketschlägers und vergräbt ihn ebenfalls in

Piltdown. Was passiert? Kaum hat Smith Woodward diesen ausgegraben, lobt er das große handwerkliche Geschick des Eoanthropus. Von einem Cricketschläger bemerkt er nichts!

1953: Mit Hilfe moderner Datierungsverfahren stellen Wissenschaftler fest: Der Schädel ist auf alt gemacht. Die Knochen sind nicht Millionen, sondern nur ein paar hundert Jahre alt. Irgendjemand mußte also einen Menschenschädel und ein Orang-Utan-Gebiß chemisch eingefärbt und in Piltdown vergraben haben. Nur: Wer war dieser Irgendjemand? Die Tätersuche beginnt.

1980: Harvard-Professor Stephen J. Gould legt den »Abschlußbericht« der wissenschaftlichen Fahndung vor. Als Hauptverdächtige kommen darin neben Dawson und Woodward auch der Sherlock-Holmes-Erfinder Arthur C. Doyle vor, der nur 15 Kilometer vom Fundort entfernt wohnte und Knochensammler

war Und der später weltberühmte Jesuitenpater Teilhard de Chardin, der damals in der Nähe von Piltdown studierte und zuweilen bei Grabungen aushalf. »Ich weiß, wer den Betrug eingefädelt hat«, soll Teilhard 1955 gesagt haben. Alle Indizien sprechen dafür, schlußfolgert Gould, daß er selber der Täter war, um den dünkelhaften englischen Gelehrten eins auszuwischen. Beweise? Dafür müßte schon ein Wunder geschehen!

1996: Das Wunder geschieht, und zwar in Form einer Veröffentlichung des Wissenschaftsblattes Nature (Vol. 381) kurz nach Pfingsten. Der Paläontologe Brian Gardiner hatte nämlich bereits 1978 auf dem Dachboden des Londoner Naturhistorischen Museums einen Reisekoffer mit Knochen gefunden, die exakt nach dem gleichen Verfahren eingefärbt worden waren wie die von Piltdown. Der Koffer gehörte - Martin Hinton. Hinton hatte sich schon als löjähriger für das Einfärben von Knochen interessiert. Und als er einen Ferienjob bei Woodward suchte, wollte dieser ihm zu wenig Geld dafür zahlen. Später bekam er offenbar ein schlechtes Gewissen und verbuddelte den Cricketschläger Wie es scheint, wollte Hinton die Forscher mit Macht auf sich und den Betrug aufmerksam machen. Doch diese, von der eigenen Unfehlbarkeit überzeugt, ignorierten seine Signale, so daß Hinton, als er 1961 starb, sein Geheimnis mit ins Grab nahm.

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