Humberto und der rote Ohrwurm

Portugals Nelkenrevolution brachte Freiheit, aber kein Land der Brüderlichkeit

  • Peter Steiniger, Lissabon
  • Lesedauer: ca. 4.0 Min.
Wenn Humberto von den Weltfestspielen der Jugend und Studenten im Sommer 1973 in Berlin spricht, hält es ihn nicht auf seinem Stuhl, und der heute 53-Jährige wirkt auf einen Schlag um Jahrzehnte verjüngt. »Der Alexanderplatz war das Zentrum der Welt! Er war wirklich der Treffpunkt der jungen Menschen von überall her, von den Amerikanern bis zu den Vietnamesen. Ich erinnere mich noch gut an eine schwarze Amerikanerin, die in dieser Epoche des Kampfes gegen den Rassismus eine wichtige Rolle spielte, Angela Davis.« Und: »Ich war sehr beeindruckt von der DDR. Portugal war in dieser Zeit ein sehr armes Land und der größte Teil unseres Nationaleinkommens ging für den Kolonialkrieg drauf. Unsere Bevölkerung blieb entweder im Elend zurück oder emigrierte in die reichen Länder.«
Vor gut zehn Jahren begegnete ich Humberto Moreira zum ersten Mal, am Stand von PDS und »Neues Deutschland« auf der »Festa do Avante!«, dem großen Volksfest seiner Partei, der kommunistischen Partei Portugals. Er bat den jungen Deutschen, der diesen Sommer der Völkerfreundschaft und der freien Liebe nur aus der Kinderwagenperspektive erlebt haben konnte, um Hilfe bei der Identifizierung eines Liedes, das er aus diesen Tagen im Kopf behalten hatte und das er mir vorsummte. Humberto bekam die Auflösung - es war das Arbeiterlied »Auf, auf zum Kampf!« - und im Jahr darauf eine Schallplatte mit dem Ohrwurm.
Doch wie gelangte der damalige Student der Ökonomie aus dem noch faschistischen Portugal ohne Gefährdung in die DDR und wieder zurück? »Etwa 50 Portugiesen waren 1973 in Berlin dabei. Die meisten kamen aus ihren Exilländern: Frankreich, Belgien, der Tschechoslowakei oder der Sowjetunion. Aber 20 von uns kamen direkt aus Portugal. Wir reisten zunächst einzeln nach Paris, wo wir von emigrierten Genossen der PKP aufgenommen wurden. Jemand von der französischen Partei händigte mir dann einen DDR-Pass aus. Damit reiste ich mit dem Zug über Erfurt nach Berlin. Ich sprach während der ganzen Fahrt kein Wort, doch die westdeutschen Grenzschützer interessierten sich, ein Jahr nach den Anschlägen auf das Olympische Dorf in München, ohnehin nur für die mitreisenden Araber.«
Auch die Rückkehr nach Paris und Lissabon gelang Humberto, ohne Verdacht zu erregen. Seine Verhaftung am 23. September 1973 in Vila Franca de Xira, einer Industriearbeiterstadt nördlich von Lissabon, hatte einen anderen Grund. Während der Kampagne zu den Scheinwahlen für die damals so bezeichnete Nationalversammlung hatte er Flugblätter gegen den Kolonialkrieg verteilt. Humberto wurde danach als Fähnrich ins Heer gesteckt. Doch die Tage des Regimes waren da bereits gezählt. »Wir warteten alle ungeduldig auf den Umsturz.« Am 25. April 1974 setzte ein Aufstand progressiver Militärs aus der Bewegung der Streitkräfte (MFA) der langlebigsten rechten Diktatur in Europa ein Ende. Er löste die durch die Nelke im Gewehrlauf symbolisierte politische und soziale Revolution aus, mit dem kurzlebigen Blütentraum eines sozialistischen Experiments im NATO-Land Portugal.
»Der Wille war stark, doch das Kräfteverhältnis war zu unseren Ungunsten. Wir Kommunisten waren faktisch isoliert durch die anderen politischen Kräfte, bis hin zu den Sozialisten unter Mário Soares waren sie an der Seite der Amerikaner. Wir hatten nur in einigen Regionen die Mehrheit, in Lissabon, im Alentejo und in Teilen des Ribatejo. Auch die so genannte Extreme Linke bekämpfte uns, zum Beispiel die MRPP, der damals auch Genosse Durão Barroso angehörte, später Ministerpräsident und bald Chef der EU-Kommission.«
Den Zerfall der jahrhundertealten portugiesischen Kolonialmacht erlebte Humberto Moreira von Mai bis September 1975 als Soldat in Osttimor mit, wo ein Bürgerkrieg tobte. Die Solidarität mit der Sache der Timoresen ist für ihn bis heute eine Herzensangelegenheit geblieben. Die Nelkenrevolution liegt mittlerweile schon 30 Jahre zurück. Fast genau so lange kennt er seine Frau Natalia, die bis heute als Stewardess tätig ist und die er beim Aufbau einer kommunistischen Parteizelle in der Fluggesellschaft TAP kennen lernte. Schon ihr Großvater gehörte seit 1923 der PKP an. »Er starb 1974, aber er hatte das Glück, den 25. April noch erleben zu dürfen«, sagt Natalia.
Welche Bedeutung hat dieses Ereignis heute noch für die Portugiesen, gerade für die jüngeren wie ihre beiden schon fast erwachsenen Söhne Gustavo und Pedro? »Vielleicht ist es ein bisschen wie in Deutschland nach der Nazizeit. Es gibt keine Konzentrationslager und politischen Gefangenen mehr, die Kolonialkriege sind beendet und es gibt viel mehr Meinungsfreiheit. Aber auch wieder viele Leute, die sich nicht trauen zu sagen, was sie denken, und andere, die sagen, dass es heute zu viel Freiheit gibt«, konstatiert Humberto.
Es ist nicht zu übersehen: Die Revolutionäre von einst sind ergraut, der große Enthusiasmus ist verflogen. Gerade am Arbeitsplatz ist der Wandel der Zeiten zu spüren. Sowohl Natalia als auch Humberto - er ist beim Nationalen Statistikinstitut für die Untersuchung von Migrationsbewegungen verantwortlich - müssen feststellen, dass sich immer weniger für gesellschaftliche Fragen interessieren. Viele Kollegen sind auch nicht mehr gewerkschaftlich organisiert. »Die Presse wird vom Kapital und den politisch Mächtigen beherrscht, oberflächliche Zerstreuung ersetzt das Bewusstsein. Dabei gibt es riesige Probleme mit der Arbeitslosigkeit, den sich verschlechternden Lebensbedingungen in Portugal.« Probleme, die man auch in Deutschland kennt. Humberto wünscht sich, noch einmal nach Berlin zurückzukehren: »Ich sende eine Umarmung an all die jung...

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