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Fürsorgliche »Stillbeschäftigung«

Arbeitslose In Eberswalde ist jeder Funite ohne Job - aber mehr als auf laute Sprüche hoffen die Betroffenen auf diskrete Helfer Von Peter Richter

  • Lesedauer: 6 Min.

Die »Passage« in der Eberswalder Eisenbahnstraße zeigt heute abend »From Dusk Till Dawn«. Das klingt nach Hoffnung: Von der Dämmerung zum Morgengrauen. Schon die Kinoreklame zerstört jedoch die vermutete Idylle: »Zwischen ihnen und der Freiheit liegt nur eine Nacht. Aber es wird eine höllische Nacht.«

Wenige Schritte weiter das offene Tor zum Evangelischen Gemeindehaus. Ein grauer Hinterhof, verwitterte Gebäude. »Arbeitslosenzentrum« steht ungelenk auf einem Schild. Dienstags hat es von 10 bis 12 und 14 bis 16 Uhr geöffnet. Wer hier steht und zögert, blickt unwillkürlich auf einen einladenden Text: »Ja, es sind 34 Stufen bis zu unserem Arbeitslosenzentrum Eberswalde. Scheuen Sie diesen Weg nicht. Sie sind herzlich willkommen.«

Und dennoch zögern viele, denn Arbeitslosigkeit gilt immer noch als Makel. Daran konnten auch die großen Zahlen wenig ändern. Fast jeder fünfte Arbeitsfähige der Stadt am Finowkanal ist ohne Arbeitsplatz - von durchschnittlich 4 449 im Jahre 1991 stieg die Zahl im Vorjahr auf 6 334, das sind 17,9 Prozent. Wichti-

ge Betriebe - das Walzwerk, der Kranbau, der Rohrleitungsbau, eine Chemiefabrik, Landwirtschaftsbetriebe brachen weg, ihre Belegschaften wurden zu 50 bis 90 Prozent entlassen. In der Folge schlössen Handwerker, Geschäfte, Dienstleistungseinrichtungen. Manche fanden neue Arbeit, viele nicht.

Diskretion ist im Arbeitslosenzentrum oberstes Gebot. Wer seinen Namen nicht sagen will, muß es nicht. Mancher druckst herum, hat angeblich nur eine Frage, will einen Rat. Schließlich beginnt er zu erzählen. Andere scheuen den Weg in die Eisenbahnstraße. Dann ist auch ein Hausbesuch möglich. Auch bei dem, der lange nicht kommt. Manche haben wieder Arbeit; Erfolgsmeldungen erhält das Zentrum selten. Die meisten, die ausbleiben, aber gaben auf, zogen sich zurück. Doch auch sie sollen nicht allein gelassen werden.

Wie jener Mann, der 1991 erstmals kam - arbeitslos, gestörte Familienverhältnisse, psychisch zerrüttet, Alkoholiker. Hilfe war schwierig. Sie begann mit Gesprächen, mit Zuhören. Aber schon das gab Halt, denn er spürte: Es ist jemand für ihn da. Jetzt erhält er eine Erwerbsunfähigkeitsrente, ein kleines, aber gesichertes Einkommen. Es bringt Ordnung in sein Leben, Alkohol zum Vergessen braucht er nicht mehr Manchmal

kommt er noch in die Eisenbahnstraße, um zu quatschen.

Träger des Arbeitslosenzentrums (ALZ) ist die Evangelische Kirche, die Mittel kommen aus verschiedenen Fördertöpfen des Arbeitsamtes, des Landes, der Stadt. Die hier Beschäftigten - »Mitarbeiter in fürsorgerischen Dienst« ist ihre offizielle Bezeichnung - haben selbst Arbeitslosigkeit hinter sich. Sie wissen, wie wichtig es ist, in solcher scheinbar aussichtlosen Situation einen Ansprechpartner zu haben. Manche, die sich längst damit abgefunden haben, daß sie keine Arbeit mehr bekommen, sind »Stammkunden« geworden. Sie kommen mit jedem Kummer, und wenn der Andrang nicht so groß ist, bleiben sie lange, denn es tut ihnen schon gut, wenn einer zuhört.

Ortswechsel. Wo Rainer Naumann sitzt, da sieht es teils wie in einem Industriemuseum, teils nach kurzlebiger Aufbruchstimmung aus: Verrußte Ziegelmauern, holprige Werksstraßen, stillgelegte Hallen mit blinden Fenstern und vergilbten Schildern, dazwischen ein Billigmarkt, ein Teppichlager, ein Spielcenter, einige neue Firmenlogos, deren Hintergrund man nur schwer erraten kann. Hier, in der Coppistraße, produzierte einst der Rohrleitungsbau - bis zur Wendezeit.

Ein beinahe symbolischer Ort für die

Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft (BQG), die die Stadt Eberswalde und der jetzige Kreis Barnim 1991, als die Not immer größer wurde, gründeten. Sie bietet ABM, Tätigkeiten mit Lohnkostenzuschüssen und schließlich Sozialhilfeprojekte an - manche sagen dazu »Stillbeschäftigung«. Doch auch die kann inzwischen höchstens noch Langzeitarbeitslosen geboten werden, Schwerstvermittelbaren; immer mehr werden Fördermittel auf diesen Personenkreis eingeschränkt. Und werden ständig weniger. Konnte die BQG 1994 noch rund 600 und im Vorjahr 585 Arbeitslose beschäftigen, so sind es im ersten Halbjahr 1996 nur 485 - mit weiterem Abwärtstrend. »Das geplante Sparpaket der Bundesregierung schlägt uns kräftig ins Genick«, sagt Geschäftsführer Naumann. Er rechnet damit, daß bis zum Jahr 2000 nur noch die Hälfte der gegenwärtig Beschäftigten bezahlt werden können.

Das führe überall zu Problemen, im Osten aber ganz besonders. »Im Westen sind die Kommunen finanziell weitaus besser ausgestattet und können Langzeitarbeitslose und Sozialhilfeempfänger oftmals mit einem manchmal nicht unbeträchtlichen Zuschuß bedenken«, so Rainer Naumann. »Hier aber geht das nicht. Mit der Rückführung auf den altbundesdeutschen Maßstab werden im Osten die Lebensadern abgeschnitten.« 50 000 Mark habe die Stadt Eberswalde als Gesellschafter der BQG jährlich zugeschossen, für 1996 seien bisher nicht mal die eingegangen.

Langzeitarbeitslose sind es auch, um die sich Ursel Lutze kümmert. Sie ist Projektleiterin der »Akademie 2. Lebenshälfte« für die Stadt Eberswalde. Hier sind 56,4 Prozent der Arbeitslosen zwischen 40 und 60 Jahren alt, und diese haben es besonders schwer, in einem Be-

ruf wieder Fuß zu fassen. Das Projekt, im nahegelegenen Britz angesiedelt, will ihrer Ausgrenzung entgegenwirken, ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt verbessern oder auch nur soziale Kontakte ermöglichen. Daß der Sprung in ein festes Arbeitsverhältnis gelingt, ist selten. Eine der Ursachen sieht Ursel Lutze darin, daß ABM erst nach einjähriger Arbeitslosigkeit genutzt werden können. Das sei für viele schon zu spät. »Je eher die Leute kommen, umso besser«, hat sie erfahren und schüttelt den Kopf, daß das nicht begriffen wird.

So kann die Akademie nur versuchen, eigene Projekte zu entwickeln. In Eberswalde gibt es eine Tauschbörse für Spielsachen, die sich zu einer Spielsachenreparatur ausweitete. Es gibt auch eine Interessenbörse, die vor allem gegenseitiger Kontaktaufnahme dient, Gesprächsnachmittage, einen Treffpunkt für ehrenamtlich Tätige und anderes. Daß 72 Prozent der Teilnehmer eine Aufwertung ihres Selbstwertgefühls konstatieren und 54 Prozent meinen, sie könnten nun ihre Lebenssituation besser bewältigen, gilt da schon als Erfolg.

Für Jürgen Merkel, Organisationssekretär des DGB in Eberswalde, jedoch zuwenig. Er schätzt zwar alle diese Initiativen, aber er fragt zugleich: »Wo sind die Arbeitlosen bei unseren Aktionen, wie nehmen sie ihre Interessen wahr?« Noch sei es nicht gelungen, »die Lethargie aufzuknacken«, die verbreitete Resignation zu überwinden. Der DGB will mobilisieren. Deshalb taten sich Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbände, Kirchen, Bürgerbewegungen, Parteien und Einzelpersonen zusammen, um Ende Mai ein »Bündnis gegen Sozialabbau« ins Leben zu rufen. Die Leute kommen zögernd, aber an der Fahrt nach Bonn am 15. Juni nahmen immerhin 1000 aus dem Kreis Barnim teil, darunter viele Eberswalder. Am liebsten würde Merkel die Montags-Demos wiederbeleben - wenigstens bis Anfang September, wenn der Bundestag endgültig das Sparpaket beschließt. Gestern abend wurde auf dem Marktplatz ein erster Versuch gemacht, die Erwartungen waren gedämpft.

»Ein Aufschrei müßte durch die politische Landschaft gehen«, wünscht sich der Gewerkschaftssekretär. Die Menschen aber halten sich lieber ans Naheliegende: Sie gehen in die Eisenbahnstraße, in die Coppistraße, fahren nach Britz. Von der Dämmerung zum Morgengrauen. Man ist schon mit gelegentlichen Aufhellungen zufrieden.

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